Die Welt Kompakt - 08.08.2019

(Michael S) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DONNERSTAG,8.AUGUST2019 POLITIK 9


bringen sie rumänische Fahrer
(meistens mit sehr geringem Ein-
kommen) nach Budapest. Dort
werden sie in kleine Gruppen
von zwei bis drei Leuten aufge-
teilt und mit öffentlichen Ver-
kehrsmitteln weitergebracht
über Sopron und Hegyeshalom
nach Österreich. ... Dafür zahlen

über Sopron und Hegyeshalom
nach Österreich. ... Dafür zahlen

über Sopron und Hegyeshalom

Afghanen 3000 bis 3500 und Ira-
ner 4500 bis 6000 Euro.“

*
„Migranten auf dem griechischen
Festland reisen in den Nordwes-
ten des Landes mit öffentlichen
Verkehrsmitteln und überqueren
zu Fuß die Grenze nach Albanien.
Sie stellen dort einen Asylantrag,
was ihnen gestattet, sich in Alba-
nien frei zu bewegen; dann über-
queren sie die Grenze nach Mon-
tenegro. Sie stellen dort mögli-
cherweise erneut einen Asylan-
trag und können sich dann auch
in Montenegro frei bewegen.
Dann überqueren sie die Grenze
nach Bosnien-Herzegowina und
ziehen weiter nach Kroatien (EU-
Land). Diese Route wird vor al-
lem von albanischen und kosova-
rischen Schleusern betrieben.“

*
„Verschiedene Veröffentlichun-
gen, die einen Bericht des Bun-
desnachrichtendienstes (BND)
zitierten, gaben an, dass die Wan-
derung von nigerianischen
Flüchtlingen von Italien nach
Deutschland wahrscheinlich zu
einem unkontrollierten Anstieg
von ‚extrem gefährlichen gut or-
ganisierten nigerianischen Kri-
minalitätsstrukturen‘ führt.“

*
„Fünf nigerianische Schmuggler
wurden am 14. Februar von der

Polizei in Catania (Italien) ver-
haftet. Die Verhaftung ging auf
die Zeugenaussagen einer Min-
derjährigen zurück, die zuvor de-
ren Schmugglerdienste in An-
spruch genommen hatte. Sie
wurde dann zur Prostitution ge-
zwungen unter der Drohung,
dass ansonsten bei ihr Voodoo-
Praktiken angewendet würden.“

*
„Die Migranten (staatenlose Pa-
lästinenser) wurden von einem
Menschenschmugglerring in Bei-
rut (Libanon) unterstützt. Diese
Leute setzten die Migranten auf
die Route Beirut–Adis Abeba
(Äthiopien)–São Paulo (Brasi-
lien)–Lima (Peru)–Quito (Ecua-
dor)–Curaçao–Amsterdam. Preis
für jeden Passagier: 5000 US-
Dollar. Andere Migranten kamen
aus Mexiko City und San Jose
(Costa Rica) nach Amsterdam. ...
Die lateinamerikanische Route
wird von Schmugglern favori-
siert, weil staatenlose Palästi-
nenser in vielen Ländern Süd-
amerikas kein Visum benötigen.“

*
„Im Jahr 2018 gab es einen An-
stieg bei der Überquerung von
Grenzen in der Luft. ... Die am
meisten genutzten Flugrouten
mit Blick auf Asylanträge sind:
Casablanca (Marokko) nach Ma-
drid und Paris. Istanbul nach
Frankfurt/M. und andere EU-Zie-
le. Von Kutaisi (Georgien) zu ver-
schiedenen EU-Flughäfen. Von
Tirana (Albanien) zu italieni-
schen Flughäfen. Von Athen,
Thessaloniki, Heraklion zu ver-
schiedenen EU-Flughäfen. Von
italienischen und spanischen Re-
gionalflughäfen zu britischen
und irischen Flughäfen.“

FFFür viele ist der Menschen-ür viele ist der Menschen-
schmuggel ein lukratives
Geschäft. Die Schlepper ver-
langen Tausende Euro für die
Reise nach Europa

AFP

/ PAVEL VITKO

W


enn Bruno D., SS-
Schütze in der 1.
Kompanie des Toten-
kopfsturmbanns auf dem Wach-
turm stand, war er vom Tod in
all seinen Facetten umgeben. Er
konnte die Rauchsäulen der
Scheiterhaufen sehen, auf de-
nen die Leichen ermordeter
Häftlinge im KZ Stutthof, etwa
4 0 Kilometer östlich von Dan-
zig, verbrannt wurden. Er wuss-
te wohl, dass das Gebäude unter
ihm die Gaskammer war, in der
nicht mehr arbeitsfähige Gefan-
gene mit Zyklon B erstickt wur-
den. Und er kannte den Block
2 9/30, den sogenannten Todes-
block. Dort wurden die Juden
ermordet, indem man ihnen
Nahrung, Wasser und medizini-
sche Hilfe verweigerte. Minde-
stens 5000 Menschen starben
dort auf Strohlagern, die von
Exkrementen und Eiter durch-
tränkt waren.

VON PER HINRICHS

So jedenfalls steht es in der
Anklage der Staatsanwaltschaft
Hamburg. Sie hatte Bruno D. im
April angeklagt. Nun hat die zu-
ständige Kammer des Landge-
richts Hamburg entschieden,
das Verfahren zu eröffnen. Sie
will am 17. Oktober mit der Ver-
handlung beginnen. Also muss
sich Bruno D. jetzt, am Ende sei-
nes Lebens, mit dem Vorwurf
der Beihilfe zum Mord an min-
destens 5230 Menschen ausein-
andersetzen. Damit könnte im
Herbst einer der letzten NS-
Prozesse in Deutschland begin-
nen. Vom 9. August 1942 bis zum
2 6. April 1945, dem Tag der Eva-
kuierung des Lagers, versah B.
dort seinen Dienst.
Der frühere Wachmann hat
sich im vergangenen Jahr in Ver-
nehmungen ausführlich einge-
lassen und zugegeben, Hunder-
te Leichen gesehen und auch
Schreie aus der Gaskammer ge-
hört zu haben. Viele Menschen
seien an Krankheiten gestorben,
und er habe aus Erzählungen ge-
wusst, dass Frauen vergast wor-
den seien.
Konkrete Taten wirft ihm
Oberstaatsanwalt Lars Mahnke
in seiner 79-seitigen Anklage-
schrift nicht vor. Doch allein
durch seine Zugehörigkeit zur
WWWachmannschaft sei er ein klei-achmannschaft sei er ein klei-
nes Rädchen in der Tötungsma-
schine gewesen, die das KZ
Stutthof war. Das Argument der
Ankläger: Ohne die bewaffneten
AAAufpasser, die Fluchtversucheufpasser, die Fluchtversuche
verhindern oder aufhalten soll-
ten, wären die Verbrechen im
Lager nicht möglich gewesen.
Und die „Sicherung des Häft-
lingslagers“ gehörte dem Histo-
riker Stefan Hördler zufolge
nicht nur zu den wichtigsten
WWWachaufgaben des Postens, son-achaufgaben des Postens, son-
dern war Grundvoraussetzung
fffür das Funktionieren des KZs.ür das Funktionieren des KZs.

Hördler hat die Arbeit der SS-
WWWachmänner recherchiert undachmänner recherchiert und
in einem Gutachten festgehal-
ten. Er wird im Prozess auftre-
ten und war bereits im Stutthof-
VVVerfahren von Münster 2018 alserfahren von Münster 2018 als
Sachverständiger geladen. Ihm
zufolge gab es zwei Postenket-
ten, die sich um das Lager leg-
ten. Wachmänner geleiteten
Häftlinge zu ihrer Arbeit, be-
wachten die Außenkommandos,
sicherten die Wachtürme und
ankommende Transporte. Sie
hielten Gefangene auch bei Se-
lektionen und beim Abtransport
in Vernichtungslager in Schach.
Regelmäßig nahmen sie an ideo-
logischen Schulungen teil und
absolvierten Schießtrainings.
AAAus dem KZ Dachau sind dieus dem KZ Dachau sind die
WWWachvorschriften für SS-Ange-achvorschriften für SS-Ange-
hörige erhalten geblieben. Sie
dürften in allen KZ angewandt
worden seien. Dort finden sich
unter anderem folgende Anwei-
sungen: Aufgabe des Postens ist
insbesondere, jede geplante
Flucht oder gewaltsame Befrei-
ung der Lagerinsassen zu ver-
hindern, sowie Revolten mit
allen Mitteln zu begegnen.
„„„Wenn nötig, ist von der Schuss-Wenn nötig, ist von der Schuss-
waffe Gebrauch zu machen.“ –
„„„Wer versucht, den Kopf zu he-Wer versucht, den Kopf zu he-
ben und so Anzeichen von
Flucht ahnen lässt, wird sofort
erschossen.“
Mit Blick auf die Frage der
Schuld erscheint Hördlers Re-
cherche wichtig, wonach sich je-
der Wachmann versetzen lassen
konnte – indem er sich an die
Front meldete. Wer also nicht
mitmachen wollte, konnte dem-
nach das Lager verlassen. Denn
der Dienst an der Kriegsfront
spiegelte das heroische Bild des
SS-Soldaten besser als der
Dienst im Konzentrationslager.
Die Historikerin Janina Gra-
bowska-Chalka beschrieb in ih-
rem 2004 erschienen Buch
„Stutthof. Historischer Wegwei-
ser“ die erschütternden Zustän-
de im Lager, in dem D. arbeitete.
Sämtliche Gefangenen, Frauen,
Alte und Kinder waren zur Ar-
beit verpflichtet. Schwere, die
menschlichen Kräfte überstei-
gende Arbeit bestimmte den
Rhythmus von Leben und Tod
im Lager, so die Autorin. Die Le-
bensbedingungen waren darauf
ausgerichtet, die Menschen auf
schnellstem Wege zum psychi-
schen Zusammenbruch und Er-
schöpfung ihrer körperlichen
Kräfte zu bringen.
Die Häftlinge wohnten in
Holzbaracken und teilten sich
einen Raum von etwa 50 Qua-
dratmetern mit 150 bis 200
Menschen. Hunger und Durst,
Hitze und Kälte schwächten die
Menschen und führten viele in
den Wahnsinn. Als im Novem-
ber 1944 eine Typhus-Epidemie
ausbrach, gingen die Erkrankten
elendig zugrunde. Bis zu 5000
sollen es gewesen sein.

Die Überlebende Judy Meisel
erinnert sich an ihre Zeit im La-
ger, sie tritt als Nebenklägerin
Hamburger Verfahren auf. „Es
war schlimmer als im Getto, es
ging jetzt nur noch ums nackte
Ü

ing jetzt nur noch ums nackte
Ü

ing jetzt nur noch ums nackte
berleben“, sagt sie. Bei der
Ankunft rissen SS-Männer ihr
die Haare aus, sie blutete am
ganzen Kopf. Ein Mann brach
die goldenen Kronen aus dem
Gebiss ihrer Mutter, das Blut
lief ihr aus dem Mund. „So stan-
den wir nebeneinander, blutver-
schmiert, gedemütigt und zu
Tode verängstigt“, sagt Judy
Meisel.
Die SS-Männer schwingen
sich zu Herren über Leben und
Tod auf, nehmen sich das Recht,
zu foltern, zu schlagen und zu
morden. „Sie haben mir alle Fin-
gernägel herausgerissen. Es hat
Jahre gedauert, bis sie wieder da
waren“, sagt Meisel. Sie sieht,
wie die Deutschen Babys mit
dem Kopf an die Wand schlagen,
bis sie tot sind. Sie sieht, wie ih-
re eigene Mutter in die Gaskam-
mer geführt wird, am 21. No-
vember 1944, kurz bevor die Ro-
te Armee das Lager befreit.
Bruno D. war auf der anderen
Seite, ein Mann in einer SS-Uni-
ffform mit einem Gewehr um denorm mit einem Gewehr um den
Hals. Aber war er auch ein Peini-
ger, ein Unmensch? Ankläger
Mahnke sieht in Bruno D. zwar
keinen glühenden Verehrer der
NS-Ideologie. Er habe sich auf
der anderen Seite aber nie für
die Verfolgten eingesetzt und
vielmehr geglaubt, er könne die
Zeit überstehen, indem er sich
wie ein Einzelgänger verhalte,
der Befehle einfach ausführe
und sich im Übrigen aus der Sa-
che heraushalte.
AAAuf Nachfragen aber erinner-uf Nachfragen aber erinner-
te sich Bruno D. an einzelne Tö-
tungen. „Ich hab’ da mal von
Ferne diese Schreie gehört“,
sagte er zu den Morden in der
Gaskammer, bei denen die Ge-
fffangenen erst nach etwa zehnangenen erst nach etwa zehn
bis 30 Minuten tot waren und
vorher um ihr Leben schrien
und kämpften.
Die Morde an den Juden in
Stutthof hatten „ohne Zweifel“
verbrecherischen Charakter,
schreibt Oberstaatsanwalt
Mahnke, und Bruno D. habe das
erkannt. Am 6. Juli 2018 sagte er
in der Vernehmung: „Ich wusste
wohl, dass das Juden waren, die
keine Verbrechen begangen ha-
ben. Dass die nur dort drin wa-
ren, weil es Juden waren. Und
die haben genauso ein Recht, zu
leben und frei zu arbeiten, wie
jeder andere Mensch.“
Insgesamt ermordeten die
Deutschen etwa 65.000 Men-
schen in Stutthof, etwa 70 Pro-
zent davon waren Juden.
Das Gericht will wegen der
angegriffenen Gesundheit Bru-
no D.s an zwei Tagen in der Wo-
che für etwa zwei Stunden ver-
handeln.

Einer der letzten NS-Prozesse


Das Landgericht Hamburg hat das Verfahren gegen den ehemaligen
SS-Mann Bruno D. eröffnet. Vorwurf: Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen

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