Andreas Schleicher
„Das System
ist nicht
effizient“
Der Bildungsexperte der OECD, Andre-
as Schleicher, sieht die deutsche Debat-
te ums Zentralabitur gelassen.
Herr Schleicher, Deutschland streitet
übers Zentralabitur – wie sieht es inter-
national aus?
Sehr unterschiedlich. In den USA gibt
es gar kein Abi, dort machen Universitä-
ten dann Aufnahmeprüfungen. Frank-
reich hat schon immer ein Zentralabi-
tur. Es macht Sinn, auf das eine oder
das andere zu setzen. Die Abiturnote ist
jedoch weit aussagekräftiger, sie spie-
gelt einen langen kumulativen Prozess –
eine Aufnahmeprüfung ist sehr kurz
und abhängig von Tagesform und
auch Glück, also eine Notlösung!
Das deutsche Modell eines Zen-
tralabiturs auf Länderebene ist
sehr selten.
Was spricht gegen das deutsche
föderale Modell?
Das Problem ist, dass das Abitur zwar
innerhalb der Bundesländer vergleich-
bar ist, aber nicht zwischen den Län-
dern, aber dennoch bundesweit zum
Studium berechtigt. Das ist ungerecht,
denn Schüler aus Ländern mit schwere-
rem Abitur werden systematisch be-
nachteiligt. So werden Ressourcen ver-
schwendet. Wenn man sicherstellen
will, dass die besten Studienplätze an
die besten Bewerber fallen, muss der
Maßstab vergleichbar sein – das jetzige
System ist also nicht effizient.
Vor allem Bayern fürchtet, das dortige
angeblich besonders hohe Niveau des
Abiturs werde in einer zentralen Lö-
sung nach unten gezogen.
Das Problem ist leicht lösbar, wenn
man das bayerische Modell bundesweit
ausdehnt. Hauptsache, man macht die
Unterschiede, die es ja gibt, für jeden
sichtbar. Letztlich ist es aber egal, man
könnte auch das Bremer Abitur für alle
nehmen – denn am Ende geht es immer
um die Verteilung der Bewerber auf ei-
ne begrenzte Zahl von Studienplätzen.
Viele klagen, das Abitur sei generell
weniger wert als vor 20 oder 30 Jahren.
Das ist eine sehr spannende Frage, die
wir aber empirisch nicht klären kön-
nen, weil das Abitur über die Jahre lei-
der nicht direkt vergleichbar ist. Es gibt
aber Indizien, dass es so ist: Denn wäh-
rend die Abiturnoten tendenziell deut-
lich besser geworden sind, haben sich
die Pisa-Ergebnisse der 15-Jährigen
nicht verbessert.
Was empfehlen Sie Deutschland?
Über die Jahre gab es immer mal wie-
der Kritik an Abituraufgaben. Würden
die Bundesländer nicht länger ihre eige-
ne Suppe kochen, sondern ihre Kräfte
weit stärker bündeln als bisher, stiege
auch die Qualität der Abituraufgaben.
Der Pool, den es schon gibt, ist ein An-
fang, den man stark ausbauen sollte.
Die Fragen stellte Barbara Gillmann.
Der Pisa-Koordinator der OECD
wirbt für ein Zentralabitur –
egal ob auf bayrischem oder
Bremer Niveau.
Barbara Gillmann Berlin
D
eutschland streitet
über das Zentralabitur.
Der Konflikt geht quer
durch die Parteien –
und wird mitunter per-
sönlich: Dass etwa FDP-Chef Christi-
an Lindner ein Zentralabitur fordert,
sei „verständlich, denn er selbst hat
ja NRW-Abi“, ätzte etwa CSU-Gene-
ralsekretär Markus Blume. Die Bay-
ern sind die heftigsten Gegner eines
zentralen Abiturs: „Ein Zentralabitur
wird es auf keinen Fall mit Bayern
und der CSU geben“, verkündete Mi-
nisterpräsident Markus Söder.
Die Wirtschaft dagegen will genau
das: „Ein vergleichbares Abitur ist
zum Vorteil aller Schüler“, sagte Ar-
beitgeberpräsident Ingo Kramer dem
Handelsblatt. „Deshalb sollten die
Länder in wichtigen Kernfächern wie
Mathe, Naturwissenschaften, Fremd-
sprachen und Deutsch gemeinsam
Aufgaben entwickeln und sicherstel-
len, dass dann auch wirklich alle da-
rauf zurückgreifen. Natürlich muss
nicht alles komplett identisch sein.
Aber es gilt: Der Bildungsföderalis-
mus muss sich bewegen, damit er
überleben kann“, sagte Kramer.
„Für unsere Unternehmen sind
bundesweite Bildungsziele und Stan-
dards wichtig, die verbindlich und
einheitlich umgesetzt werden“, for-
dert auch Eric Schweitzer, Präsident
des Deutschen Industrie- und Han-
delskammertags (DIHK). Nur so könn-
ten Betriebe Leistungsanforderungen
und Abschlüsse sinnvoll miteinander
vergleichen. „Die bundeseinheitlichen
Prüfungen der Industrie- und Han-
delskammern in der beruflichen Bil-
dung zeigen, dass das möglich ist“, so
Schweitzer. Der Bildungsexperte des
Instituts der deutschen Wirtschaft,
Axel Plünnecke, sagt: „Hundert-Me-
ter-Läufe werden ja auch nicht mal
auf 95 und mal auf 103 Metern ausge-
tragen.“ Echten Bildungswettbewerb
der Länder könne es nur mit ver-
gleichbarem Zentralabitur geben.
Die Durchschnittsnoten im Abitur
sind in den Bundesländern sehr un-
terschiedlich, sie variieren um knapp
eine halbe Note. 2017 schnitten die
Thüringer mit 2,18 am besten ab –
und haben so bessere Chancen auf
einen Studienplatz. Am Ende lag
Niedersachsen mit 2,57 (siehe Gra-
fik).
Bayern erreichte mit 2,31 den vier-
ten Platz – Nordrhein-Westfalen liegt
mit 2,45 deutlich dahinter auf Platz
zwölf. Ob das bedeutet, dass bayeri-
sche Schüler besser sind, oder ob das
Abitur im Freistaat – entgegen der Ei-
genwerbung – doch leichter ist als in
NRW, kann kein Forscher sagen. An-
haltspunkte geben nur Vergleichs-
tests: Im jüngsten Ländervergleich
des Instituts zur Qualitätsentwick-
lung im Bildungswesen (IQB) in den
Fächern Deutsch und Englisch lande-
te Bayern im Jahr 2015 in der Spitzen-
gruppe, NRW teils in der Schluss-
gruppe, teils im Mittelfeld. Ähnlich
war das Ergebnis drei Jahre zuvor für
Mathematik. Das IQB testet allerdings
keine Oberstufenschüler, sondern
Neuntklässler aus allen Schularten.
Entscheidend sind selbst kleine No-
tenunterschiede hinter dem Komma,
wenn es ans Studieren geht. Die Zahl
der Fächer mit Numerus clausus ist
zwar zurückgegangen, doch noch im-
mer gibt es bei 42 Prozent aller Studi-
engänge eine Zulassungsbeschrän-
kung. Tendenziell werden die Abitur-
noten besser: 2017 lag der Schnitt bei
2,39, im Jahr 2006 noch bei 2,51.
Abgesehen von den Christsozialen
und den Freien Wählern, die in Bay-
ern den Kultusminister stellen, wächst
die Schar der Befürworter eines Zen-
tralabiturs – oder zumindest von mehr
Vergleichbarkeit. Die Bürger sind oh-
nehin eindeutig dafür: Nach einer Um-
frage des Meinungsforschungsinstituts
Yougov für das Handelsblatt sind
71 Prozent der Befragten für ein Zen-
tralabitur, 13 Prozent sind dagegen.
Ein Zentralabitur peilt etwa Baden-
Württembergs Kultusministerin und
Reifeprüfung
Wirtschaft wünscht
sich ein Zentralabitur
Der Reformdruck auf die Kultusminister steigt. Die Politik ist uneins.
Schüler bei
der Prüfung:
Bei den Abitur-
durchschnitts-
noten der
Länder gibt es
große Unter-
schiede.
DEEPOL by plainpicture
Ländersache
Durchschnittliche Abiturnoten* in
Deutschland nach Bundesländern
Thüringen
Brandenburg
Sachsen
Bayern
Sachsen-Anhalt
Mecklenburg-Vorpommern
Saarland
Hessen
Berlin
Baden-Württemberg
Hamburg
Nordrhein-Westfalen
Bremen
Rheinland-Pfalz
Schleswig-Holstein
Niedersachsen
2,
2,
2,
2,
2,
2,
2,
2,
2,
2,
2,
2,
2,
2,
2,5
2,
*An Gymnasien, integrierten Gesamtschulen,
Fachgymnasien, Fachoberschulen und Berufs-
oberschulen; Schuljahr 2016/
HANDELSBLATT Quelle: KMK
imago/Agencia EFE
Wirtschaft & Bildung
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MITTWOCH, 31. JULI 2019, NR. 145
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