Handelsblatt - 31.07.2019

(Steven Felgate) #1

Thorsten Hofmann


„Es wäre fatal,


Drohungen


nachzugeben“


Der Verhandlungsexperte Thorsten
Hofmann berät Unternehmen, Verbän-
de und Politiker. Er rät der EU, sich von
den Provokationen Johnsons nicht be-
eindrucken zu lassen.

Herr Hofmann, kann Provokation eine
erfolgreiche Verhandlungstaktik sein?
Provokation kann eine erfolgreiche
Taktik sein, wenn man damit versucht,
die Abhängigkeit der Gegenseite zu tes-
ten. Die Situation ist ja so: Zwei Partei-
en haben an einem Gegenstand unter-
schiedliche Interessen und wissen,
dass sie das Ziel nur gemeinsam errei-
chen. Daraus ergibt sich eine gegensei-
tige Abhängigkeit. Johnson versucht,
von der EU eine Reaktion zu provozie-
ren, um zu sehen, was die EU bereit ist
zu tun, um einen harten Brexit zu ver-
meiden.

Johnson wird etwas Vorzeigbares mit
nach Hause bringen müssen. Sonst ver-
spielt er Vertrauen.
Johnsons Vorgehen hat extremste Risi-
ken, das passt aber zu seinem Wesen.
Er hat einen großen Selbstbezug, alles
dreht sich um ihn, deshalb kann man
bei ihm eindeutig von Narzissmus spre-
chen. Ich würde bezweifeln, dass es
ihm um die Interessen seines Lan-
des geht. Sein ganzes Leben war
danach ausgerichtet, in dieses
Amt zu kommen. Durch sein
Verhalten hat er die Beziehun-
gen zur EU bereits nachhaltig
verschlechtert. Das macht es
schwierig, wieder in die Ver-
handlung hineinzukommen.
Johnsons Problem ist: Er hat zu
Hause so viel versprochen, dass er et-
was liefern muss. Es ist jedoch nicht
das Problem der EU, wenn das Ergeb-
nis der Verhandlungen in Großbritan-
nien nicht akzeptiert wird.

Was würden Sie der neuen Kommissi-
onschefin Ursula von der Leyen raten,
wie sie mit so einem Mann verhandeln
sollte?
Von der Leyen muss vorsichtig sein,
welche Signale sie sendet. Sie hat ge-
sagt, dass sie bereit wäre, das Austritts-
datum noch einmal zu verschieben.
Das ist insofern problematisch, als sich
die EU schon auf ein Ultimatum geei-
nigt hatte. Außerdem sollte von der
Leyen die Hauptebene der Verhandlun-
gen dort belassen, wo sie bisher war –
nämlich bei EU-Chefunterhändler Mi-
chel Barnier. Ebenfalls fatal wäre es,
Johnsons Provokationen und Drohun-
gen nachzugeben.

Was würde dann passieren?
Wenn Johnson Schwäche wittert, wird
er nachsetzen und dieses Muster im-
mer wieder anwenden. Im Umgang mit
einer Person wie Johnson ist Unnach-
giebigkeit besonders wichtig.

Die Fragen stellte Christian
Rothenberg.

Wenn die EU im Umgang mit


Boris Johnson Schwäche zeigt,


wird Johnson dies ausnutzen,


sagt der Berater.


Kerstin Leitel London


E


rst Schottland, dann
Wales: Der neue Premier-
minister Boris Johnson ist
derzeit auf großer Tour
durch das Vereinigte Kö-
nigreich. Europäische Städte stehen
nicht auf der Reiseroute des briti-
schen Regierungschefs – und das ist
ungewöhnlich. Nicht nur, weil frühe-
re Premiers das zu tun pflegten, son-
dern auch, weil Großbritannien am


  1. Oktober aus der EU ausscheidet.
    Wenn bis dahin nicht der von
    Johnsons Vorgängerin ausgehandelte
    Brexit-Deal angenommen oder eine
    Alternative vereinbart wurde, wird
    das zu einem ungeordneten Brexit
    führen, vor dessen Folgen sich viele
    auf beiden Seiten des Kanals fürch-
    ten. Eine Regierungssprecherin
    machte klar, dass der Premier nicht
    vorhabe, für Verhandlungen nach
    Europa zu fahren, solange von dort
    keine Signale kommen, dass man zu
    Zugeständnissen bereit ist. „Wir stre-
    ben keinen No-Deal-Brexit an“, sagte
    Johnson laut britischen Medien in
    Wales. „Wir denken nicht, dass wir
    da landen werden. Aber das liegt
    hauptsächlich an unseren Freunden
    und Partnern auf der anderen Seite
    des Kanals.“
    Auch bei seinem ersten Telefonat
    mit dem irischen Premierminister
    wich Johnson nicht von dieser Linie
    ab: Er werde die Verhandlungen „mit
    Entschlossenheit, Energie und im
    Geiste der Freundschaft“ angehen,
    versicherte Johnson Leo Varadkar am
    Dienstag. Er würde es bevorzugen,
    die EU mit einem Deal zu verlassen –
    aber dafür müsse die Regelung zur
    Vermeidung einer Grenze auf der iri-
    schen Insel gestrichen werden.
    Dass der Brite so unverhohlen For-
    derungen in Richtung EU äußert,


noch bevor er den ersten Antrittsbe-
such auf dem europäischen Konti-
nent gemacht hat, dürfte dort auf Be-
fremden stoßen – wenngleich man
von Johnson bereits aus dessen Zeit
als Außenminister viel gewohnt ist.
Es sei ganz offensichtlich, dass der
neue Premier versuche, den Druck
auf die EU zu erhöhen, sagt Brexit-Ex-
pertin Georgina Wright vom Londo-
ner Thinktank Institute for Govern-
ment dazu. Sie zweifelt jedoch daran,
dass diese Strategie Wirkung zeigt.
Schließlich hat Brüssel bislang nicht
erkennen lassen, dass man dort auf
Forderungen aus London eingehen
will. Ihrer Meinung nach könnte
Johnson auch noch abwarten wollen,
wie seine Partei auf die neue Situati-
on reagiert. „Gut möglich, dass er
erst die verschiedenen Optionen mit
seinen Abgeordneten besprechen
will, bevor er nach Brüssel geht“, sagt
Wright. „Ich würde erwarten, dass
die Gespräche mit der EU erst im
September ernsthaft beginnen und es
im Oktober in die entscheidende Pha-
se geht.“
Derzeit sind viele Briten im Urlaub,
das Parlament tagt erst wieder im
September. Jüngsten Umfragen zufol-
ge kommt Johnsons Hardlinerkurs
immerhin bei Wählern gut an, und
immer mehr Experten halten baldige
Parlamentswahlen für möglich. Die
Regierung treibt die Vorbereitungen
auf einen ungeordneten Brexit voran.
„Wir werden am 31. Oktober die EU
verlassen. Ohne Wenn. Ohne Aber.
Keine weiteren Verzögerungen. Der
Brexit kommt“, hatte Johnsons rech-
te Hand Michael Gove, der von John-
son mit den No-Deal-Vorkehrungen
betraut wurde, kurz nach seiner Er-
nennung als Motto ausgeben. „Ein
No-Deal-Brexit ist jetzt eine sehr reale

Möglichkeit.“ Um Bürger und Unter-
nehmen vorzubereiten, will Finanz-
minister Sajid Javid eine Milliarde
Pfund bereitstellen.

Pfundkurs sinkt


Die Märkte versetzte das in Alarm-
stimmung. Am Dienstag kostete das
Pfund Sterling zeitweise 1,2117 Dollar
und damit so wenig wie seit Mitte
März 2017 nicht mehr. Dass sich die
Währung in Kürze nachhaltig erholt,
halten Experten für unwahrschein-
lich, zumal Wirtschaftsvertreter ein-
dringlich vor den Konsequenzen ei-
nes ungeordneten EU-Ausstiegs war-
nen. Weder Großbritannien noch die
EU seien auf dieses Szenario ausrei-
chend vorbereitet, hatte der britische
Unternehmerverband CBI mitgeteilt.
Ohnehin seien nicht alle negativen
Folgen zu verhindern. „Es ist, als ob
man sein Haus mit Sandsäcken auf ei-
ne Flut vorbereitet“, sagte CBI-Vertre-
terin Nicole Sykes. „Ihre Küche wird
dennoch unter Wasser gesetzt, aber
vielleicht können wir die Schlafzim-
mer im ersten Stock retten.“
Nicht zuletzt der Blick auf den
Pfund-Kurs, der viele urlaubsfreudige
Briten verärgerte, dürfte Johnson dazu
bewegt haben, die Wogen wieder et-
was zu glätten. Er werde seine „Hand
ausstrecken“ und sich sehr bemühen,
einen neuen Deal auszuhandeln, er-
klärte er vor seiner Reise. Doch bevor
er ankam, schlug ihm von dort, wie
bereits in Schottland, deutliche Kritik
entgegen. Der Brexit sei eine Katastro-
phe für die Region, erklärte deren Re-
gierungschef Mark Drakeford. Wales
ist stark von der Landwirtschaft ab-
hängig – die einen Großteil der Waren
in die EU exportiert.


Leitartikel, Porträt Seiten 14, 47



Großbritannien


Auf die harte Tour


Der neue Premier wirbt im Vereinigten Königreich um


Sympathie – die Partner in der EU brüskiert er.


Boris Johnson
in der Downing
Street: Das Amt
wirkt nicht mä-
ßigend auf den
neuen Premier-
minister.

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Die Hoffotografen

Wirtschaft & Politik


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MITTWOCH, 31. JULI 2019, NR. 145


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