Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 34


ich beinahe den ersten Akt versäumt. Ich saß in ein
Buch vertieft auf einer Bank im Festspielhaus, und
als ich aufschaute, waren plötzlich alle weg. In Panik
sprang ich auf. Es war gefährlich knapp, aber ich
schaffte es gerade so zur Ouvertüre, dirigiert von
Christian thielemann.
Der Orchestergraben liegt von einem großen
hölzernen Deckel verborgen und ist vom Publi-
kum nicht einsehbar. Die töne treffen zunächst
auf die Holzverkleidung und werden von dort in
den Zuschauerraum geworfen. so klingt es, als
kämen sie aus den tiefen der Erde. gesang und
Chor nehmen diesen Klang aus der Erde auf und
vereinen sich mit ihm zu vollkommener Harmo-
nie. Diese dynamische Verbindung schafft eine
neue Dimension, sie bewirkt eine magische Ver-
schiebung der Welt. Die stimmen der einzelnen
sänger sind wundervoll, doch was die Herzen der
Zuschauer am stärksten ergreift, ist ein unbe-
schreibliches gefühl von Einheit. Wagners Welt-
bild, in dem Musik und Drama sich vereinen, ist
hier auf das Herrlichste verwirklicht. Die Musik
scheint dem Reich des unbewussten und das Dra-
ma dem des Bewussten anzugehören. Ich kann es
spüren. Oder hören. Ja, so klingt Bayreuth, das ist
seine Musik.
Besonders eindrucksvoll entfaltet sich ihr Klang
im Quintett der solisten (telramund, König,
Lohengrin, Elsa, Ortrud) am Ende des ersten Akts:
»Durch gottes sieg ist jetzt dein Leben mein – ich
schenk’ es dir, mögst du der Reu’ es weih’n«. Der
gesang der fünf wird von einem großen Chor im
Hintergrund und mächtiger Orchestermusik ge-
tragen. Obwohl die einzelnen kraftvollen Klang-
farben ineinanderfließen, entsteht keinerlei trü-
bung. Es ist ein Augenblick höchsten glücks. Die
Musik ist so überwältigend, dass meine Müdigkeit
von der Reise, die Hitze im saal und all das einfach
wie weggeblasen sind.
Übrigens gibt es im Festspielhaus keine Über-
titelung. Natürlich nicht, so etwas verbietet sich
bei Richard Wagner von selbst. Da Übertitel heut-
zutage in fast allen Opernhäusern üblich sind, er-
schreckt mich die Erkenntnis, dass es keine geben
wird, für einen Moment. Doch ich habe die Hand-
lung einigermaßen im Kopf, also macht es nicht
viel aus, dass ich nichts verstehe.
Besonders fasziniert mich das Bühnenbild im
zweiten Akt. Es ist schlicht und symbolkräftig.
Eine sorgfältig berechnete Veränderung des Hin-
tergrunds. Alles ist neu, intelligent und unauf-
dringlich. Es gibt keine großen Kulissen, Farben
und Licht ziehen den Blick auf sich. Der grund-
ton ist Blau, in das sich hellere und dunklere
Nuancen mischen. Ein hervorragend durchdach-
ter Entwurf und eine ebensolche Regie. Im Mit-
telpunkt des zweiten Akts steht die Beziehung von
Elsa von Brabant (Camilla Nylund) und Ortrud
(Elena Pankratova). Die düstere Ortrud, gedemü-
tigt und voll Wut, schmeichelt sich listig bei Elsa
ein. Elsa, in ihrem Zustand höchsten glücks, ist
bereit, die Fehler ihrer Feindin großzügig zu ver-
geben, und sät damit den samen des Argwohns in
Ortrud. Beide Frauen singen wunderbar, tech-
nisch gibt es nichts auszusetzen, allerdings sind
beide sopranistinnen (für gewöhnlich wird die
Rolle der Ortrud mit einem Mezzosopran be-
setzt). Wenn ich die Augen schließe (oder durch
meine dunkle Brille nach vorne sehe), verliere ich
mitunter den Überblick, welche von beiden
gerade singt. Die Dramatik der szene wäre durch
eine stärkere Betonung der unterschiede zwi-
schen den beiden Charakteren (unschuld und
Bosheit) vielleicht deutlicher spürbar gewesen.
Aber ich bin kein Musikexperte und möchte
mich nicht aufspielen.
Im dritten Akt in der zweiten szene befinden
sich Elsa und Lohengrin im Zwiegespräch im
schlafgemach. sie singen ihr anrührendes Duett.
Die szene dauert 25 Minuten, und die Verbin-
dung von Lyrik und Dramatik schlägt mich so in


Von der Magie des ersten Mals


P


ressekonferenz am Vortag der dies-
jährigen Bayreuther Eröffnungs-
premiere mit Tannhäuser. Katharina
Wagner, die Festspielleiterin, ver-
kündet das team für den Ring des
Nibelungen 2020: Regie führen soll
Valentin schwarz, 29, dirigieren
Pietari Inkinen, 39. Zwei Newcomer, zwei im
Wagner-Business nahezu unbekannte – und zwei
Männer. Inkinen hat den Ring immerhin schon
einmal dirigiert, 2013 in Melbourne, Australien
(wovon es ein Video gibt). und schwarz machte an
der Wiener Kammeroper und in Köln auf sich auf-
merksam, nachdem er 2017 den grazer Regie-
Wettbewerb RingAward gewonnen hatte (freilich
nicht mit Wagner, sondern mit Donizetti). Der gilt
in der Branche als Karriereschleuder.
so weit, so überraschend – und so einhellig der
Jubel: Vom »generationenwechsel« auf dem grü-
nen Hügel wurde geschwärmt, von einer »fröh-
lichen Offensive« und überhaupt – war Patrice
Chéreau nicht auch erst 31, als er 1976 seinen
»Jahrhundertring« schmiedete? Fast klang das so,


als wären Jugend und unerfahrenheit künstlerische
Kriterien (was sie so wenig sind wie Alter und Er-
fahrung), ja, als setzten die Festspiele gezielt auf
die Magie des ersten Mals, um sich von sich selbst
zu erlösen. Das immer gleiche Repertoire, von
mehr oder weniger gleichen Meisterkünstlern exe-
kutiert, das kann ermüden über die Jahre. Dann
aber ging über Tannhäuser der Vorhang auf, und
die Begeisterung (siehe ZEIT Nr. 32/19) verdrängte
jedes andere thema.
Von tatjana gürbaca sprach jedenfalls niemand
mehr. Eigentlich hätte sie den Ring 2020 inszenie-
ren sollen, nicht Valentin schwarz. Nach monate-
langen Auseinandersetzungen, so hören wir, brüten
jetzt Anwälte über der Auflösung ihres Vertrags. Es
geht um geld und künstlerische Integrität, um
gesichtsverluste und sprachregelungen und, wie
immer in Bayreuth, ums große ganze. Das Projekt
sei aus »dispositionellen gründen« gescheitert,
heißt es, man habe sich über die Anzahl der Proben-
tage nicht einigen können. Wird die nicht vorher
festgelegt, fragt man sich? gürbaca wäre die erste
Frau seit der uraufführung 1876 gewesen, die im

Mekka der Wagner-Kunst den Ring inszeniert, das
macht die Personalie bitter. und wie kann sich ein
Nachwuchstalent auf umstände einlassen, die eine
Kollegin mit Berufserfahrung inakzeptabel findet?
Man hört weiter, die Probenzeit sei kurzfristig
nahezu halbiert und nach Protesten wieder aufge-
stockt worden; man hört auch, die Festspiele hätten
Angebote über Angebote gemacht – erfolglos. Even-
tuell waren die nicht ernst gemeint. Oder tatjana
gürbaca fehlte die traute. Was ist los in Bayreuth?
Die Klage über das eiserne Probenkorsett der
Festspiele ist nicht neu. Es war ganz einfach nie so,
dass man auf der grünen Wiese lag, sich Bratwürste
in den Mund wachsen ließ und die Kreativität kein
Morgen kannte. seit 2008 aber, mit dem Ende der
Ära Wolfgang Wagner, wird der Festspielbetrieb
wie ein stadttheater geführt (Verwaltungsrat, ge-
werkschaften, Rechnungshof inklusive). Das engt
die spielräume ein. Die Künstler, die nach Bayreuth
kämen, müssten »professionell« sein, so formulie-
ren es die Hügelverantwortlichen. Viele, die auf
dem Hügel gearbeitet haben, sehen darin ein sy-
nonym für »unkünstlerisch«. Der legendäre Werk-

stattgedanke sei eine Lüge, der Nimbus Bayreuth
eine Illusion. Nie habe man sich von den grün-
dungsidealen der Festspiele, von Richard Wagners
postrevolutionärer utopie einer freien Kunst, wei-
ter entfernt als heute. geworben wird gleichwohl
damit, vor allem mit der Authentizität des Ortes.
Kunst und Professionalität schließen sich na-
türlich nicht aus. tobias Kratzer etwa, der Tann-
häuser-Regisseur, schien genügend (Proben-)Zeit
zu haben, um die seine Inszenierung beherrschen-
den Videos komplett neu zu drehen, als sich die
Darstellerin der Venus Anfang Juli verletzte und
ausgetauscht werden musste. geht doch! geht
doch? Vielleicht hat Bayreuth nie von etwas ande-
rem gelebt als vom Dissens zwischen dem Nötigen
und dem Möglichen, dem Machbaren und dem
Wünschenswerten. Vielleicht braucht es eine la-
tente spannung des ungenügens, auch strukturell,
um den Laden am Laufen zu halten. Bayreuth zu
lieben heißt eben, an Bayreuth zu leiden.
Nicht bloß die Erfolglosen, Zu-kurz-gekom-
menen freilich zerreißen sich die Mäuler. so einfach
ist es nicht. Ebenso wenig ist der Markt an allem

schuld, die ach so raffgierigen Agenturen, die ihre
sänger ohne Rücksicht auf Verluste oder Proben-
pläne rund um den globus hetzten. Diesen My-
thos, sagt der Berliner Agent Boris Orlob (der den
tenor Andreas schager vertritt, einen der beiden
siegfriede für 2020), zerstreue er gerne: Der Im-
pressario-typus vom schlage eines Ronald Wil-
ford, so er überhaupt noch vorkomme, sei ausge-
sprochen selten. »Ein sänger hat sowieso seinen
eigenen Kopf. Aber nach Bayreuth wollen sie alle,
Bayreuth ist immer noch der Olymp!«
Orlob ist einer der wenigen, die ihren Namen
im Rahmen dieser Recherche in der Zeitung lesen
wollen. Andere gespräche haben »nie stattgefun-
den«, oder man verweist bang auf die Verschwie-
genheits- und geheimhaltungsklauseln in den
Festspielverträgen. Die gelten selbst dann noch,
wenn die Betreffenden von der Bayreuther Bühne
längst abgetreten sind. sich als Angehöriger der
Festspiele öffentlich über diese zu äußern kann
massive juristische Folgen haben. Man kennt das
aus der Wirtschaft, von großen Firmen, oder aus
Hollywood. In der Oper, sagt eine andere Agentin,

Wenn der Wind singt Fortsetzung von s. 33


34 FEUILLETON


Foto: Julian Baumann für DIE ZEIT

MURAKAMI IN BAYREUTH


Es wäre zu einfach, diese Intoleranz mit Wag-
ners Antisemitismus in Verbindung zu bringen,
und das habe ich auch nicht vor. Dennoch hin-
terlässt die Handlung dieses Dramas bei mir stets
ein leichtes unbehagen. Lohengrin, der sieger,
verschont im Zweikampf seinen gegner telra-
mund, und Elsa verzeiht auf dem Höhepunkt ih-
res glücks der ins unglück gestürzten Ortrud.
Doch beider güte zeigt eine gegenteilige Wirkung.
Die Duldsamkeit, die die guten an den tag legen,
schadet ihnen letztlich selbst und führt zu ihrer
Zerstörung. sollte man die Welt so spalten, dass es
in ihr Menschen gibt, die es wert sind, gerettet zu
werden, und solche, die es nicht sind?
und trägt die Bayreuther Inszenierung in ir-
gendeiner Weise dazu bei, diese Intoleranz abzu-
schwächen? Wenn der strom eine Manifestation
»göttlichen Willens« darstellt, müsste sich die
Krise durch die tödliche Hochspannung dann
nicht in etwas Machtvolleres und Moderneres
verwandeln? Christian thielemanns kraftvolles
Dirigat aber war von solcher tiefe, dass es das
Abgründige und unterirdische an dieser Oper
noch unterstrich.

Samstag, 27. Juli


Ich stehe um sechs uhr auf und laufe 50 Minuten.
um halb drei bin ich zum Fotoshooting verab-
redet. Nach ein paar Aufnahmen im Park gehen
wir ins Festspielhaus und werden auf die Bühne
geführt. Der Fotograf bittet mich, auf den großen
Flügel zu steigen, der dort steht. Ich soll auf einen
Flügel steigen?
Das Bühnenbild stellt eine Rekonstruktion von
Wagners Wohnzimmer in Haus Wahnfried dar.
Eine sehr sorgfältige Rekonstruktion. Ich verstehe
nicht ganz, warum die erste szene der Meistersinger
in Wagners Wohnzimmer spielen soll. Die Meis-
tersinger beginnen doch eigentlich in der Kirche.
Im Moment bin ich ohnehin völlig perplex. Ich
steige auf den Flügel, wie der Fotograf es mir sagt.
Als ich in meinem smoking und mit der schwar-
zen Krawatte dort stehe, komme ich mir vor wie
ein Narr. Hoffentlich sehe ich auf dem Bild nicht
auch so aus.
Erst jetzt sehe ich, dass der Orchestergraben,
der vom Zuschauerraum aus gesehen einen Deckel
hat, zur Bühne hin offen ist. Die Musik geht also
gezielt zunächst in ihre Richtung und hallt dann
von dort wider, so entsteht dieser einzigartige
Klang. Er wird sozusagen unter dem grünen Hü-
gel von Bayreuth erzeugt.
An einem stand in der Nähe des Eingangs zum
Festspielhaus erstehe ich zwei t-shirts. Auf dem
einen steht »Wahn, Wahn! Überall Wahn!« (aus
Die Meistersinger von Nürnberg). Auf dem anderen
»O sink hernieder, Nacht der Liebe ...« (aus Tristan
und Isolde). Ziemlich stylish und sehr geeignet als
Mitbringsel. Ein Deutscher neben mir beglück-
wünscht mich zu meiner Wahl. Vermutlich ist es
wirklich eine gute Wahl. Eine Nacht voll endlosen
Wahns und Liebe ...
Nun also die Meistersinger, eine komische Oper
mit einer heiteren Handlung, und wenn Darstel-
ler und Orchester gut sind, sind in der Regel alle
zufrieden, und es gibt Applaus, wenn der Vorhang
fällt. Herausforderungen wie in Lohengrin – bei-
spielsweise wie man die sache mit dem schwan
löst – finden sich in diesem realistischen und
bodenständigen stück kaum. Diesmal handelt es
sich jedoch um eine ehrgeizige und gewagte In-
szenierung, angetan, den Widerstand des Publi-
kums hervorzurufen. Ob dieser Ehrgeiz letztlich
Früchte tragen wird, unterliegt dem urteil des
anwesenden Publikums, und ein wenig wird auch
die Zeit es weisen.
Man darf nicht vergessen, dass Wagners Werk
sich vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg durch
neue Inszenierungen und Deutungen unentwegt
weiterentwickelt und sich damit einer gesellschaft-

lung verwickelt oder sehen nur zu, ohne ein-
greifen zu können. Der Kampf findet zwischen
dem reinen Bösen und dem reinen guten statt.
Zum schluss wird das Böse besiegt, was jedoch
nicht heißt, dass das gute einen glorreichen sieg
davonträgt. Am Ende der geschichte ist nie-
mand glücklich.
In dieser Hinsicht wirkt der Aufbau des Dra-
mas etwas eigenartig. Obwohl gut und Böse
scharf voneinander abgegrenzt sind, gibt es keine
Katharsis. und gott verweigert aus irgendeinem
grund die Aussage.
In der Vergangenheit ergriff das Publikum
wohl mehr Partei für Lohengrin, war also auf der
seite des guten. Heute hegt sicher ein gewisser
teil der Zuschauer sympathien für die zornige
und verzweifelte böse Ortrud, und hierin zeigt sich
die eigentliche Macht der geschichte. Im grunde
kämpft Ortrud mit aller Kraft und Hingabe für
ihre götter. Jedes Mittel ist ihr recht. Die Ent-
scheidung, was das gute und was das Böse ist, fällt
gar nicht leicht. und wenn Ortrud sagt, die Macht
gottes sei letzten Endes auch Zauberei, muss man
ihr beipflichten. Ortrud ist eine faszinierende und
einnehmende Figur. Das gute, die gerechtigkeit
sind im grunde eintönig und langweilig, während
das Böse sich erfreulich reich an Varianten zeigt.
Mit dem Aufeinandertreffen von alter und
neuer Religion hat es in Japan eine andere Be-
wandtnis. Dort pfropfte man dem alten pantheis-
tischen glauben – dem schintoismus – den später
eingeführten Buddhismus einfach auf, sodass bei-
de nebeneinander bestehen blieben. Je nach Lage
folgt man schintoistischen oder buddhistischen
Praktiken. Beispiele für ernste Konflikte oder ge-
walttätige Auseinandersetzungen zwischen den
beiden glaubensrichtungen gab es kaum – abge-
sehen von regionalen streitigkeiten in der Zeit
kurz nach der Einführung des Buddhismus im


  1. Jahrhundert und zur Zeit der Meiji-Restauration
    Mitte des 19. Jahrhunderts. Auch heute werden
    beide Religionen friedlich und mehr oder weniger
    unbewusst parallel ausgeübt. so wirkt die Aus ein-
    an der set zung zwischen Lohengrin und Ortrud aus
    sicht eines Japaners unnötig intolerant und ge-
    walttätig. Das ist etwas, das mich beschäftigt, seit
    ich Lohengrin zum ersten Mal gesehen habe.


Bann, dass ich von Anfang bis Ende völlig ent-
zückt lausche und mich in diese szene verliebe.
Allein um dieses Duett zu hören, hat es sich ge-
lohnt, nach Bayreuth zu reisen. Auch Klaus Flo-
rian Vogt als Lohengrin versetzt mich in Begeiste-
rung. Ich habe Lohengrin schon mehrmals gehört,
aber noch nie mit einem sänger, der ein so starkes,
atemloses gefühl von echter Frische und Jugend-
lichkeit vermittelt. Ja, Lohengrin ist ein schwa-
nenritter, doch zugleich ein Jüngling aus Fleisch
und Blut. Er ist ein edler Ritter, der den Willen
gottes verkörpert, und gleichzeitig ein junger
Mann mit all der Verletzlichkeit und der tiefen
Verunsicherung, die diesem Alter eignet. Herr
Vogt soll fast 50 sein, dennoch klingt sein gesang
frisch wie der eines ganz jungen Mannes. Es
scheint fast wie ein Wunder.
»stromspannung« ist das zentrale Motiv der
künstlerischen gestaltung des Bühnenbilds. Ein
wie ein umspannwerk geformter Aufbau erscheint
auf der Bühne, und Hochspannung (oder so et-
was) entlädt sich immer wieder in Blitzen. Ritter
Lohengrin erscheint hier nicht von einem schwan
gezogen, sondern wird in einem elektrischen
schwanen-ufo aus einer »anderen Welt« trans-
portiert. und wird seinen Erzfeind telramund
(wahrscheinlich) mit einem starken stromstoß be-
siegen. Auch wer Lohengrin bisher ohne großen
genuss gesehen hat, wird diese Aufführung als et-
was Neues empfinden. Als Mensch, der sich un-
wohl fühlen würde, wenn in Lohengrin ein leben-
der schwan auf die Bühne müsste (wäre es nicht
auch ziemlich mühselig für einen schwan, einen
Ritter so weit in einem Boot zu ziehen?), kann ich
mich an dieser neuen Idee erfreuen. Als der Vor-
hang fällt, habe ich ein gefühl wie von einem
leichten stromschlag auf der Haut.
Als Drama stilisiert Lohengrin einen religiösen
Konflikt, nämlich den Kampf der alten heid-
nischen götter gegen die Hegemonie des neuen
Christentums und seinen Heiligen gral. Es ist ein
erbitterter Kampf zwischen der zaubermächtigen
Ortrud und dem »Willen gottes«, den Lohengrin
empfängt. Nur diese beiden verfügen sozusagen
über transzendentale Macht und treiben das Dra-
ma mit unbeugsamer Willenskraft voran. Die an-
deren Charaktere sind unfreiwillig in die Hand-

»Als der Vorhang fällt, habe ich ein gefühl wie von


einem leichten stromschlag auf der Haut«


lichen und kulturellen Verantwortung gestellt hat.
Ohne Abenteuer und Experimente geht es hier
nicht. Daher gereichen in Bayreuth Buhrufe einem
Regisseur auch nicht unbedingt zur schande.
In seinem Interview mit der Zeitung Yomiuri
Shimbun sagte Wolfgang Wagner: »Bayreuth ist
ein immerwährendes Experiment. Es erneuert sich
ständig, wird nie fertig oder orthodox sein. Bay-
reuth strebt das gegenteil von musealer Kunst an.
[...] Wagners Werke an sich verfügen über eine
Beziehung zur gegenwart, deshalb vermögen sie
uns so tief zu berühren.«
Ich verstehe. Also weg vom Museum.
Das Vorspiel (und was für ein glänzendes Vor-
spiel!) beginnt mit einer Art schwank, an dem an
sich gar nichts so glänzendes ist. Wahrscheinlich
ist die Musik für das Orchester ein wenig schwer
zu spielen. Die Zuschauer achten ohnehin mehr
auf das, was sich an unverständlichem auf der
Bühne abspielt. Ihnen fehlt die Muße, die Musik
richtig zu genießen. Die szene zeigt Wagners
Wohnzimmer, wie gesagt, in getreuer Nachbil-
dung des Raums, in der Villa Wahnfried. Bücher-
regale, ein sofa, Porträts, die Beethovenbüste, alles
da. Natürlich auch der Flügel, auf den ich steigen
musste. sogar Hunde gibt es. Auf dem sofa sitzt
der Meister selbst. Familie Wagner führt mit
Freunden zu Hause Die Meistersinger auf.
Endlich verstehe ich. Es ist so etwas wie ein
stück im stück. tatsächlich gehörten solche »salon-
Festspiele« zum Alltag der Familie Wagner, und
offenbar bedient der Regisseur sich dieses um-
stands. Wagner selbst singt natürlich Hans sachs,
die Hauptrolle. Die komödiantische Farce auf der
Bühne nimmt ihren Lauf. Der Flügel wirkt wie
eine Falltür in den Keller. Der Deckel öffnet sich,
und lauter kleine Meister purzeln ins Zimmer.
Weil es so voll ist, muss Walther von stolzing aufs
Klavier steigen, um seine Arie zu singen! Die Meis-
ter treiben allerlei schabernack oder streiten mit-
einander. sie haben nicht die geringste Ähnlichkeit
mit respektablen Nürnberger Bürgern.
Positiv ausgedrückt verläuft der erste Akt har-
monisch und heiter, negativ ausgedrückt doch et-
was klamaukig. In seiner Oper idealisiert Wagner
das Nürnberg des 16. Jahrhunderts. Die von einer
freien Bürgerschaft regierte Reichsstadt florierte
wirtschaftlich und verfügte über eine hohe, einzig-
artige Kultur. Weil ein ansehnlicher teil davon
Fiktion ist (oder Wagner das Werk in deutlich
idealisierender Absicht schrieb), ist die Inszenie-
rung offenbar darum bemüht, dieser utopie voll-
ends den Boden zu entziehen. Nürnberg war – im
gegensatz zu Wagners Ansicht – genauso unruhig
und voller Widersprüche wie jeder andere Ort da-
mals auch. Es herrschten Diskriminierung (jahr-
hundertelang war es Juden verboten, die stadt zu
betreten), Aberglauben und finstere gedanken.
und um elf uhr nachts drehte – wie in der Oper –
der Nachtwächter die Runde und rief: »Hört, ihr
Leut’, und lasst euch sagen, die glocke hat elfe ge-
schlagen; bewahrt euch vor gespenstern und
spuk, dass kein böser geist eur’ seel beruckt!«
Der erste Akt endet mit einer szene, in der ein
amerikanischer Militärpolizist vor Haus Wahn-
fried wacht. und Wagner steht anscheinend bei
den Nürnberger Prozessen im Zeugenstand vor
gericht. An dieser stelle merkt der Zuschauer,
dass diese Inszenierung sich auf mehreren Ebenen
abspielt. Er hat es mit drei Epochen zu tun.


  1. mit dem 16. Jahrhundert, in dem die Oper
    ursprünglich spielt (künstlerische Fiktion)

  2. mit der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Ri-
    chard Wagner mit seiner Familie im Wohnzimmer
    »salonspiele« veranstaltete (karikierte Fiktion)

  3. mit der Zeit der Nürnberger Prozesse kurz
    nach dem Zweiten Weltkrieg (Fiktion, jenseits von
    Kunst und Karikatur)
    Der zweite Akt. Auf der Bühne steht der echte
    Hans sachs. Das stück im stück ist zu Ende –
    vorläufig. Ich fühle mich ein wenig erleichtert.
    Wir lauschen dem hinreißenden gesang von
    Hans sachs. Mit seinem volltönenden Bariton

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