Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 34


seien solche Maulkörbe absolut unüblich. Folgen
sie der traditionellen Bunkermentalität des Hügels?
Dienen sie der inneren Machtsicherung? Bei aller
Demokratisierung der strukturen darf man die
dynastische DNA des unternehmens nicht verges-
sen. Bis heute werden die Bayreuther Festspiele von
einer urenkelin Richard Wagners geleitet (was eini-
ges für sich hat), auch wenn längst der steuerzahler
dafür zur Kasse gebeten wird. Die gerüchteküche
dämmen Maulkörbe jedenfalls nicht ein.
Wie viele Ring-Proben wären künstlerisch se-
riös? Auch da hat eine jede/ein jeder so seine/ihre
Kalkulation. Die einen zählen Monate, die ande-
ren tage, die dritten stunden. 80 bis 90 stunden
für ein »normales« stück an einem normalen
theater – und kaum das Doppelte für Rheingold,
Walküre, Siegfried und Götterdämmerung zusam-
men? Die einen vergleichen Bayreuth mit Zürich
(wo sich der Intendant Andreas Homoki dem-
nächst ein halbes Jahr Probenzeit gönnen wird),
die anderen mit Paris (4,5 Monate). Die Festspiele
selbst bemühen gerne die Vergangenheit (Frank
Castorf soll 2013 sogar einige Proben nicht ge-


nutzt haben!) und verweisen auf den Vorteil, dass
bei Bühnenproben von Anfang an in der Original-
dekoration gearbeitet werden kann. Das spart An-
passungsprozesse und Zeit.
Die Probendisposition, die tatjana gürbaca
abgelehnt hat, hätte offenbar dazu geführt, dass
der dritte Akt der Walküre (Dauer 75 Minuten) in
vier Proben à drei stunden zu inszenieren gewesen
wäre. In einer dreistündigen Probe schaffen geübte
Regisseure und Regisseurinnen 15 bis 20 Minuten
vom stück, so eine Faustregel. gürbaca wäre durch
die Walküre also nur knapp durchgekommen, von
Wiederholungen, Vertiefungen und Revisionen
ganz zu schweigen. Verstehen die Festspiele das
unter »Professionalität«? »Ein großer teil der Regie-
arbeit ist das Konzept«, sagt Katharina Wagner am
telefon. Wer wisse, was er wolle, habe in Bayreuth
keine schwierigkeiten. Mehr sagt sie nicht.
Vielleicht gibt es aber auch andere gründe für
das scheitern des Projekts. gürbaca und ihr team
hatten ein Konzept geliefert, die Ausstattung ent-
worfen und, wie man hört, auch angefangen zu
proben. Was sie planten, war im grunde klar. An-

fang Dezember 2017 nämlich hatte die 46-Jährige
im theater an der Wien eine komprimierte Fas-
sung der Wagnerschen tetralogie herausgebracht
(aus vier Opern mach drei, aus 16 stunden Musik
mach neun). An deren Idee wäre bei der umtop-
fung nach Bayreuth scheinbar wenig geändert wor-
den. so hätte die Bühne von Henrik Ahr, wie in
Wien, einen »Durchsteher« gezeigt: ein gerüst auf
einer Drehbühne, halb Provisorium, halb Ruine.
Für vier lange Bayreuther Abende gewiss eine He-
rausforderung, auch fürs Publikum.
Katharina Wagner kannte die drei Wiener Auf-
führungen, wie sie bestätigt. Die Festspiele wussten
also, was auf sie zukommen würde, und sie wussten
auch, wie gürbaca arbeitet: nah an den Figuren
und sparsam in der Wahl ihrer sonstigen Mittel.
Ein Menschenmusiktheater, das fast mehr vom
schauspiel her kommt und Zeit braucht. Zeit und
eine potenziell andere Disposition als für lustige
Videos, spektakuläre Bühnenbilder oder das alte
Rumstehtheater. War dies das Problem? Vielleicht
schauen sich die Festspiele die Künstler, die sie en-
gagieren, im Vorfeld einfach nicht genau genug an.

Der Ring des Nibelungen ist das Bayreuther Pres-
tigeprojekt. Weil er »nur« alle sechs Jahre auf dem
Programm steht; und weil es keinen anderen Ort
auf der Welt gibt, an dem alle vier Opern im Laufe
einer knappen Woche Premiere feiern. Entspre-
chend prestigeträchtig sind die jeweiligen Beset-
zungen. Der Ring 2020 freilich stand von Anfang
an unter keinem guten stern. Zunächst kam dem
Hügel sein Dirigentenliebling Andris Nelsons, 40,
unter bis heute ungeklärten umständen abhanden.
Der wäre ein Kandidat gewesen. Wenig später ge-
riet der Italiener Daniele gatti, der es nun machen
sollte, in den Radar der #Metoo-Bewegung und
zog sich »aus gesundheitlichen gründen« zurück.
Katharina Wagners Idee schließlich, analog zum
stuttgarter Ring der vier Regisseure anno 1999/
2000 ihrerseits vier Regisseurinnen zu verpflichten
(von denen eine gürbaca geheißen hätte), zer-
schlug sich, als das »Opern-Wunder von Chemnitz«
ihr damit 2018 zuvorkam.
Dann also gürbaca allein. Mit einem Dirigenten
XY. und jetzt Valentin schwarz. Der trat nach dem
RingAward 2017 an Katharina Wagner heran und

zog ein Ring-Konzept aus der tasche, ob sie das ein-
mal sehen wolle? sie wollte und fand es auf Anhieb
»spannend«. schwarz wanderte auf ihre interne
Liste der zu beobachtenden talente. Das war im
sommer. Im darauf folgenden Winter – die Chro-
nologie könnte wichtig sein – dürfte der Vertrag mit
gürbaca geschlossen worden sein. Es folgten, wie
das so üblich ist, die künstlerische und technische
Vorstellung des Konzepts vor Ort, im Dezember
2018 dann besuchte die Festspielleiterin gürbacas
Wiener Ring-trilogie. Was, wenn sie plötzlich nicht
mehr von dem Projekt überzeugt war (mit schwarz
im Hinterkopf!) und die Dinge treiben ließ, als sie
schwierig wurden? Das wäre zwar menschlich, aber
herzlich wenig »professionell« – und bleibt natürlich
reine spekulation.
Der Fall zeigt, wie schwer es ist, in Bayreuth einen
stein, der rollt, anzuhalten, zu betrachten und ge-
gebenenfalls in eine andere Richtung zu lenken. Man
nennt es künstlerische Arbeit. Für 2020 haben die
Festspiele noch einmal glück gehabt.

http://www.zeit.de/audio

Die erste Frau, die auf dem grünen Hügel Wagners »Ring des Nibelungen« inszenieren sollte, steigt aus dem Projekt aus, ein Newcomer


übernimmt. Was ist los in Bayreuth? Ein streifzug durch Probenpläne und andere Katastrophen VON CHRISTINE LEMKE-MATWEY


MURAKAMI IN BAYREUTH


»um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, was der


Regisseur uns hier zu sagen versucht«


FEUILLETON 35


gelingt es Michael Volle hervorragend, den ge-
mütszustand eines Mannes im mittleren Alter le-
bendig darzustellen. Es kommt die berühmte
»Wahn«-Arie. sachs ist vom heißen Wunsch nach
glück beseelt, zugleich gibt es eine Moral, die ihn
zurückhält. ursprünglich sollte Walthers ge-
schichte im Mittelpunkt der Oper stehen, aber in
der langen Zeit, die die Komposition in An-
spruch nahm, veränderte sich das gerüst der
Handlung, bis schließlich die geschichte von
Hans sachs in den Vordergrund rückte. Natür-
lich werfen auch Wagners eigene, sorgenvolle
Lebenserfahrungen ihren dunklen schatten auf
diese Veränderung. Wie alt mag sachs sein? seine
Frau ist gestorben, alle Kinder sind aus dem
Haus, also ist er vermutlich Mitte 50. Etwa im
gleichen Alter wie Wagner, als er die 24 Jahre
jüngere Cosima heiratete. Wegen des Alters muss
Hans sachs auf Eva verzichten und sie Walther
überlassen, dem er sogar seine Hilfe anbietet. Die
Komplexität dieses nicht mehr jungen Mannes
findet starken Ausdruck in seinem gesang.
Ein weiterer Höhepunkt im zweiten Akt ist das
ständchen des schurken Beckmesser (Johannes
Martin Kränzle). Die Virtuosität, mit der er sein Lied
unverdrossen fortsetzt, obwohl er ständig vom schus-
ter sachs unterbrochen wird, ist beeindruckend.
Kränzle bekommt tosenden Applaus. Im Festspiel-
haus wird nicht nur applaudiert, die Zuschauer
trampeln auch mit den Füßen auf den Holzboden,
was eindrucksvollen Lärm erzeugt. Nicht dass man
aus diesem grund dort einen Holzboden hat.
Ende des zweiten Akts kommt es unter den Lehr-
lingen, Meistern und Bürgern zu einer Massen-
schlägerei – der berühmten Prügelszene. Nachdem
wieder Ruhe eingekehrt und um elf auch der Nacht-
wächter gegangen ist, schwebt aus dem schnürboden
plötzlich ein riesiger Ballon, der eine hässliche anti-
semitische Fratze trägt: Hakennase, schwarzes Haar,
verschlagene Augen, Kippa.
Der Regisseur interpretiert die Prügelszene als
Pogrom. Es ist nicht klar, ob der historische Beck-
messer wirklich Jude war. Aber es steht fest, dass er
in Wagners Oper jüdische Züge tragen soll. Wäh-
rend die anderen Handwerker alle in Werkstätten
beschäftigt sind, arbeitet Beckmesser als stadt-
schreiber – er ist unfähig zu wahrer künstlerischer
Produktion. Er erschafft nichts, sondern sorgt le-
diglich für die strikte Einhaltung der vorgegebenen
Form. Er hat im grunde keine Achtung vor dem
wahren schaffensprozess und auch kein Interesse
daran (wiewohl er das selbst nicht so zu empfinden
scheint). Diese Art der Persönlichkeit scheint in
Wagners Augen typisch jüdische Eigenschaften zu
verkörpern. Wagners antisemitische Äußerungen
sind allbekannt, ebenso wie die enge Verbindung
Hitlers zu Bayreuth.
Ich empfinde das Erscheinen dieser Karikatur
des ewigen Juden als zu plakativ. Als Japaner kenne
ich mich mit den Ausprägungen des Antisemitis-
mus nicht genau aus, aber eigentlich bin ich der
Meinung, dass es sich bei Wagners »antisemiti-
schen Ansichten« eher um ein Produkt handelt als
um etwas ursächliches. Bestehen bleibt natürlich
die tatsache, dass dieses »Produkt« später den Na-
zis sehr gelegen kam, von ihnen instrumentalisiert
wurde und in diesem sinne auch ursächliche Be-
deutung erhielt. Aber ist es nicht übertrieben, die-
se Botschaft dem Publikum einer komischen Oper
wie den Meistersingern in einer so konkreten und
schockierenden Form vorzusetzen? Hier hätte man
etwas subtiler vorgehen können.
In der Pause trinke ich ein glas Rotwein zu 13
Euro, das nicht besonders schmeckt. Ich finde es
auch ein bisschen teuer. Vielleicht ist es ein kleiner
Beitrag zum Erhalt der Festspiele. Der Dirigent
Philippe Jordan verleiht der Musik einen leichten
und natürlichen Fluss, der den gesang nicht be-
hindert und Wagners gestaltungsreichtum ver-
führerisch zur geltung bringt.
Auch der dritte Akt steckt voller schwierigkei-
ten und Verwicklungen. Walther kommt in die
schusterwerkstatt von sachs und singt »Morgend-

lich leuchtend im rosigen schein«. sein gesang ist
von unverminderter strahlkraft. In den letzten
beiden tagen habe ich mich zum Fan von Klaus
Florian Vogt und seiner einnehmend schönen
stimme entwickelt. sie ist eben nicht nur schön,
sondern auch voll von tief empfundenem Aus-
druck und einer ungezwungenen natürlichen
süße, sodass ich ganz und gar bezaubert davon
bin. sie versetzt mich in eine andere Welt.
Aber man kann nicht nur verzückt lauschen,
denn die Bühne ist plötzlich zum Nürnberger
schwurgerichtssaal geworden. Wir befinden uns
erneut in der Zeit kurz nach dem Zweiten Welt-
krieg. Hinter dem Richter hängen die Fahnen der
vier Mächte (Frankreich, großbritannien, usA
und sowjetunion), am Rand der Bühne wacht
wieder die amerikanische MP. Die sänger müssen
im Zeugenstand stehend singen.
Doch im selben gerichtssaal wird auch unter
großem Lärm und getümmel das Johannisfest
gefeiert. Die Menschen gebärden sich übermütig
und fröhlich, als würden sie den Ort überhaupt
nicht bemerken. Ja wahrscheinlich sehen sie gar
nicht, dass hier ein Militärtribunal stattfindet.
Vielleicht können nur wir – das heutige Publikum
im saal – das erkennen. Anders kann es nicht sein.
Denn die Nürnberger Bürger aus dem 16. Jahr-
hundert können ja nicht wissen, sich nicht einmal
vorstellen, was im 20. Jahrhundert passieren wird.
Als Walther zu singen aufhört, das Wettsingen
gewinnt und Evas Hand erringt, verschwinden die
Fahnen der siegermächte. Auch das Militärgericht
verschwindet.
Zum schluss singt Meister Hans sachs ein
Loblied auf den sieg der Liebe und die Erhaben-
heit der deutschen Kunst.

Zerging in Dunst
das Heil’ge Röm’sche Reich,
uns bliebe gleich
die heil’ge deutsche Kunst!

Damit fällt der Vorhang. Die Inszenierung lässt die
letzte szene unkommentiert (glaube ich). Was be-
deutet sie? Dass durch den sieg der Liebe eine rituelle
Reinigung möglich ist? Oder ist die unverstellte
Lobeshymne auf die deutsche Kunst ein selbstquä-
lerischer Kommentar? um ehrlich zu sein, habe ich
keine Ahnung, was der Regisseur uns hier zu sagen
versucht. Vielleicht habe ich auch etwas verpasst
(wegen meines Vordermanns konnte ich, wie gesagt,
nur einen teil der Bühne sehen).
Eines weiß ich jedoch ganz genau, nämlich dass
das gesamte Ensemble der Meistersinger Erstaun-
liches geleistet hat. Dazu kommt der bewegende
Einsatz des Chors. Bevor ich nach Bayreuth kam,
wusste ich nicht, welche überwältigende Kraft ein
Chor zu entfalten vermag. Ich kann mich nur für
meine unkenntnis schämen.
Besitzt Musik die Macht, die Welt zu retten?
Wie könnte man sie einsetzen? Oder mangelt es
ihr an einer deutlichen unterscheidung von gut
und Böse? Oder unterscheidet sie womöglich zu
stark zwischen gut und Böse? Herausragende
Kunst, meine ich, besteht in originären texten, die
uns mit profunden Fragen konfrontieren. und in
den meisten Fällen steht keine eindeutige Antwort
bereit. so bleibt uns nichts anderes übrig, als dass
jeder für sich eine Antwort findet. Darüber hinaus
ist ein Werk – wenn es gut ist – in ständiger Bewe-
gung und verändert unablässig seine Form. Die
Möglichkeiten der Deutung sind unendlich. Auch
die gefahr falscher Antworten ist stets gegeben.
schließlich sind die Begriffe »Möglichkeit« und
»gefahr« so etwas wie synonyme. Mit tief greifen-
den Fragen, einigen persönlichen Antworten und
ganz erfüllt von meinem starken musikalischen
Erlebnis fliege ich nach Japan zurück.

Wahn, Wahn!
Überall Wahn!

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

Foto: Julian Baumann für DIE ZEIT
Free download pdf