Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1
ZEIT: In Deutschland streiten seit 2016 Hunderte
Universitäten und Bibliotheken mit den wissen-
schaftlichen Großverlagen Elsevier und Springer
Nature. Die Unis wollen die explodierenden Kos-
ten für wissenschaftliche Zeitschriften nicht mehr
akzeptieren. Die Verlage sagen: Wir machen Ar-
beit, für die ihr uns bezahlen müsst. Ist der Kon-
flikt lösbar?
Skipper: Das Letzte, was ich mir wünsche, ist ein
zerrüttetes Verhältnis zwischen Verlagen und Wis-
senschaftlern. Wir verfolgen das gleiche Ziel: For-
schungsergebnisse zuverlässig und gut zu kom-
munizieren. Die Autoren haben einen Ruf zu ver-
lieren, wir ebenso.
ZEIT: In Zeiten von Fake-News und Experten-
skepsis: Wo sehen Sie den Platz der Wissenschaft
in der Gesellschaft?
Skipper: Ganz vorne auf der Bühne! Es fällt mir
schwer zu akzeptieren, dass wir gerade diese Phase
durchlaufen – ich nenne es bewusst eine Phase –,
in der es weltweit Misstrauen gegenüber wissen-
schaftlicher Expertise gibt. Vielleicht haben wir
unsere Arbeit in den letzten Jahren nicht so gut
gemacht, wie wir sie hätten machen sollen. Mitt-
lerweile hat die wissenschaftliche Community

erkannt, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt,
der Öffentlichkeit ihre Forschungsergebnisse zu
präsentieren. Und sie auch zu erklären und ein-
zuordnen.
ZEIT: Nature hat schon oft Wissenschaftsge-
schichte geschrieben. In welchem Bereich erwar-
ten Sie den nächsten Durchbruch, die nächsten
Sensationen?
Skipper: Schwer zu sagen – ich besitze ja keine
Kristallkugel. Es wird immer deutlicher, wie viel
Schaden wir unserem Planeten zugefügt haben.
Die Klimaforschung arbeitet inzwischen sehr in-
terdisziplinär: Natur- und Sozialwissenschaften
kommen zu phänomenalen Erkenntnissen. In den
Materialwissenschaften sorgt das Versprechen,
vielseitigere und umweltfreundlichere Materialien
zu entwickeln, für viel Bewegung. Ein anderes Bei-
spiel ist die Genomforschung, die zu einem immer
besseren Verständnis unserer Geschichte und un-
serer biologischen Beziehungen führt. Darin steckt
für mich eine große humanistische Botschaft: dass
wir Menschen alle mit ein an der verbunden sind,
egal wie unterschiedlich wir sind.

Das Gespräch führte Astrid Herbold

»Ganz vorne


auf der Bühne«


Die wichtigste Wissenschaftszeitschrift der Welt, »Nature«,


wird 150 Jahre alt. Welche Rolle spielt sie in Zeiten voller Fake-News?


Ein Gespräch mit der Chefredakteurin


Foto: Dan Wilton für DIE ZEIT

DIE ZEIT: Die Zeitschrift Nature, deren Chef-
redak teu rin Sie sind, feiert in diesem Jahr ihr Jubi-
läum – 150 Jahre. Herzlichen Glückwunsch! Es
wird ja vermutlich der letzte runde Geburtstag
sein ...
Magdalena Skipper: Nicht, wenn es nach mir geht!
ZEIT: Wir leben in digitalen Zeiten. Sterben ge-
druckte wissenschaftliche Zeitschriften nicht
zwangsläufig aus?
Skipper: Nature wird in fünfzig oder hundert Jah-
ren sicher nicht mehr genauso aussehen wie heute.
Wissenschaft und Forschung entwickeln sich wei-
ter, und wir entwickeln uns mit. Für mich ist es ein
Merkmal einer gesunden Zeitschrift, dass sie sich
ihrer Umgebung bewusst ist und sich an die Be-
dürfnisse der Zeit anpasst.
ZEIT: Also bald kein Nature mehr auf Papier?
Skipper: Das ist denkbar. Ich betrachte Papier
nicht als zentral für unsere Identität. Zahlreiche
Inhalte werden bereits heute online gelesen. Wir
wissen aber auch, dass sich viele Leser jede Woche
auf die gedruckte Ausgabe freuen.
ZEIT: Sie sind die erste Chefredakteurin von
Nature. Führen Sie anders, weil Sie eine Frau sind?
Skipper: Mein Vorgänger war 22 Jahre im Amt,
eine sehr lange Zeit, in der sich sehr viel verändert
hat. Natürlich habe ich eine persönliche Perspek-
tive darauf, was Führung bedeutet. Dass jetzt erst-
mals eine Frau an der Spitze von Nature steht,
spiegelt wider, wie sich die Zeiten verändert ha-
ben. Und das halte ich für eine wichtige Botschaft.
ZEIT: In der Spitzenforschung sind Frauen immer
noch weniger präsent als Männer. Denken Sie da-
rüber nach, Artikel zu quotieren?
Skipper: Die Wissenschaft hat eindeutig Proble-
me mit Vielfalt, nicht nur in Bezug auf die Ge-
schlechterverhältnisse. Als Zeitschrift sind wir in
einer hervorragenden Position, um Veränderun-
gen anzustoßen. Wenn ein Artikel bei uns ein-
trifft, beurteilen wir ihn selbstverständlich unab-
hängig vom Geschlecht oder von der ethnischen
Zugehörigkeit der Autoren. Aber es gibt andere
Möglichkeiten, wie wir Einfluss nehmen können



  • beispielsweise durch die Auswahl der Gutachter.
    Wir organisieren auch regelmäßig Konferenzen
    und achten dabei sehr auf Diversität. »Manels«,
    also Panels, die nur mit Männern besetzt sind,
    gibt es bei uns nicht mehr. Ich persönlich lehne es
    mittlerweile ab, rein männliche Gesprächsrunden
    zu moderieren. Es gibt genug exzellente For-
    schung von Frauen und anderen unterrepräsen-
    tierten Gruppen. Ausreden können wir nicht
    mehr gelten lassen.
    ZEIT: Wissenschaftliches Publizieren hat sich
    durch das Internet grundlegend verändert – und
    diese Entwicklung ist noch nicht zu Ende. Wo
    sehen Sie Chancen, wo Risiken?
    Skipper: Es ist eine aufregende Zeit für alle, die in
    der Wissenschaftskommunikation arbeiten. So
    viele neue Formate und Werkzeuge für Forscher
    sind entstanden. In einer herkömmlichen, ge-
    druckten Zeitschrift war es zum Beispiel nicht
    möglich, von der Textoberfläche direkt in die Da-
    tensätze oder die Methodik einzutauchen. Online
    geht das. Das wirkt sich auch darauf aus, wie wir
    zukünftig veröffentlichen werden.
    ZEIT: Verschiebt sich die Darstellung von For-
    schungsergebnissen vom zweidimensionalen in
    den dreidimensionalen Raum?


Skipper: Auf jeden Fall! Wir denken seit gerau-
mer Zeit über den »Artikel der Zukunft« nach.
Der Begriff ist etwas missverständlich, besser
passt das Bild einer Wolke: Der einzelne Text-
beitrag sowie die dazugehörigen Daten, Codes,
Protokolle sind mit ein an der verknüpft und bil-
den ein wachsendes Netzwerk. Es entstehen mo-
dulare Forschungsobjekte.
ZEIT: Braucht man dafür noch Verlage?
Skipper: Es gibt Stimmen in der wissenschaft-
lichen Community, die argumentieren, dass künf-
tig alles durch Algorithmen gesichtet und ausge-
wertet wird – und deshalb keine Redakteure mehr
nötig seien. Ich bin anderer Meinung. Selbst in
einem weitverzweigten, digitalen Publikationssys-
tem hat das Kuratieren einen hohen Stellenwert.
ZEIT: Einige Nature-Artikel sind online frei ver-
fügbar, die Mehrheit verstecken Sie hinter der Be-
zahlschranke. Warum?
Skipper: Das ist richtig, die meisten wissenschaft-
lichen Beiträge, die in Nature veröffentlicht wer-
den, sind nicht frei verfügbar. Der Magazinteil
unseres Journals kann jedoch kostenfrei im Netz
gelesen werden. Natürlich wollen wir grundsätz-
lich, dass Forschung frei zugänglich ist. Wir haben
dafür ein Tool namens »SharedIt« entwickelt, das
das freie Teilen und Lesen von einzelnen Artikeln,
nicht aber deren Speicherung ermöglicht.
ZEIT: Wieso stellen Sie nicht komplett auf Open
Access um und machen die Forschung für die ge-
samte Öffentlichkeit kostenlos verfügbar?
Skipper: Darüber denken wir viel nach. Es ist aber
wichtig zu verstehen, wie Open Access finanziert
wird: Irgendjemand muss für die Veröffentlichung
der Artikel bezahlen – es sei denn, man stellt sie
ohne weitere Bearbeitung auf die eigene Web site.
Die Herausforderung liegt darin, dass nur etwa
sieben Prozent der bei Nature eingereichten Beiträ-
ge veröffentlicht werden. Trotzdem beschäftigt
sich unser Team mit jeder einzelnen Einreichung
und leitet bei rund 30 Prozent der Beiträge ein
Peer-Review-Verfahren ein.
ZEIT: Sie suchen Wissenschaftler, die den Artikel
methodisch und inhaltlich prüfen.
Skipper: Genau. Auch in die letztlich nicht veröf-
fentlichten Beiträge fließt also viel Arbeit. Wenn
wir trotzdem nur von den wenigen veröffentlich-
ten Autoren eine Gebühr verlangen würden, er-
schiene mir das nicht fair. Ich finde es gerechter,
die Kosten auf die breite Leserschaft umzulegen.
ZEIT: Viele Forscher fordern die Revolution: Sie
wollen das gesamte wissenschaftliche Pu bli ka-
tions we sen auf Open Access umstellen, und zwar
sofort. Eine gute Idee?
Skipper: Die Geschichte lehrt uns, dass Revolu-
tionen zu großen Turbulenzen führen können.
Ich würde immer für die Evolution votieren, also
für die Weiterentwicklung des Bestehenden. In
den Biowissenschaften etwa haben sich in letzter
Zeit sogenannte Preprints, die wir aus der Physik
schon seit gut zwanzig Jahren kennen, durch-
gesetzt.
ZEIT: Dabei werden noch nicht begutachtete Ma-
nuskripte vorab im Internet veröffentlicht.
Skipper: Das trifft auf große Begeisterung. Die
Wissenschaftler können auf diesem Wege schnel-
ler ihre Ergebnisse verbreiten, und das Feedback
ihrer Fachkollegen ist unmittelbarer als beim forma-
lisierten Peer-Review-Verfahren.

Magdalena Skipper, 49, auf dem Springer Nature Campus in London

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Das wöchentlich erscheinende
Fachjournal »Nature«, 1869 vom
Verleger Alexander Macmillan in
London gegründet, ist die
meistzitierte naturwissenschaftliche
Zeitschrift der Welt. 2017 wurden
10.768 Artikel eingereicht, 820 davon
veröffentlicht. Bahnbrechende Texte
wie »The Neutron« (1932) oder
»The Human Genome« (2001)
erschienen hier. Magdalena Skipper
wuchs in Polen auf und hat in
Cambridge in Genetik promoviert.
Sie leitet das Heft seit 2018; sie ist die
erste Frau in dieser Position.
Wie der Zeitverlag gehört auch
Springer Nature zur Verlagsgruppe
Georg von Holtzbrinck.

Das Magazin


60 CHANCEN 15. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 34


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