Die Welt - 22.02.2020

(Barré) #1

A


ntonio Scurati ist in einer
Weise international gefragt,
wie es für italienische
Schriftsteller seit Roberto
Saviano und Elena Ferrante
nicht mehr der Fall war.
Scuratis Romanbiografie
„M. Der Sohn des Jahrhunderts“ (aus dem
Italienischen von Verena von Koskull. Klett-
Cotta, 830 S., 38 €) erzählt von Benito Mus-
solini. Das Buch ist dick wie ein Ziegelstein
und bricht in Italien alle Verkaufsrekorde.
Vielleicht weil es auf eingängige, fast thriller-
hafte Weise von einer Epoche handelt, die in
Zeiten weltweiter rechtsextremer Terror-
akte wieder unheimlich aktuell scheint. „M“
ist eine gute lesbare Doku-Fiktion, als Trilo-
gie angelegt, Band eins behandelt die Jahre
1919 bis 1924.

VON MARC REICHWEIN

LITERARISCHE WELT: WWWieso Mussolini inieso Mussolini in
XXL? Weiß die Welt noch nicht genug über
den italienischen Diktator?
ANTONIO SCURATI:Ich bin wie alle Lands-
leute meiner Generation im Geist des Antifa-
schismus erzogen worden, der Italien nach
1945 über Jahrzehnte geprägt hat. Doch vor
lauter Antifaschismus haben wir vergessen,
was der Faschismus überhaupt war. Zwar
gibt es Fachabhandlungen zu Mussolini, hun-
dert- und tausendfach. Doch Italien hat – an-
ders als Deutschland – seine Vergangenheit
nie breitenwirksam aufgearbeitet. Dabei war
Italien die Wiege des Faschismus, von hier
aus fand die Bewegung Nachahmer in der
ganzen Welt. Ich habe mich entschieden, den
Italienern diese verdrängte Geschichte be-
wusst zu machen, und zwar so, dass sie dafür
kein besonderes Bildungsniveau brauchen.
Mein Mussolini-Roman wendet sich an alle –
und erzählt die ganze Geschichte, aus der
Perspektive der Faschisten selbst.

Da hatten Sie keine Skrupel?
Nein, denn die Perspektive der Faschisten
einzunehmen heißt nicht, sich ihre Perspek-
tive zu eigen zu machen. Mir ging es um die
Frage: Wer waren die Männer, die sich von
der faschistischen Bewegung mitreißen und
vereinnahmen ließen? Was hat den Faschis-
mus als System so groß werden lassen, dass
er vom Nationalsozialismus bis zum Totali-
tarismus in aller Welt adaptiert wurde? In
den letzten 70 Jahren haben wir den Faschis-
mus vor allem aus der Perspektive der Opfer
erzählt. Das war richtig und wichtig. Unsere
Demokratien gründen auf Empathie für die-Demokratien gründen auf Empathie für die-
se Opfer. Doch die Opfererzählungen hinter-
ließen auch einen blinden Fleck: Wer waren
die Täter und warum agierten sie so? Wäre
das alles auserzählt, hätte es in der europäi-
schen Literatur der letzten Jahre nicht die-
sen Boom des Perspektivwechsels gegeben,
von Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“
über Éric Vuillards „Tagesordnung“ bis hin

von Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“
über Éric Vuillards „Tagesordnung“ bis hin

von Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“

zum „Verschwinden des Josef Mengele“ von
Olivier Guez. Eben weil es seitens dieser Au-
toren keine Zeitzeugen- oder Täterschaft
gibt, wird die Täterperspektive möglich –
und literarisch interessant.

Den privaten Mussolini sparen Sie nicht
aus. Genauso schildern Sie seine politi-
schen Gegenspieler. Es geht Ihnen ums
Gesamtbild der Epoche?
Das hat für mich mit literarischer Wahrhaf-
tigkeit zu tun. Mussolini wird oft entweder
als Karikatur oder als Dämon dargestellt.
Doch damit hält man sich ihn vom Leib. In
jedem meiner drei Bände steht Mussolini ein
prominentes Opfer des Faschismus zur Sei-
te. Im ersten Band ist dies der Sozialist Gia-
como Matteotti, nach dem in Italien viele
Plätze heißen. Er prangerte die faschisti-
schen Gewaltorgien an und fiel ihnen 1924
gleichwohl zum Opfer. Damals stand Musso-
linis Reputation auf der Kippe. Mir geht es
um die politische Figur und die Frage, mit
welchen Intuitionen sie diesen enormen,
massenwirksamen Erfolg erzielen konnte. Es

lohnt sich, die manipulativen Mittel, die
Mussolini einsetzte, im Detail zu kennen. Er
begann als Sozialist. Sozialismus – als politi-
sche Ideologie – verspricht Hoffnung. Fa-
schismus schürt Angst und Hass. Mussolini
wusste, dass beides massenwirksamer zu be-
wirtschaften ist als Hoffnung. Italien zählte
ja formal zu Gewinnern des Ersten Weltkrie-
ges, konnte Gebietszuwächse verzeichnen.
Und trotzdem setzte sich die Lesart einer
Quasi-Niederlage durch, unentwegt spra-
chen die Faschisten mit D’Annunzio vom
„verstümmelten Sieg“.

Warum ist Faschismus so männlich kon-
notiert?
Die misogyne Machowelt der Faschisten
üüübertrug die Kommando-Idee des Militärsbertrug die Kommando-Idee des Militärs
auf die Gesellschaft. Es gibt diesen verräteri-
schen Satz von Mussolini: „Die Masse funk-
tioniert wie eine Frau: Sie liebt es, beherrscht
zu werden.“ Umso erstaunlicher, dass Musso-
lini – neben seinen zahlreichen Geliebten
und Prostituierten – eine hochkultivierte
Frau zur Seite hatte: Margherita Sarfatti
stammte aus einer großbürgerlichen, jüdisch-
venezianischen, mächtigen Familie. Sie war
das genaue Gegenteil zur rauen, kleinbürger-
lichen Herkunft Mussolinis. Wir vergessen
oft: Das Frauenwahlrecht wurde in Italien
erst 1946 eingeführt. Mussolini und seine
Männer wurden allein von Männern gewählt. Wie eng haben Sie sich an die Fakten ge-Wie eng haben Sie sich an die Fakten ge-
halten?
Ich habe einen dokumentarischen Roman ge-Ich habe einen dokumentarischen Roman ge-
schrieben. Am Beginn steht ein Disclaimer:schrieben. Am Beginn steht ein Disclaimer:
Sämtliche Personen, Dialoge und Reden sindSämtliche Personen, Dialoge und Reden sind
historisch dokumentiert und bezeugt. Aus-historisch dokumentiert und bezeugt. Aus-
schmückungen und Effekte habe ich mir un-schmückungen und Effekte habe ich mir un-
tersagt. Eher sehe ich mich in der Enzensber-tersagt. Eher sehe ich mich in der Enzensber-
ger-Tradition des Montageromans. Kennen
Sie „Der kurze Sommer der Anarchie“? Es
geht bei diesem Genre nicht um künstleri-
sche Freiheit, sondern um künstlerische
Notwendigkeit. Was muss ich erzählen, um
handelnde Personen in ihrer historischen Si-
tuation maximal plausibel zu machen? Man
hat das Vermögen, längst vergangene Figu-
ren wieder lebendig werden zu lassen. An-
ders Littells Protagonist Max Aue, der eine
Mischung aus Fakt und Fiktion war, hatte ich
bei Mussolini O-Töne, um ihn mit eigenen
Worten denken und parlieren zu lassen.

Bedenken, mögliche Mussolini-Fans zu be-
dienen, hatten sie nie?
Nein. Denn behaupten, dass „M“ zum Mus-
solini-Kult beiträgt, kann nur, wer mein Buch
nicht gelesen hat. In den USA wollte Ruth
Ben-Ghiatmein Buch mit dieser Lesart skan-
dalisieren. Dieselbe Person forderte vor eini-
gen Jahren auch, Italien von aller faschisti-
schen Architektur zu säubern. Ich meine,
was der Faschismus in Italien gebaut hat, ge-
hört zum Besten, was diese Epoche an Bau-
kultur hinterlassen hat. Ärger hat mein Buch
interessanterweise – und ich behaupte: nicht
zufällig – im Lager der italienischen Populis-
ten ausgelöst. Sowohl bei der rechten Lega
als auch bei der linken Fünf-Sterne-Bewe-
gung hat man mein Buch zur Situation vor
100 Jahren als Analogiebildung zur Gegen-
wart gelesen.

Wollen Sie unserer Gegenwart mit „M“ ei-
nen Spiegel vorhalten?
Nein. Wer heutige Populisten, von Salvini
über Trump bis Bolsonaro, als Wiedergänger
Mussolinis stilisiert, wird weder der histori-
schen Figur noch der Gegenwart gerecht.
Aber klar ist auch: Jeder Populist bewegt sich
in der Spur, die Mussolini gelegt hat. Musso-
lini war der Archetypus aller Populisten.

Mit dem Faschismusvergleich sind heute
viele, nicht zuletzt Linke, schnell bei der
Hand. Halten Sie das für zielführend?
Ich halte es für völlig kontraproduktiv und
irreführend. In Italien ist das Attribut fa-
schistischschon lange zur sinnentleerten
Schmähung mutiert. Beim römischen Fuß-
ballderby beschimpfen die Fans des AS Rom
die Anhänger von Lazio Rom als Faschisten.
Wenn alles, was einer ausgestellten morali-
schen Überlegenheit der Linken nicht ins
Weltbild passt, faschistischgenannt wird, be-
steht die Gefahr, das, was wirklich Faschismus
genannt werden muss, zu verharmlosen. Am
Ende spielt der Ärger über die militanten An-
tifaschisten antiliberalen Kräften in die Kar-
ten. Denn eines ist sicher: Die Verführbarkeit
der Massen ist genauso gegeben wie vor 100
Jahren. Nicht nur in Italien, auch in Polen,
Ungarn, Frankreich, den USA, seit der AfD
sogar in Deutschland. Andauernd gegen den
Faschismus aufzuschreien, lenkt aber von
unseren wahren Problemen ab. Salvini ist
kein Faschist, er ist Populist.

Wie definieren Sie „Populist“?
Ein Populist vereinfacht die komplexe Rea-
lität unseres demokratischen Zusammenle-
bens und diskreditiert demokratische Insti-
tutionen als korrupt und Teil eines System-
versagens. Was Salvini heute mit den Mi-
granten macht, tat Mussolini vor 100 Jah-
ren mit den Sozialisten. Er brauchte sie für
sein Bedrohungsszenario, nannte sie Vater-
landsverräter. Sozialisten waren für ihn kei-
ne Italiener, sondern Invasoren der rus-
sisch-bolschewistischen Weltverschwö-
rung, Träger der „asiatischen Pest“. Als sol-
che durfte man sie jagen, schlagen und be-
kämpfen. Zuallererst also schürt der Popu-
list Ängste. Er bewirtschaftet Frust, Wut,
Ressentiments. Wer Mussolini verstehen
will, muss sein Motto kennen: Angst wiegt
schwerer als die Hoffnung. Zuerst wird die
WWWelt in ein brutales Freund-Feind-Schemaelt in ein brutales Freund-Feind-Schema
gepresst und mit allen primitiven Mitteln
der politischen Inkorrektheit und Gewalt
chaotisch gemacht. Dann wird eine neue
OOrdnung versprochen. Populisten schürenrdnung versprochen. Populisten schüren
aber nicht nur Ängste.

Sondern?
Sie nähren, wie in der Fünf-Sterne-Bewe-
gung, auch die Fiktion, dass sämtliche durch
Bildung, Kompetenz oder Tradition begrün-
deten Institutionen und Hierarchien über-
flüssig seien. Ich sehe deswegen nicht gleich
die italienische Demokratie in Gefahr. Aber
mit den neuen Medien, in denen sich der Po-
pulismus entfaltet, muss auch die Demokra-
tie erst noch umgehen lernen. Italien war im-
mer Avantgarde, im Guten wie im Schlech-
ten. Wir hatten den Futurismus, Faschismus


  • und Berlusconi, lange vor Trump. Jetzt ha-
    ben wir den Anti-Migrations-Populismus
    von Matteo Salvini. Italien hat die unbeque-
    me Rolle, immer Labor politischer Bewegun-
    gen und Entwicklungen zu sein.


GETTY IMAGES/MAXIM BURLYAY

„ITALIEN WAR


IMMER


AVANTGARDE,


IM GUTEN WIE


IM SCHLECHTEN“


Antonio Scurati hat einen


800-Seiten-Roman über Mussolini


geschrieben, er wurde ein Bestseller.


Warum brauchen wir die


dokumentarische Kraft der Literatur,


um mit dem Populismus von heute


fertigzuwerden? Ein Gespräch


Antonio Scurati, geboren 1969

MONDADORI PORTFOLIO/LEEMAGE-OPALE

Das viereckige Kollosseum aus der
Mussolini-Zeit: Palazzo della Civilta Italiana

25


22.02.20 Samstag, 22. Februar 2020DWBE-HP


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DIE WELT SAMSTAG,22.FEBRUAR2020 SEITE 25


Ein Journal für das
literarische Geschehen

Gegründet von Willy Haas, 1925

INHALT


Nicole Flatterytindert, bis die Welt untergeht, S. 27 Der Skandalroman„La Garconne“ erfindet die moderne Frau, S. 28


James Baldwinerzählt vom schwarzen Schwulsein, S. 29 Inga Humpeerklärt das Lesen zum persönlichen Fluchtauto, S. 32


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