Die Welt - 22.02.2020

(Barré) #1

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22.02.20 Samstag, 22. Februar 2020DWBE-HP


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DIE WELT SAMSTAG,22.FEBRUAR2020 DIE LITERARISCHE WELT 29


J


ames Baldwin war ja eigentlich
guilty pleasure. Jedenfalls sein Ro-
man „Giovannis Zimmer“. Das
KKKultbuch schlechthin der Siebzi-ultbuch schlechthin der Siebzi-
ger-, Achtzigerjahre für junge
Schwule in Deutschland. Dabei war es in
Amerika schon 1956 erschienen. Und irgend-
wie spürte man das auch. Aber das war’s ja ge-
rade. „Giovannis Zimmer“ las sich wie ein Ci-
nemascope-Melodram von, sagen wir, Dou-
glas Sirk. Und seinen Icherzähler David konn-
te man sich im Grunde nur wie Rock Hudson
in „Was der Himmel erlaubt“ vorstellen. Der
all american boyund das ganz große Gefühl.
Herz und Schmerz in Multicolor.

VON TILMAN KRAUSE

Nur dass der Himmel bei James Baldwin
eben nicht so furchtbar viel erlaubt. Deshalb
war der Autor ja auch so guilty pleasure. Denn
um 1980 waren wir in Westdeutschland na-
türlich weiter. Hier gab es keine Notwendig-
keit mehr, vom Schwulsein als Verhängnis
zu erzählen. Man gruselte sich bei der Lek-
türe von „Giovannis Zimmer“, man empörte
sich wohl auch, wenn wieder mal die schwu-
le Szene (hier noch vornehm „Milieu“ ge-
nannt) nur von Verzweifelten und Verworfe-
nen bevölkert zu sein schien. Und ganz un-
möglich fand man es natürlich, wenn David
von Giovanni, der einen Mord begangen hat
und dafür hingerichtet wird, am Ende be-
hauptet: „Er weiß, dass hinter der Tür, die
immer näher kommt, die Guillotine wartet.
Jene Tür ist das Tor, nach dem er so lange
gesucht hat, um dieser schmutzigen Welt,
diesem schmutzigen Körper zu entrinnen.“
WWWas? Schwule freuen sich, wenn sie endlichas? Schwule freuen sich, wenn sie endlich
sterben dürfen, weil ihr Leben so schmutzig
ist? Das konnte doch wohl nicht ernst ge-
meint sein.
Doch das war es. James Baldwin meinte
noch ganz andere Dinge ernst, die nicht we-
niger irritierten. Aber irgendwie war es eben
auch ganz schön, so mit ihm zurückzufallen
in eine Zeit, in der das Pathos noch geholfen
hat. Geholfen, die menschliche „Geworfen-
heit“ (Baldwins Epoche war ja gleichzeitig
die des Existenzialismus!) zu ertragen. Eine
Zeit vor jeglichem ironic turn. Eine Zeit, in
der Romanfiguren, ganz egal, welche sexuel-
le Disposition sie nun besaßen, andauernd
Sätze von sich gaben wie: „Jeder wandelt auf
der gleichen dunklen Straße.“
Und erst die Frauen! Sie kommen ja in
„Giovannis Zimmer“ durchaus vor. Denn die
beiden Männer, David und Giovanni, die
hier, wie Daniel Schreiber auf dem Buchde-
ckel der Neuausgabe postuliert, „die wahr-
scheinlich tragischste Liebesgeschichte, die
je geschrieben wurde“, miteinander verbin-
det, diese beiden Männer stellen sich als bi-
sexuell dar. Der eine, Giovanni, hat in Italien
Frau und Kind zurückgelassen; der andere,
David, sein amerikanischer Freund, ist eben
dabei, sein Nest zu bauen, als er (in Paris, wo
sonst) Giovanni kennenlernt. Das wird der
Mann, der seine ganze schöne Lebenspla-
nung durcheinander- und ihn damit auch
von seiner Hella abbringt. Und die darf dann
sagen, als sei’s ein Dialog von Rosamunde
Pilcher: „Oh Gott, ich habe dich so geliebt.
Bei jedem Mann, dem ich begegne, werde ich
an dich denken müssen.“ Und darauf darf
dann David antworten: „Hella, eines Tages,
wenn du glücklich bist, wirst du mir viel-
leicht verzeihen können.“ Da konnte man als
junger schwuler Leser von 1980 nur noch
sarkastisch hinzufügen: Aber nur, wenn’s
der Himmel erlaubt ...
Vierzig Jahre später, nach überstandener
Aids-Krise und der vielfach gemachten Er-
fahrung, dass nicht alle Knabenmorgenblü-
tenträume reifen, liest man James Baldwin,
liest sogar seinen Schmachtfetzen „Giovan-
nis Zimmer“ anders. An der Schwelle zum
Alter versteht wohl jeder Homosexuelle, was

Judith Butler mal als „schwule Melancholie“
bezeichnet hat, über die man vor vierzig Jah-
ren nur gelacht hätte. Doch diese Melancho-
lie, die mit den ausgeschlagenen, nicht geleb-
ten Möglichkeiten der eigenen Existenz zu
tun hat, lässt einen das Drama dieses Davids
aus „Giovannis Zimmer“ plötzlich doch ganz
gut begreifen, wenn er irgendwann auf-
schreit: „Aber ich will doch Kinder haben, ich
will zurückkehren zu dem Licht, der Sicher-
heit, zu meiner unbestrittenen Männlich-
keit, ich will zusehen, wie meine Frau meine
Kinder ins Bett bringt. Ich will jede Nacht in
demselben Bett, in denselben Armen liegen,
ich will eine Frau, in der ich wurzeln kann.“
Tja, Schwulsein ist nichts für Menschen mit
dem Wunsch nach Sicherheitsgarantie. Ge-
nauso wenig, wie Alter was für Feiglinge ist.
Man muss schon ziemlich stark sein, wenn
man von beidem etwas haben will.
Und hier kommt nun wieder James Bald-
win ins Spiel sowie dasguilty pleasure, das er
auslöst. Denn dieser Autor führte ohne jegli-
che Rücksicht auf politische beziehungswei-
se moralische Korrektheit und mit einer
Konsequenz, die nur vor dem Hintergrund
seiner tiefen Religiosität begriffen werden

kann, dieser Autor führte also wie kein ande-
rer amerikanischer Schriftsteller des Zwan-
zigsten Jahrhunderts die Sache der Schwa-
chen. Derjenigen, die nicht die innere Ver-
panzerung mitmachen wollen oder können,
der es bedarf, um sich in einer Gesellschaft
zu behaupten, die das Andersartige aus-
grenzt, bekämpft, entwürdigt, tötet. Diese
Schwachen waren in seiner Zeit – er lebte
von 1924 bis 1987 – Schwarze und Schwule.
Von ihnen und ihren Drangsalen, Verletzun-
gen, Nöten handeln seine großen Romane
und Erzählungen. Man muss schon bis zu
Dostojewski zurückgehen, um einen Schrift-
steller zu finden, der so herzzerreißend die
Ausweglosigkeit im Leben der Mühseligen
und Beladenen schildert. Jeder Mensch in
seiner Nacht wird von Baldwin ernst genom-
men. Wir erleben seine Figuren, wie sie mit
sich hadern, voller Hass und Selbsthass, wie
sie weinen und immer wieder von Panikatta-
cken übermannt werden.
Und sie dürfen das! Denn Barmherzigkeit
ist nun doch etwas, das der Himmel erlaubt.
Keine Ermahnung, pragmatisch zu sein,
schon gar keine Aufforderung, cool zu blei-
ben, dieser lächerliche Imperativ einer Ge-

sellschaft, die sich von ihren eigenen Gefüh-
len abgekoppelt hat, schiebt sich zwischen
den Autor und seine Protagonisten. Zum Bei-
spiel, wenn er in „Go Tell it on the Moun-
tain“, seinem unerhört intensiven Debüt,
1953 von der religiösen Erweckung eines Pre-
digersohnes erzählt, hinter der sich, un-
schwer zu erraten, seine eigene Jugend spie-
gelt. Oder nehmen wir sein Hauptwerk, den
grandiosen New-York-Roman „Another
Country“ von 1962. Hier steht der schwarze
Musiker Rufus Scott im Mittelpunkt, der all
sein Elend irgendwann einfach nicht mehr
aushält und sich an einem trüben Winter-
abend von der Washington Bridge stürzt. Er
ist ein Bruder im Geiste von Giovanni und
vielen anderen in Baldwins Werk.
Wobei man wissen muss: Das alles spielt
zu einer Zeit, als es für junge schwarze Män-
ner schon ein Risiko bedeutete, an einem
Sonntagnachmittag mit einer weißen Frau
im Central Park zu flanieren. Als betrunkene
weiße Jugendliche ungestraft über junge
schwarze Männer herfallen, sie seelisch und
körperlich quälen konnten, just for fun. Als
kleine weiße Jungs im Süden der USA zu ei-
nem Ritualmord samt Kastration an einem

Schwarzen mitgenommen wurden, als hand-
le es sich um ein Initiations-, gar Bildungser-
lebnis. Baldwin beschreibt das in der krasses-
ten Erzählung, in der je der Zusammenhang
zwischen Sexualneid, Lust an der Demüti-
gung und Selbstermächtigung des weißen
Mannes ausgelotet wurde, dem späten Text
„Des Menschen nackte Haut“ von 1974.
Er schreibt das alles durchaus im Sinne ei-
ner großen Anklage gegen die weiße ameri-
kanische Mehrheitsgesellschaft in ihrer He-
teronormativität. Dabei verfolgte er diesel-
ben Ziele wie das Civil Rights Movement. Aber
Baldwin war kein Mann des Kollektivs. Er
hatte gründlich André Gide gelesen, dem
sein erster literarischer Essay gegolten hatte,
und er vertrat wie sein maître à penserdie An-
sicht, dass nur ein Individuum, niemals je-
doch ein Kollektiv für Emanzipation und
Selbstbestimmung kämpfen könne.
Und er tat dies – ein weiterer Affront für
die Aktivisten Amerikas – von Frankreich
aus, dem „Land, das mir das Leben gerettet
hat“, wie er eine seiner Figuren sagen lässt,
als Sprachrohr eigener Erfahrungen. Frank-
reich mag zwar zu Baldwins Zeiten die sozia-
le Ächtung der Schwulen gekannt haben,
aber die Kriminalisierung ihrer Sexualität
war immerhin seit Einführung des „Code
Napoléon“ zu Anfang des 19. Jahrhunderts
abgeschafft. Und farbige Franzosen sangen
damals fröhlich mit, wenn im Musikunter-
richt das Lied „Nos ancêtres les Gaulois“
(Unsere Vorfahren, die Gallier) angestimmt
wurde. Und ihren Platz frei zu machen, wenn
ein Weißer den Bus betrat, wäre ihnen auch
im Traum nicht eingefallen.
Trotzdem: Bei aller Sympathie für die
„schwarze Sache“ blieb James Baldwin auf
Distanz zu deren identitären Aspekten. Dazu
war er zu sehr Christ. Vor Gott war es in sei-
nen Augen egal, ob ein Weißer oder ein
Schwarzer aus tiefer Not um Erlösung flehte.
Die spirituellen Belange wogen für Baldwin
schwerer als die sozialen. Allerdings besaß er
die Überzeugung, dass der weiße Mann à
l’américaine krank sei – toxisch würden wir
heute sagen. Seelisch krank in seinem Rein-
heitswahn und seinem Festhalten an einem
reduktionistischen Männlichkeitsbegriff wie
sein David in „Giovannis Zimmer“. Denn,
wie er in einem Interview zu verstehen gab:
„Die Weißen in unserem Lande werden noch
gut damit zu tun haben zu begreifen, dass sie
sich erst mal selbst akzeptieren und gegen-
seitig lieben müssen. Wenn sie das geschafft
haben – und der Tag liegt fern und kommt
vielleicht nie –, dann existiert auch das
Schwarzenproblem nicht mehr.“
Solche Diagnosen passen gut zu den De-
batten unserer Tage. Es ist daher zu begrü-
ßen, wenn jetzt bei dtv, Stück für Stück, die
Werke Baldwins wieder vorgelegt werden.
Glücklich kann man allerdings nicht mit der
Übersetzung sein. Einem so religiös durch-
tränkten Roman wie „Go Tell it on the
Mountain“ den Titel „Von dieser Welt“ zu
geben, ist schlichtweg abwegig. „Gehe hin
und verkünde es vom Berge“ traf es besser.
Matt und mutlos ist auch die Neuübertra-
gung von „Giovannis Zimmer“.
Eine Übersetzerin, der immer nur das Ad-
jektiv „wütend“ einfällt, wo die alte Version
so schöne Ausdrücke wie „aufgebracht“ oder
„in Harnisch“ parat hält, überzeugt nicht.
„Bring in Erfahrung, wo er sich einkleidet“:
Was ist das für ein Deutsch? Früher hieß es:
„Erkundige dich mal, wo er seine Anzüge
kauft.“ Auch für Satzmelodie fehlt es bei Mi-
riam Mandelkow an Gespür. Man will sich
nicht vorstellen, wie wohl „Another Coun-
try“ daherkommen wird, wenn man die ful-
minante Eindeutschung durch den genialen
Hans Wollschläger entsorgen sollte. Wir plä-
dieren für eine behutsame Überarbeitung
der Erstübersetzung. Mehr braucht es nicht.
Der einstige Rowohlt-Autor wurde schon im-
mer kongenial in unsere Sprache übertragen.

GETTY IMAGES

/ ULF ANDERSEN

Jeder


Mensch


Jeder


Mensch


Jeder


in seiner Nacht


Kampf um Emanzipation und Selbstbestimmung:


Endlich wird das Werk von James Baldwin wiederentdeckt


K


ein Malheur, in das Hans Wald-
mann nicht gerät: Kommt der
Winter, rutscht er nachts auf
dem gefrorenen Boden aus.
Blickt er am Strand umher, steht
ihm das Wasser unversehens bis zum Hals.
Und oftmals verschwindet die tragikomische
Gestalt einfach in der weiten Landschaft.
Zeit seines Lebens hat der 1932 in Saalfeld an
der Saale geborene und am Montag mit 87
Jahren in Mainz verstorbene Lyriker Ror
Wolf die schwarzhumorig untermalten Un-
tergänge seines Alter Egos poetisch produk-
tiv gemacht und es mit stets neuem Elan
wiederauferstehen lassen.

VON BJÖRN HAYER

Verarbeitet also hier jemand seine Begeis-
terung für endlose Qualen, die einen schnell
an das schmerzvolle Los eines Prometheus
erinnern? Keineswegs. Denn das Werk, das
der Dichter mit über zwanzig Einzelbänden
hinterlässt, ist nur auf den ersten Blick eine
Feier der Grausamkeiten, die zwischen Fels-
abstürzen und Morden nichts ausspart. Bei
genauerer Betrachtung lesen sich seine Tex-

te als groß angelegte Rettung in der Poesie.
Was verloren zu gehen droht, bleibt im Vers,
der gebundenen Form, bewahrt. Selbst Ror
Wolfs schnapsseliger Antiheld erkennt das
bewahrende Potenzial der Sprache: „Wald-
mann saß und hat hinaufgesehn, / und er sah
die Welt wie sie verdorrte. / Plötzlich spürte
er die Macht der Worte.“ Zugrunde liegt ihr
die Dialektik zwischen dem Verschwinden
der Dinge und zugleich deren Bewahrung.

Unterstützt wird diese eigenartige Span-
nung nicht zuletzt durch die konsequente
Nutzung von Reimen, die jedem Text zu ei-
nem festen Halt verhelfen und dem Lyriker
überdies den Ruf eines Solitärs einbrachten.
Unzeitgemäß haben einige diese Weise zu
schreiben genannt. In der Szene ist Wolf da-
her immer eigenständig geblieben. Weder ist
der Adorno-Schüler einem formalen Main-
stream gefolgt, noch hat er sich in seinen
Texten auf das Kleinklein der Tagespolitik
eingelassen. Stattdessen stehen seine mit
Wortspielen, Kalauern und galligen Pointen
versehenen Miniaturen ganz im Zeichen ei-
ner Autonomieästhetik. Sich mit den Inhal-
ten und traditionellen Bauweisen seiner Ge-
dichte abzuheben, war ihm bis zuletzt Inbe-
griff künstlerischer Freiheit. Als Genie oder
Dichterpriester mit dem Habitus eines wei-
hevollen, besserwisserischen Lehrers hat er
sich nie verstanden.
Schon seine Vita ist alles andere als die
eines Säulenheiligen der Lyrikszene. Lange
schlägt er sich als Bau- und Hilfsarbeiter
durch. Nachdem er 1953 die DDR verlässt,
wird er ungefähr dreißigmal umziehen, in
Frankfurt Soziologie, Literatur und Philoso-

phie studieren und schließlich in Mainz sei-
ne Heimstätte finden. Weder mit seiner
Entscheidung für die Provinz, fernab des Li-
teraturbetriebs, noch mit seinen im Laufe
der Jahrzehnte entstehenden Hörspielen
zum Fußball, den er zu einer Mythologie sti-
lisiert, entspricht der Autor dem Klischee
des Dichters.
Von Anfang an schreibt Wolf subversiv,
durchbricht mit collagenartigen Arbeiten
gängige Gattungsgrenzen. Üben sich Zeitge-
nossen wie Enzensberger oder Kunert im
kulturkritischen Paukenschlagen, entwickelt
er seine Liebe zum Absurden und Grotesken.
Nie macht er plakativ die Verwerfungen und
Identitätskrisen des 20. Jahrhunderts zum
Thema. Im slapstickartigen Scheitern seiner
Figuren wie auch im ungeschönten Ekel und
Hässlichen zahlreicher Momentaufnahmen
vermitteln sich die Abgründe der Moderne
von ganz allein. So schwingen Verse wie „die
milben kommen aus großen broten / die es-
senkehrer heraus aus schloten / die asseln
aus becken die schnecken die schnaken“
ganz im Sound einer morbiden, von Angst
und Untergangsstimmung getragenen Dé-
cadence-Lyrik eines Charles Baudelaire.

Es schmatzt und quillt und gärt in den
lautmalerischen Texturen. Oft vernimmt
man den Gestank der Verwesung. Dass sich
Wolfs Dichtung nie in Larmoyanz ergeht, ist
seinem hinreißenden Humor zu verdanken.
Nirgendwo wird so grotesk-heiter gestorben,
gesoffen und getorkelt wie in seinem Knei-
penuniversum: „Ein Toter saß vier Stunden
an der Bar, / und keiner wußte, wer der Tote
war, / vier Stunden hat man neben ihm ge-
trunken, / und danach ist er tot vom Stuhl ge-
sunken.“ Wer früher stirbt, ist hier nicht län-
ger tot, sondern mit Fahne und Kater ganz fi-
del, denn, so das Ende des Gedichts, „der
Mann hat später noch ein Bier getrunken, /
und danach ist er stumm davongehunken.“
Obgleich die späten Texte des zuletzt an
Krebs erkrankten Schriftstellers mehr und
mehr Züge der Verdunkelung tragen, wohnt
ihnen nach wie vor Komik inne. Sie bildet ei-
nen Widerstandsmodus gegen die Tristesse,
nimmt dem Ernsten die Schwere. Ror Wolfs
so verspielte wie bizarre Weise, über die
menschliche Existenz zu schreiben, wird
man vermissen. Seine Texte bleiben zeitlos,
kultig, der Monty-Python-Klassiker in der
zeitgenössischen Poesie.

Eine Art Monty Python der modernen Poesie


„Er sah die Welt wie sie verdorrte / Plötzlich spürte er die Macht der Worte“: Zum Tod des absurd-komischen Lyrikers Ror Wolf


Ror Wolf (1932 bis 2020)

SSWR

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