Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

Illustration: Martin Nicolausson für DIE ZEIT


Sprachlos in der Schule


Viele Kinder können bei der Einschulung kaum Deutsch. Der CDU-Politiker Carsten Linnemann forderte deshalb eine Vorschulpflicht und löste eine bundesweite Debatte aus.


Wie groß sind die Sprachdefizite tatsächlich, und wie lassen sie sich beheben? Zwölf Fragen und Antworten zum Thema VON JEANNETTE OTTO, ARNFRID SCHENK UND MARTIN SPIEWAK


Wie groß
ist das Problem?

Bislang gibt es keine bundesweiten Erhebungen, wie
gut Kinder bei der Einschulung Deutsch verstehen.
Klar ist jedoch: Das Problem ist nicht neu. Schon
2001 – gleich nach der ersten Pisa-Pleite – haben sich
die Kultusminister vorgenommen, die »Sprachkom-
petenz im vorschulischen Bereich« zu verbessern. Mil-
liar den sind seitdem in die Deutschförderung ge-
flossen, unter anderem für Tests und spezielle
Deutschkurse vor der Einschulung. Die Bundesregie-
rung legte ein Programm zur Sprachförderung in
Kitas auf. Fast 20 Jahre später wird deutlich, dass
diese Politik wenig erfolgreich war. In Berlin zeigte
sich bei Einschulungsuntersuchungen, dass 10,5
Prozent der Erstklässler nur fehlerhaft Deutsch spre-
chen, 6,9 Prozent so gut wie gar nicht. Selbst wenn
dieser Anteil in anderen Bundesländern nur halb so
hoch ist, ergäbe dies bundesweit eine Zahl von rund
50.000 Kindern, die so schlecht Deutsch sprechen,
dass sie dem Unterricht kaum folgen können.

Lernt man Deutsch
nicht in der Schule?

Wo sonst sollte ein Kind Deutsch lernen, wenn
nicht in der Grundschule? »Wir wissen seit Jahr-
zehnten, dass Kinder deutlich stärker in ihrer
Lern- und Sprachentwicklung profitieren, wenn
sie mit Gleichaltrigen in der Grundschule lernen«,
sagt Heinz Günter Holt appels, Schulentwick-
lungsforscher an der TU Dortmund. »Zurück-
stellungen führen nicht dazu, dass Schüler zu
Hause ›reifen‹, eher ist die Familie ein weniger
lernförderliches Umfeld, wenn Lernrückstände
vorliegen.« Dennoch schafft es die Grundschule
in zu vielen Fällen nicht, die Deutschdefizite, mit
denen die Kinder in die erste Klasse kommen,
vollständig auszugleichen. Die internationale
Grundschulstudie Iglu stellte fest: Kinder, bei de-
nen beide Eltern im Ausland geboren sind, liegen
gut ein Schuljahr hinter den durchschnittlichen
Schülerleistungen.
Die Folgen sind gravierend: für alle Fächer, für
die gesamte Schulkarriere. »Schlechte Deutsch-
kenntnisse sind die Hauptursache für schlechte
Noten und Schulabbruch«, sagt Margarita Stola-
rova vom Deutschen Jugendinstitut (DJI).

Warum können Lehrer nicht
besser helfen?

Lehrer lernen während ihrer Ausbildung oft nicht,
wie sie Kinder mit Sprachdefiziten unterstützen
können. Das zeigen Umfragen des Mercator-
Instituts für Sprachförderung an der Universität
Köln aus den Jahren 2012 und 2014. 70 Prozent
der befragten Lehrer gaben an, Schüler mit
Sprachförderbedarf zu unterrichten – aber nur je-
der zweite fühlte sich für den Umgang mit ihnen
qualifiziert.
Bei 68 Prozent der Befragten war »Deutsch als
Zweitsprache« nicht Teil der universitären Ausbil-
dung. Lediglich für acht Prozent gehörte es zum
Pflichtprogramm. Aus der Forschung weiß man
inzwischen auch, dass es wenig sinnvoll ist, die
Schüler mit Sprachdefiziten für längere Zeit aus
dem regulären Unterricht zu nehmen und separat
zu beschulen. Wirkungsvoller ist eine in den nor-
malen Unterricht integrierte Sprachförderung,
und zwar in allen Fächern, nicht nur in Deutsch.
Verschärft wird das Problem durch den Lehrer-
mangel. Er trifft Schulen in Brennpunktvierteln
besonders hart, nur die wenigsten Uni-Absolven-
ten bewerben sich dort. Quereinsteiger sollen nun
die Lücken füllen, von Sprachförderung haben sie
noch weniger Ahnung.

Sollten mehr Lehrer selbst
Migranten sein?

Die Idee ist naheliegend: Pädagogen, die selbst als
Kind Deutsch neben ihrer Muttersprache gelernt
haben, sollten besonders geeignet sein, anderen
Migrantenkindern Deutsch beizubringen. Schließ-
lich stammen rund 37 Prozent der Erstklässler aus
einer Einwandererfamilie, bei den Lehrern sind es
nur sechs Prozent. Die Vorstellung, dass Migran-
tenlehrer für Migrantenschüler besonders hilf reich
sind – als Vorbilder, die es selbst geschafft haben,
als Brückenbauer in die Familien –, hat sich in der
Realität jedoch als Trugschluss erwiesen.
So zeigen Studien des Bildungswissenschaftlers
Martin Neugebauer von der FU Berlin, dass weder
die Lernleistungen noch die Noten der betroffe-
nen Schüler besser sind, wenn ein Lehrer mit tür-
kischen, russischen oder arabischen Wurzeln vor
der Klasse steht. Ähnlich die Ergebnisse in der
Kita: Auch hier erwies sich die Herkunft der Erzie-
her, was die Sprachfortschritte der Kinder angeht,
als »irrelevant«, wie es in einer Untersuchung
heißt. Multikulti im Kollegium mag aus vielen
Gründen gut sein, fürs Deutschlernen hat es keine
Vorteile – Nachteile aber auch nicht.

Wie viele Migranten
dürfen in eine Klasse?

Vor zwei Jahren forderte die damalige Bundesbil-
dungsministerin Johanna Wanka, die Anzahl von
Kindern mit Migrationshintergrund in den Schulen
zu begrenzen. Es dürfe keine Klassen geben, in denen
ein hoher Anteil von Einwandererkindern dazu führe,
dass sich Schüler vorwiegend in ihrer Muttersprache
unterhielten. Der Philologenverband brachte darauf-
hin einen Richtwert von 35 Prozent ins Spiel – ein
noch höherer Migrantenanteil würde die Leistungen
aller Schüler verschlechtern. Dabei ist der die Debat-
te prägende Begriff der »Migrantenquote« irrefüh-
rend. Migrationshintergrund hat ein Schüler dann,
wenn er selbst oder ein Elternteil nicht mit deutscher
Staatsbürgerschaft geboren wurde. Auf mehr als jedes
dritte Kind in Deutschland trifft das zu. Der Begriff
sagt nichts darüber aus, wie gut oder schlecht jemand
Deutsch spricht.
Um von vornherein einen zu hohen Migranten-
anteil zu vermeiden, sollten Schulen in Problem-
vierteln so attraktiv gemacht werden, dass auch her-
kunftsdeutsche Eltern ihre Kinder dort einschulen.

Wer profitiert von der
Ganztagsschule?

Große Hoffnungen waren mit dem Auf- und Aus-
bau der Ganztagsschulen verbunden: mehr Zeit
für individuelle Förderung, mehr Deutsch, gerech-
tere Bildungschancen. Wenig wurde davon bislang
erreicht. Zwar sind inzwischen zwei Drittel der
deutschen Schulen ganztägig organisiert, aber das
hilft vor allem Eltern, die Betreuungslücke am
Nachmittag zu schließen, nicht aber die Lernrück-
stände von Schülern aufzuholen. Die meisten
Ganztagsschulen sind freiwillig, am Vormittag ha-
ben die Lehrer das Sagen, am Nachmittag sind
Erzieher für Spaß und Spiel zuständig. Zusätzliche
Sprachförderung nach Schulschluss? In vielen Fäl-
len Fehlanzeige. Im letzten Bericht der Studie zur
Entwicklung der Ganztagsschulen (StEG) wird
deutlich, dass gerade die offene Ganztagsschule
ihre pädagogischen Möglichkeiten nicht ausnutzt:
An etwa einem Drittel der Grundschulen gehöre
die Erweiterung der Lernkultur nicht zum Kon-
zept. Klar wurde auch, dass viele Lehrer die Idee
der Ganztagsschule nicht unterstützen.

Wa s bring t
das Gute-Kita-Gesetz?

Nicht unbedingt mehr Qualität. Bund und Län-
der haben die Chance verpasst, mit diesem Gesetz
längst überfällige Qualitätsstandards einzuführen,
die für alle Kitas im Land hätten verbindlich sein
können – etwa bei der Sprachförderung. Verspro-
chen sind nun insgesamt 5,5 Mil liar den Euro, die
die Länder bis 2022 vom Bund bekommen sollen.
Sie dürfen selbst entscheiden, wofür sie diese Mit-
tel nutzen.
Elf der 16 Bundesländer planen, die Eltern-
beiträge zu reduzieren oder ganz abzuschaffen –
was hauptsächlich der Mittelschicht nutzt. Meck-
lenburg-Vorpommern zum Beispiel wird das ge-
samte Geld vom Bund für eine komplett beitrags-
freie Kita verwenden. Und das, obwohl das Land
den schlechtesten Betreuungsschlüssel bundesweit
hat, hier also besonders viele Kinder von einer
Erzieherin betreut werden. Baden-Württemberg
dagegen hält nichts von der allgemeinen Beitrags-
freiheit und will von den Bundesgeldern 660 neue
Personalstellen schaffen. Im günstigsten Fall heißt
das: mehr Erzieher, mehr Kommunikation, bes-
sere Sprachkenntnisse.

Welche Konsequenzen haben
Sprachtests?

Tatsächlich prüfen viele Bundesländer vor der Ein-
schulung, wie gut Kinder Deutsch sprechen. Von
»bundesweiten, flächendeckenden Sprachstands-
erhebungen bei Drei- und Vierjährigen«, wie sie
Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen
Lehrerverbandes, fordert, kann jedoch keine Rede
sein. Vielmehr geht jedes Land seinen eigenen
Weg. Mal werden, wie in Hessen, sämtliche
Kinder eines Jahrgangs getestet, mal, wie in
Rheinland-Pfalz, nur solche, die keinen Kinder-
garten besuchen. Mal nehmen Lehrer die Deutsch-
tests ab, mal überprüfen Erzieher die Sprach-
fähigkeit der Kinder. Nordrhein-Westfalen und
Thüringen verzichten weitgehend oder völlig auf
eine Sprachprüfung.
Was aber folgt aus den Sprachtests? Mit wel-
chen Konsequenzen die Bundesländer auf die
Test ergeb nis se reagieren, variiert ebenfalls stark. In
Hessen spricht die Behörde eine Lern-Empfehlung
für einen Sprachkurs aus (der die große Mehrzahl
der betroffenen Kinder folgt). In Hamburg müs-
sen alle Kinder, die schlecht Deutsch sprechen,
verpflichtend ein Sprachprogramm in einer Vor-
schule besuchen. De facto wird die Schulpflicht
damit um ein Jahr vorgezogen.

Erreicht die Kita genügend
Kinder?

Je früher Kinder Deutsch lernen, desto besser. Die
Kita könnte also viel bewirken, denn sie erreicht den
Großteil der Kinder vor der Einschulung. 99 Prozent
der Kinder ohne Migrationshintergrund besuchen im
Alter von 3 bis 6 Jahren eine Kita. Bei den Kindern
mit Migrationshintergrund sind es in dieser Alters-
gruppe 82 Prozent. Das zeigen die neuesten Zahlen
der Kinder- und Jugendhilfestatistik 2018. In den für
den Spracherwerb bedeutenden Jahren davor ist die
Quote geringer: Nur 20 Prozent der unter Dreijähri-
gen mit Migrationshintergrund besuchen eine Kita.

Wie verbessert die Kita die
Sprache?

Ein Kita-Besuch bleibt nicht wirkungslos. So sprachen
von Schulanfängern in Berlin, die mindestens zwei
Jahre in einer Kita gewesen waren, 4,5 Prozent kaum
oder gar nicht Deutsch – bei denen ohne Kita-Besuch
waren es 74,3 Prozent. Ohne den massiven Ausbau
der Kita-Plätze wäre das Sprachproblem also wahr-
scheinlich noch größer. Dennoch haben zu viele Erst-
klässler auch nach mehreren Jahren Kita nicht so gut
Deutsch gelernt, dass sie dem Unterricht ohne Pro-
bleme folgen können. Gründe dafür gibt es viele. Die
Kita-Gruppen sind für eine gezielte Sprachförderung
oft zu groß, und die meisten Erzieherinnen haben
nicht gelernt, wie sie im Alltag funktioniert. Statt an-
spruchsvoller Sätze gebrauchen sie einfache Wendun-
gen, im Glauben, die Kinder würden sie dann besser
verstehen. Genau das aber ist wenig hilfreich. Hinzu
kommt: Rund ein Drittel der Kinder, die zu Hause
nicht Deutsch sprechen, besuchen eine Kita, in der
die Mehrzahl ebenfalls nicht Deutsch spricht.

Weiß man, welche Förderung
wirkt?

Auch nach bald 20 Jahren ist unklar, welche Sprach-
förderung am besten wirkt – die meisten Programme
wurden niemals evaluiert. »Wir wissen nur, was nicht
funktioniert«, sagt Margarita Stolarova vom DJI.
Wenig zielführend sind kurze, formale Kurse, in denen
die Kinder Deutsch wie eine Fremdsprache lernen –
mit Erwachsenen, die die Kinder häufig nicht kennen.
Ebenso darf die Förderung nicht zu spät einsetzen,
also wie in einigen Bundesländern erst im Alter von
fünf Jahren. Dann ist die Sprachentwicklung eines
Kindes in ihren Grundzügen abgeschlossen. Statt-
dessen fordern Experten eine Sprachförderung quasi
nebenher: beim Windelnwechseln, im Sandkasten,
beim Fußballspielen. Die Erzieherin muss ihre Hand-
lungen mit Worten begleiten, das Kind korrigieren,
ohne es zu belehren. Neben diesem »alltagsintegrier-
ten Ansatz« ist es sinnvoll, einzelne Kinder in kleinen
Gruppen mehrmals die Woche noch intensiver mit
der deutschen Sprache zu konfrontieren, etwa indem
man ihnen vorliest oder ein Rollenspiel einübt und
so ihren Wortschatz gezielt erweitert.

Siehe auch Entdecken, S. 49: Meine Deutschstunde

Welche Rolle
spielen die Eltern?

Bildungsforscher empfehlen, dass die Eltern die
Sprache mit ihren Kindern sprechen, die sie selbst
am besten beherrschen. Eine Langzeitstudie in
den Niederlanden ergab, dass es Einwandererkin-
dern, denen die Eltern regelmäßig in der Mutter-
sprache vorlasen, deutlich leichter fiel, Niederlän-
disch zu lernen.
Entscheidender aber als die Sprache, die zu
Hause gesprochen wird, ist der sozioökonomische
Status der Familie, sind also Bildung und Wohl-
stand.


  1. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 34 CHANCEN 61

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