Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

ENTDECKEN


Die Freunde sind alle gegangen, nach Greifswald, Berlin, Leipzig. Paul Schröer, Punk und Klempner, hat das schrumpfende Ostseestädtchen


Wolgast trotzdem nicht verlassen. Was hält ihn in der Heimat? VON PHILIPP DAUM


P


aule hat Dennis am Tag
zuvor vom Bahnhof ab­
geholt. Dennis ist extra
aus Greifswald nach
Wolgast gekommen, sie
haben sich lange nicht
mehr gesehen, zwei oder
drei Monate. Immer
wenn sie sich sehen, ist
es schön, sagt Paule.
»Wir sind dann wie die Waschweiber.« Dennis
schlief bei Paule im Wohnwagen. Dann sind
sie los. Zur Demo.
Nun stehen sie beide auf dem Platz der
Jugend, Bauchi ist auch da und ein paar andere.
Sie haben Transparente mit Bindfaden an
Bäumen befestigt, Paule läuft durch ein Spalier
von Konfettikanonen, rosa Glitzer regnet auf
ihn herab.
Sie nennen es »Tanzdemo«. Techno, Män­
ner in zerrissenen Hosen, Frauen in Leoparden­
leggins. Insgesamt 70 Leute sind gekommen,
die meisten nicht aus Wolgast. Sie tanzen, sie
trinken Bier, ihr Motto ist: »AfD wegbassen«.
Die AfD wurde bei der Kommunalwahl im
Mai mit knapp 20 Prozent stärkste Frak tion
in Wolgast, in einigen Nachbargemeinden
bekam sie die besten Ergebnisse in Mecklen­
burg­Vorpommern, über 30 Prozent.
Paul Schröer, Punk und Klempner, ist der
Veranstalter der Demo. Er sagt: »Es ist ein
Erfolg, wenn wir Spaß haben und sich ein
paar Leute über uns ärgern.« Die meisten
Teilnehmer bleiben nur für ein paar Stunden.
Dennis wird nach Greifswald zurückkehren.
Bauchi nach Berlin. Paul, genannt Paule,
bleibt, seit 30 Jahren.
Paule blieb, als ihm mit 15 rechte Skin­
heads beim Schulfest die Nasenscheidewand
einrissen. Paule blieb, als seine Punker­WG
geschlossen abhaute. Paule blieb, als seine
Freundin an den Bodensee zog. Früher, sagt
er, feierten sie jedes Wochenende mit 40 Leu­
ten. Als auch Nummer 39 an einem Sommer­
tag ging, blieb nur Paule. Warum?
Wolgast, das kleine Ostseestädtchen am
Rande Deutschlands, fast schon in Polen, mit
großer Peene­Werft und einer hübschen Alt­
stadt, ist in den vergangenen 30 Jahren um
ein Drittel geschrumpft: auf 12.000 Men­
schen. Der Pflegedienst, der Orthopädie­
techniker, der Hörakustiker verraten, wer hier
vor allem so wohnt. Plakate in der Altstadt
verkünden: Bald sind Hafentage. Bald ist
Erdbeerfest.
Paul Schröer, 30 Jahre alt, Stupsnase und
einen Flecken Bart unter der Lippe, sieht nicht
nach Erdbeerfest aus. Er hat zwei Löcher in den
Ohren, das kommt von den Tunneln, die er mal
trug. Sein erstes Tattoo, ein Fadenkreuz auf dem
linken Unterschenkel, stach er sich mit 18 selbst,
indem er einen Kassettenrekorder zur Tätowier­
maschine umbaute.

Wenn man mit ihm unterwegs ist, bleibt er
selten stehen. Immer ist er in Bewegung, ständig
klingelt sein Telefon. Paul Schröer gehört ein
Sanitär­ und Heizungsbaubetrieb. Vier Jahre
lang verantwortete er die Kesselbar, die einzige
linke Kneipe Wolgasts, er organisiert Konzerte
und Mahnwachen, sein nächster Plan ist ein
alternatives Jugendzentrum. Die linke Szene in
Wolgast? Das ist Paule, sagen sie hier.
Er wächst in der Feldstraße auf, in einem
Haus neben dem Friedhof. In der Nachbar­
schaft wohnen die Peenewerker, Arbeiter der
Werft, die zu Hochzeiten 3500 Menschen be­
schäftigt. Paules Vater, Helfred, ist so etwas
wie ein stadtbekannter Sonderling: Er ist Zu­
gezogener, er berlinert, und er ist selbstständi­
ger Klempner, in der DDR war der Mann fast
schon eine kapitalistische Provokation. Seine
Frau Evelyn baut den Betrieb mit auf und hält
die Familie zusammen: »Wenn wir Kinder
Mist gebaut haben, war der Vater die Peitsche
und sie das Zuckerbrot«, sagt der Sohn.
Paule hat zwei ältere Geschwister, Kathi und
Micha. Sonntags gucken sie Kabel 1, die Mee­
resabenteuer von Jacques Cous teau, die Kinder
schlafen beim Vater auf dem Bauch ein, auf dem
Teppich vor der Glotze. »Teppichhorchen« heißt
das bei den Schröers.
Während viele Wolgaster in den Neunzi­
gern Probleme sehen, sieht Helfred Schröer
einen großen Markt. Er stellt 50 Leute ein. Den
Fischverarbeitungsschiffen aus der Weft baut er
die Toiletten ein, noch vor der großen Krise.
Linke aus größeren Städten werfen Paul
Schröer oft vor, dass er mit Rechten zu tun
habe. In Wolgast geht das gar nicht anders.
Man begegnet sich im Supermarkt, auf der
Straße. Und wenn man Klempner ist, dann
macht man Rechten auch das Klo.
Er versucht dann »schön die Klappe zu
halten«, sagt er. Der Kunde bezahlt ja nicht
für eine politische Dis kus sion. Aber oft fan­
gen die Leute von selbst an. Ein typischer
Dialog, erzählt er, geht so:
Kunde: »Na, Herr Schröer, haben Sie auch
schon unsere neuen syrischen Fachkräfte ein­
gestellt?«
Paul Schröer: »Würde ich gerne, ich be­
komme ja keine vernünftigen Deutschen
mehr.«
In den meisten Fällen bleibt es bei dieser
norddeutschen Schnoddrigkeit: Zwei Männer
markieren ihr Revier, aber keiner tut dem ande­
ren was. Neulich hat er mit einem Taxifahrer
gestritten, der über die Rente mit 67 meckerte.
Paul Schröer sagte ihm, dass die AfD plant,
Leute wie ihn noch länger arbeiten zu lassen. Der
Fahrer sagte: »Ja, aber ich wähl die trotzdem.«
Wenn man Paul Schröer fragt, was ihn an
Wolgast stört, antwortet er in Listenform: der
Mangel an Empathie. Die Typen an der Tan­
ke, die ihre Chromfelgen polieren und dabei
auf Flüchtlinge schimpfen. Dass so viel ver­

boten ist, Ballspielen, Zelten. Der Neid, wenn
er mit seinem Ford Ranger bei einem Kunden
vorfährt und der sagt: »Machen Se dat nich so
teuer, Herr Schröer. Ich möchte nich Ihr Auto
mitbezahlen.« Ihn stört die Passivität, die im­
mer schlimmer wird, ein Ort voller Mecker­
köpfe, die meckern, aber nichts tun.
Wenn alle deine Freunde gehen, nach Ber­
lin, Greifswald, Neubrandenburg und Leip­
zig, warum bleiben? Macht das nicht un­
glücklich?
Zwei Wochen nach der De mons tra tion.
Der Wind kommt von achtern. Paul Schröers
Segelboot heißt Calypso, wie das von Jacques
Cous teau, er hat es bei einem Kunden gegen
eine Heizung getauscht. Rügen liegt grün­
braun beige vor uns, wie aufgefaltet.
Wenn man die Augen schließt, hört man
Rauschen, Quietschen, Gurgeln, Flattern,
Segeldonner.
Was hält jemanden in seiner Heimat?
Manche bleiben, weil sie zu haben glauben,
was sie brauchen: Familie, Freunde, Arbeit.
Manche hält Bequemlichkeit, ein Mangel an
Sehnsucht oder Fantasie oder Mut. Es gibt
Menschen, die finden nicht den richtigen
Zeitpunkt, sie leben einfach am selben Ort
weiter. Und es gibt Menschen, die haben sich
so viel aufgebaut, die würden einen Krater
hinterlassen.
Mit elf schenkt seine Schwester Kathi Paule
bordeauxrote Springerstiefel. Die nächsten
Jahre: Strand. Karlsquell­Dosenbier aus dem
Aldi. Nachts betrunken Ausflugsschiffe kapern
und Piratengeräusche machen. Jedes Wochen­
ende in Berlin, und zwar so richtig, schäbige
Clubs, Zwei­Tage­Kater, Verhaftungen. Er fängt
eine Ausbildung bei seinem Vater an, bricht sie
ab, lebt zwischen Wolgast und irgendwo: ein
Wochenende in Köln. Eine Woche in Magde­
burg. Immer wieder Berlin. Er versöhnt sich mit
seinem Vater und macht die Lehre weiter. In der
Firma sind sie nur noch zu viert; die Neunziger
hatten gut begonnen und schlecht ge endet.
Es gab einen Punkt in Paul Schröers Le­
ben, an dem die wiederkehrende Frage nach
dem Bleiben und Gehen auf einen furchtba­
ren Moment zusammenschnurrte. Es ist jetzt
ganz still auf dem Boot, nur der Außenbord­
motor gluckert.
»Ich war 21, es war eine glückliche Zeit«,
sagt er. Seine neue Freundin hat gerade das
erste Mal bei ihm übernachtet. Da kommt ein
Anruf von seiner Schwester Kathi, die zu der
Zeit in Hamburg lebt. »Vatters hat sich umge­
bracht.« Kathi fährt mit dem Taxi zur Auto­
bahnabfahrt, Paule holt sie ab und bringt sie
zur Mutter. Später kommt Kathi zu ihm, sie
hält es nicht aus. Paul Schöer sagt: »Ich wollte
bloß eine Flasche Wein holen von der Tanke.
Dann hätten wir uns abgelenkt.« Kathi hatte
ein Jahr vorher Zwillinge zur Welt gebracht,
sie war nicht zurechtgekommen und hatte die

Kinder zur Adop tion freigegeben. Sie habe ge­
glaubt, der Vater habe das nicht verkraftet. Als
Paule von der Tankstelle zurückkommt, ist sie
weg. »Wir haben sie eineinhalb Tage gesucht.
Hinter meinem Wohnhaus gab es einen
Schuppen, und da hing sie dann. Wir haben
ganz Wolgast durchsucht, mit Hunden und
Wat weiß ick was für ne schei ße, dabei war sie nur
einen Steinwurf entfernt.«
Totale Flaute draußen. 1,3 Knoten. Zwei­
einhalb Stundenkilometer.
Irgendwann sitzen Paul Schröer und sein
Bruder Micha in einem gefliesten Raum am
Schreibtisch. Der Vater hatte einen alten Aus­
stellungsraum zum Büro umfunktioniert. »Wat
machn wir denn jetzt?«, fragen sich die Brüder.
»Na, weiter.« Für die größte Entscheidung ihres
Lebens brauchen sie fünf Minuten. Paule und
Micha übernehmen »Heizung­Lüftung­Sanitär
H. Schröer«, so heißt die Firma bis heute.
Paul Schröer steht morgens um halb sechs
auf, bleibt abends bis acht auf der Baustelle
und schreibt in der Nacht Angebote. Die Brü­
der prügeln die Firma hoch: von vier Ange­
stellten auf 15, dann auf 20. »Heizung­Lüf­
tung­Sanitär H. Schröer« betreut heute 1000
Ferienwohnungen. Paul Schröer arbeitet, wie
sein Vater, auch für die Werft, dort wartet er
die Heizungen auf dem Gelände. Drei, vier
Jahre lang hat er keine Zeit, nachzudenken.
Heute denkt er: Ohne die viele Arbeit
wärst du halt irgendwann mal abgetrudelt.
Du wärst in eine Situation gekommen, wo
man sich aufgibt.
Vor neun Jahren entschied er die Frage nach
dem Gehen oder Bleiben ein für alle Mal. Er
hätte alles hinter sich lassen können, die Familie,
den Beruf, Wolgast. Aber er sagt:
»Man muss halt auch mal den Arsch zu­
sammenkneifen und durchziehen. So eine
Entscheidung ist ja nicht nur deine. Keiner
weiß, was mit meiner Mutti passiert wäre.
Wir hätten uns alle getrennt. Ich bin ein
Mensch, der sich Sorgen macht um die Leute,
die er gernhat.« Die Mutter lebt bis heute in
ihrer alten Wohnung auf dem Firmengelände.
Sie hat sich aus dem Geschäft zurückgezogen,
bringt aber manchmal Kekse vorbei. Das Ge­
rüst, das sich Paul Schröer in den vergangenen
Jahren aufgebaut hat, hält auch sie.
Als es der Firma gut geht, eröffnet er im
Heizungskeller der alten Post die Kesselbar.
Vier bis sechs Abende steht er nach dem
Klempnern hinterm Tresen. »Wenn ich schon
hier bin, muss ich es mir schön machen«, sagt
er. 23.000 Euro steckt er in die Kesselbar.
Er veranstaltet Konzerte. Er hat keine Ah­
nung von Technik, aber er kennt Keiler, der
sich im Jugendhaus um die Musik kümmert.
Keiler ist froh über Konzerte, denn die gibt es
im Jugendhaus nur noch selten. Zu wenig
Nachwuchs. Paule macht Filmabende, Partys,
Mahnwachen.

Dann begegnet ihm Dennis. Dennis
Krauß, damals 18 Jahre alt, war in einer
schlechten Phase. Von der Schule geflogen,
dann Förderschule, dann Nazi­ Clique. Den­
nis sagt: »Ich war eine Flasche im Meer, die
umherdümpelt.« An den Moment, in dem er
Paule begegnete, kann er sich noch erinnern:
Der habe eine ganz komische Ausstrahlung,
keine Ahnung, schwer einzuschätzen, aber, er
habe sich da sofort gefunden.
Dennis sagt über Paule: »Er war so: Hier,
komm runter, mach die Bar, organisier die
Party, ja, du machst den Veranstalter. Er hat
mir Aufgaben gegeben, etwas, an dem ich
mich festhalten konnte. Und dann bin ich
von den alten Freunden weggekommen, von
der Vergangenheit, vom Scheißebauen. Paule
ist immer für einen da.«
Paule sagt über Dennis: »Ich habe das bei
ihm beobachtet. Wenn die Leute zu ihm
kommen und sagen: Alter, was war das für
eine geile Party! Und das für Wolgast! Da
zehrt der wochenlang von.«
Je kleiner die Stadt, desto wichtiger der
Einzelne. Für eine Stadt wie Berlin macht es
keinen großen Unterschied, ob einer wie Paul
Schröer dazukommt. Für eine Stadt wie Wol­
gast macht es einen Unterschied, wenn einer
wie Paul Schröer geht.
In den nächsten fünf Jahren möchte er ein
richtiges Segelboot kaufen und allein den At­
lantik überqueren. Ein freieres Leben kann er
sich nicht vorstellen.
Nach der Tanzdemo, es ist 22 Uhr, eine
Handvoll Leute sind runter in die Kesselbar
gekommen. Vor zwei Jahren hat Paul Schröer
die Kesselbar geschlossen, weil er nicht mehr
konnte. Jetzt öffnet er sie zu besonderen Gele­
genheiten.
Es riecht nach Moder. Seit Langem hat
hier keiner mehr nach dem Rechten geschaut.
Die Musikanlage hat einen Wackler. Plötzlich
läuft Wasser aus dem Frauenklo, Paul Schröer
und ein Freund reparieren es schnell.
Er wäscht sich die Hände und stellt sich
hinter den Tresen, zum ersten Mal seit zwei
Jahren. Sein Blick fällt auf die trüben Bier­
gläser, er sagt: »Es fehlt halt. Die Anlage
braucht Zuneigung. Der Spülboy braucht
Zuneigung. Die Stadt braucht Zuneigung.«
Dann fummelt irgendjemand an der An­
lage herum und bringt sie zum Laufen. Paule
öffnet ein Bier, die Hamburger Punkband
Oidorno singt ein zartes Lied mit hartem
Text. Und in diesem Moment kommt alles
zusammen, die ganze Rauheit und Zartheit.
Der Punk, der sich um seine Mutti kümmert,
Kathi, Vatters. Paule zündet eine Kerze an;
Oidorno singen: »Halt die Fresse, ich will
saufen, ich will euren Scheiß nicht hören.«
Ganz weich, mit Akustikgitarre.

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Paule bleibt


Paul Schroer, 30,
in seiner
Kesselbar. Früher
stand er hier nach
der Arbeit fast
jeden Abend
hinterm Tresen

Foto: Roman Pawlowski für DIE ZEIT


  1. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 34 53

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