Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1
©Andreas Lab

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ALEXANDER


OSANG


Fünf Generationen zwis chen


Deutschlandund Russland



  1. August 2019 DIE ZEIT No 34


ir haben es uns angewöhnt, die autoritä-
ren tendenzen der ehemaligen Ost-
blockstaaten als Folge des umbruchs von
1989 zu deuten. Die Abwertung der Le-
bensläufe, die Herzenskälte des Kapitalis-
mus, die Deindustrialisierung ganzer Land-
striche werden als Quelle einer fundamenta-
len Des orien tie rung gesehen. Die Wahl der
Pis, Orbáns oder der AfD erweist sich aus
dieser Perspektive als die fehlgeleitete Nei-
gung, Ordnung in eine überfordernde ge-
genwart zu bringen und einfachen Antworten
für komplexe Probleme zu erliegen. Im Zwei-
fel, wie man es jüngst in einem ARD-Doku-
mentarfilm erneut suggeriert bekam, war es
die neoliberale treuhand, die den ostdeut-
schen Populismus zu verantworten hat.
Dass diese Analyse der östlichen Befind-
lichkeiten selbst wenig komplex sein könnte,
zumindest sehr unvollständig, ahnt, wer sich
Andrzej Leders großen Essay Polen im Wach-
traum vornimmt. Er nimmt sich darin der
Mentalitätsentwicklung in ihrer longue durée
an und konzentriert sich dafür auf die Jahre
1939 bis 1956, die er – am Beispiel Polens –
als konstantes Revolutionsgeschehen auffasst.
Dass diese Revolutionsjahre zumeist ohne
eigene gewaltakte der polnischen Bevölke-
rung vonstattengingen, sondern diese von
anderen begangen wurden, ändert nichts an
den sozialen Effekten: Leder lenkt den Blick
auf die polnischen Profiteure sowohl der
Judenvernichtung als auch der Entmachtung
und Enteignung der landadligen Eliten
durch die sow jet union. Die Barbarei der
Nazis und der sowjets eröffnete den katho-
lisch-ländlichen Bevölkerungsschichten erst-
mals große gesellschaftliche Aufstiegsmög-
lichkeiten, was bis heute die Mentalität des
Landes prägt. Anders als im Westen vollzog
sich im Osten ein grundlegender und ge-

waltsamer umsturz der Besitzverhältnisse
über das Kriegs ende hinaus.
Die Nutznießer, die die Revolutionsjahre
häufig schamvoll beobachteten, zum teil
heimlich begrüßten und schließlich die frei
gewordenen Pöstchen einnahmen, verdräng-
ten die eigene historische Rolle, um sich
selbst ausschließlich als Opfer zu installie-
ren. sie entkamen einst dem »Idiotismus des
Landlebens« (Karl Marx) und besaßen nun
die schnapsbrennerei der jüdischen Familie,
im Kommunismus waren sie dann immer-
hin geschäftsführer des staatlichen Betriebs
und schickten den sohn an die universität.
Leder zeichnet zahlreiche derartige Lebens-
läufe nach und zeigt das Problem heutiger
Polen auf, sich der eigenen Familienge-
schichte zu stellen. Im sozialismus Polens
(und in der DDR war dies nicht anders)
stellte sich die Frage nach der eigenen Ver-
antwortung eben nicht. Die Ostblocklän-
der waren per definitionem antifaschistisch
und hatten eine blütenrein unschuldige
Bevölkerung.
Das vor fünf Jahren auf Polnisch er-
schienene Buch des 1960 geborenen War-
schauer Kulturphilosophen hat – in
Deutschland leider unbemerkt – eine heftige
und bis heute anhaltende gesellschaftliche
Debatte in Polen ausgelöst. sie ist am ehes-
ten mit der Aus ein an der set zung um götz
Alys studie Hitlers Volksstaat über die deut-
sche Volksgemeinschaft vergleichbar, der
2005 ebenfalls den ökonomischen Profit
breiter gesellschaftsschichten an der Aus-
beutung und Vernichtung der Juden in den
Mittelpunkt stellte. Leder verlängert den
Betrachtungszeitraum bis in die sozialis-
tische Herrschaft hinein (ohne dabei die na-
tionalsozialistischen Verbrechen zu relati-
vieren), und er fokussiert mit seinem psy-

choanalytischen Instrumentarium weitaus
stärker die kollektiven Befindlichkeiten der
Nutznießer. Die wenigsten Polen, argumen-
tiert er, arbeiteten aktiv an der Judenver-
nichtung der Nazis mit, aber der lange tra-
dierte und internalisierte Anti semi tis mus
sowie der blanke Neid auf die rege Han-
delstätigkeit des jüdischen Bürgertums lie-
ßen das Verbrechen wie die wundersame
Erfüllung eigener, furchtbarer Wünsche er-
scheinen. Leder greift hier auf den psycho-
analytischen Begriff der Interpassivität zu-
rück: Die eigene Empfindung wird delegiert
und der sadistische Furor der gewalttäter
mitgenossen, was sich später in scham und
Verdrängung niederschlägt. Die Re vo lu tion
zwischen 1939 und 1956 wurde Leder zu-
folge wie in einem Wachtraum durchlebt
und blieb unreflektiert. Das Herz des Os-
tens ist bis heute eine Mördergrube.
Dass man die stellen und gesellschaftlichen
Rollen der Ermordeten und Vertriebenen ein-
nahm, der Juden und der Landadligen, war
mit dem eigenen selbstbild natürlich
schlecht vereinbar. Dabei fand, wie Leder
akribisch aufzeigt, eine »gewaltige Über-
tragung von Eigentum« statt. In zahlreichen
polnischen gemeinden waren mehr als die
Hälfte der Einwohner Juden gewesen:
»Früher oder später wurde das, was die
Deutschen nicht mitnehmen konnten, von
Polen übernommen: vor allem Immobi-
lien.« und doch wählte man – auch auf-
grund von schuldgefühlen – das Bewusst-
sein, ein hilfloser spielball der geschichte
zu sein. und tut dies Leder zufolge auch
heute noch. sich notorisch benachteiligt zu
fühlen ist in Ostdeutschland, Polen oder
ungarn ungebrochen populär: »Diejenigen,
die sich ungerecht behandelt fühlen, er-
tragen keine geringschätzung, keine schmä-

lerung, keinen Vergleich, auch keine Relati-
vierung. Das alles dient ihrem Empfinden
nach der Verfälschung der Wahrheit über
das absolute Ausmaß ihres unrechts; ist
eine Verspottung ihres schmerzes. Deshalb
wollen sie vom unrecht, das andere erlebt
haben, nichts hören.« Politisch erfolgreich
ist, wer dieser stimmungslage entgegen-
kommt und (wie es immer so schrecklich
heißt) die gefühle der Menschen ernst
nimmt.
Der umstand, dass der Osten 1989 hoff-
nungslos marode und verarmt war, verdeck-
te den zuvor erfolgten revolutionären Auf-
stieg breiter Bevölkerungsgruppen. Auch
auf dem gebiet der späteren sowjetischen
Besatzungszone Deutschlands hatte man
von der Ausbeutung, Vertreibung und Er-
mordung der Juden profitiert und neue Auf-
steiger produziert. Dort wurden auch,
gründlicher noch als in Polen, die »Junker«
und die unternehmer enteignet, vertrieben,
gedemütigt, um dem neuen Menschen, dem
einfachen Bauern und einfachen Arbeiter,
Karrieren und Posten zu verschaffen. Dass
sich die Profiteure der einstigen gewaltakte
heute so gern als Opfer der geschichte
begreifen, liegt nicht nur an der ökono-
mischen Übermacht des Westens, der nach
1989 die gesellschaftlichen und wirtschaftli-
chen spielregeln diktierte. Wer die für viele
Westdeutsche so rätselhafte Mentalität der
Ostdeutschen begreifen will, muss – wie es
Leder am Beispiel der Polen tat – auch ihre
Lebenslügen ins Visier nehmen. Die gesell-
schaften des Ostens waren nicht nur Opfer-
gemeinschaften, die sie heute bequemer-
weise sein wollen. Der neue Mensch über-
nahm aufstiegswillig die Posten, die Woh-
nungen und das Inventar der Vertriebenen
und der Ermordeten.

Die heimlichen Gewinner


Viele Menschen im ehemaligen Ostblock fühlen sich immer noch als Opfer der geschichte. Der polnische Philosoph


Andrzej Leder zeigt jedoch, dass sie Nutznießer der nationalsozialistischen und stalinistischen Herrschaft waren VON ADAM SOBOCZYNSKI


Andrzej
Wróblewski
reflektiert in
seinem Gemälde
»Execution VIII«
(1949)
das Grauen des
Zweiten
Weltkriegs

W


Auf dem Friedhof


der Geächteten


Peripherer Blick: Elif shafak
erzählt vom weiblichen Istanbul

Als türkische Autorin könne man sich heute
den Luxus nicht leisten, unpolitisch zu sein,
sondern müsse klar Position beziehen: Das hat
Elif shafak in den vergangenen Jahren mehr-
fach erklärt. In ihrem Fall bedeutet das freilich,
dass sie ihre Werke nur noch von London aus
schreiben kann, auf Englisch. Bereits 2006
wurde die 47-jährige schriftstellerin wegen
»Verunglimpfung des türkentums« angeklagt.
Nun ist sie erneut im Visier der türkischen
Behörden, diesmal wegen angeblicher »un-
züchtigkeit« in ihren schriften. Erschwerend
dürfte ins gewicht fallen, dass ihr neuer Ro-
man Unerhörte Stimmen die geschichte einer
Istanbuler Prostituierten erzählt. Alles kommt
vor in diesem aufwühlenden Buch: Polygamie,
Missbrauch, Militärdiktatur, Revolte – zwi-
schen Provinz und Metropole entfaltet sich ein
Panop ti kum der türkischen geschichte.
Am Anfang ist es vorbei: »Ihr Name war
Leila. tequila Leila, so kannten sie ihre Freunde
und Kunden.« Kaum wird die 43-Jährige ein-
geführt, schon ist sie mausetot, liegt an einem
kalten Novembermorgen des Jahres 1990
ermordet in einem Istanbuler Müll container.
10 Minutes 38 Seconds in This Strange World
heißt der Roman im Original. stu dien zu-
folge ist das gehirn nach dem tod genau für
diese zehn Minuten und 38 sekunden noch
aktiv. Diese Zeit hat nun Leila, um die wich-
tigsten stationen ihres vergangenen Lebens zu
rekapitulieren – ein Countdown an den Rand
des Lebens.
Leilas Dasein steht von Anbeginn unter
keinem günstigen stern. Es beginnt in der
ostanatolischen Provinz Van, wo strenge
patriarchalisch-religiöse strukturen das Auf-
wachsen als Mädchen erschweren. Früh legt
sich ein dunkler schatten auf Leilas Kindheit,
dem sie in einem Moment der Verzweiflung
nur durch Flucht in jene stadt entkommt, die
über anderthalbtausend Kilometer weit ent-
fernt liegt und von jeher ein Ort der Verhei-
ßung für »alle unzufriedenen und träumer«
ist: Istanbul.
Die Verheißung entpuppt sich jedoch als
Illusion. Denn das Istanbul gibt es gar nicht.
Die Metropole am Bosporus gleicht viel-
mehr einer Matrjoschka-Puppe: sie besteht
aus vielen Istanbuls, die sich alle hinter die-
sem Namen verbergen. und es ist eine be-
sonders verborgene Facette der stadt, die für
shafak in diesem Roman bemerkenswert ist.
Indem sie das tragische schicksal einer Pros-
tituierten erzählt, rückt sie eine tatsächlich
»unerhörte stimme«, eine in der türkischen
gesellschaft geächtete Randfigur, und ihre
fünf ungewöhnlichen Freundschaften in
den Fokus. Diese Randexistenz, eine weib-
liche zumal, besteht dann auch post mortem:
so gibt es für Leila kein Begräbnis nach isla-
mischem Brauch. stattdessen werden Aus-
gestoßene wie sie auf dem sogenannten
Friedhof der geächteten beigesetzt. Dieser
Friedhof existiert wirklich. Er liegt außer-
halb von Istanbul in dem beliebten Bade ort
Kilyos. Die Menschen, die dort begraben
sind, wurden oft von ihren Familien ver-
stoßen. sie enden dort ohne Inschrift, ohne
Namen, schicksale als bloße Nummer.
Mit Unerhörte Stimmen hat Elif shafak nun
einer dieser anonymen Nummern einen Na-
men und eine geschichte gegeben. Eine ge-
schichte, die sich zwar vor 30 Jahren zugetragen
hat – aber doch erschreckend nah an die tür-
kische gegenwart heranreicht. SINEM KILIÇ

Elif shafak: unerhörte stimmen. Roman;
a. d. Engl. v. Michaela grabinger; Kein & Aber,
Zürich 2019; 432 s., 24,– €, als E-Book 18,99 €

Andrzej Leder:
Polen im
Wachtraum.
Die Revolution
1939 –1956 u nd
ihre Folgen;
Fibre Verl a g ,
Osnabrück 2019;
256 s., 28,– €


LITERATUR


FEUILLETON 37


Abb.: Andrzej Wróblewski »Surrealist Execution (Execution VIII), 1949« (Foto: Prisma/Album/akg-images)

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