Die Welt - 22.02.2020

(Barré) #1

I


n Thüringen, da tut sich was. Das Land
muss sich politisch neu sortieren. Wo-
her kann es seine Maßstäbe beziehen?
Ein Blick auf die eigene Geschichte
hilft immer. Vor allem wenn man eine
solche vorzuweisen hat wie der Frei-
staat. Er steht für eine Dichte von Ge-
dächtnisorten, die keine andere Region in
Deutschland aufzuweisen hat (allenfalls
Württemberg kann ihm das Wasser reichen,
aber nur im Hinblick auf die Literatur).

VON TILMAN KRAUSE

Thüringen ist das Herzland deutscher Kul-
tur. Ja, wenn wir uns über Jahrhunderte hin-
weg mehr als Kultur- denn als Staatsnation
empfunden haben, dann haben wir Deut-
schen dabei an Thüringen gedacht. Und es
steht für Pluralismus, Vielfalt, Wandlungsfä-
higkeit, immerwährenden Neubeginn. Aber
jetzt erst einmal schön der Reihe nach.
In Thüringen siedelt, in einem fiktiven Ort
namens Kaisersaschern, Thomas Mann den
Deutschlandroman schlechthin des 20. Jahr-
hunderts, seinen geistesgeschichtlich so weit
ausholenden „Doktor Faustus“, an. Damit ist
auf spätes Mittelalter, frühe Neuzeit ange-
spielt. Denn damals trat mit dem Landgrafen
Hermann von Thüringen, sodann mit seiner
Schwiegertochter Elisabeth diese Region, die
durch unendlich viele Formen gegangen ist,
bis sie seit 1919 wieder als Land Thüringen
firmiert, in die große Geschichte ein. Sie
bündelt sich in der Wartburg. Auf der Wart-

burg bei Eisenach findet jener Sängerwett-
streit statt, der wie kein Ereignis sonst für
die literarische Blüte der mittelhochdeut-
schen Literatur in Deutschland steht. Später
hat Richard Wagner Tannhäuser, den Mann,
der zwischen Geist und Trieb steht, in seiner
musikalischen Version des Epochenereignis-
ses in den Mittelpunkt gestellt, auch wenn
natürlich die bedeutenderen Dichter Wolf-
ram von Eschenbach und Walter von der Vo-
gelweide gleichfalls vorkommen. Doch Wag-
ner interessierte sich nun mal vor allem für
Tannhäuser.
Mit ihm schuf er einen deutschen Grund-
typus, den zerrissenen Intellektuellen, den
Sinnsucher, der an der Welt zugrunde geht,
weil ihm auf Erden nicht zu helfen ist. Das
gesamte 19. Jahrhundert ist Wagner darin ge-
folgt. Die Wartburg als Monument romanti-
scher Mittelalterbegeisterung wurde zum
nationalen Zeichen, optisch gebrandet durch
den damals auf dem Zenit seines Ruhmes be-
findlichen Maler Moritz von Schwind, der
hier die Fresken fertigte – und damit Bildiko-
nen deutscher Selbstverständigung.
Die Wartburg verbindet sich natürlich
auch mit der Reformation, mit Luther, der
hier, verkleidet als Junker Jörg, die fortan
klassische deutsche Bibelübersetzung voll-
endete. Ein Textdokument von so ungeheu-
rer Wirkmächtigkeit über Jahrhunderte hin-
weg, dass wir lange Zeit sagen konnten, für
unsere religiösen Gefühle haben wir Deut-
schen eine Sprache, die uns Luther in seiner
Zeit auf der Wartburg gegeben hat.

Mit dieser Sprache erwacht auch eine spe-
zifisch protestantische Form der Musikali-
tät. In wem inkarniert sie sich am reinsten,
schönsten, einprägsamsten? Natürlich in Jo-
hann Sebastian Bach, der, in Eisenach, im
Herzen Thüringens, geboren, bekanntlich
auch in Weimar, Ohrdruf, Arnstadt wirkte,
bevor er dann in Leipzig reüssierte.
Zu diesem Zeitpunkt gibt es Thüringen als
politische Einheit bereits nicht mehr. Es ging
auf in Sachsen, dem Herrschaftsgebiet der
Wettiner. Doch bald bemächtigen sich seiner
Kernlande die Ernestiner. Die unterscheiden
sich in ihrem dynastischen Selbstverständnis
kardinal von anderen deutschen Herrscher-
häusern: Sie lehnen das Prinzip der Primoge-
nitur ab (bis 1826, um genau zu sein). Die er-
nestinische Erbfolge bedenkt also nicht nur
den Erstgeborenen, sondern alle männlichen
Nachkommen. Daraus folgt die Aufsplitte-
rung des Territoriums. Was wir heute Thü-
ringen nennen, ist lange Zeit deutsche Klein-
staaterei pur. Bis zu zehn Herzogtümer hat
es dort gleichzeitig gegeben.
Aber was heißt schon klein? Das ist sehr
relativ. Schon Goethe sagte in Bezug auf
Weimar (und das war als Hauptstadt des
Herzogtums – später Großherzogtums –
Sachsen-Weimar-Eisenach, verglichen mit,
sagen wir, den Hauptstädten Hildburghau-
sen oder Saalfeld, schon eine Metropole!),
kurzum, schon Goethe also sagte: „O Wei-
mar! dir fiel ein besonders Los: / Wie Bethle-
hem in Juda, klein und groß!“ Klein, weil es
politisch bedeutungslos war. Groß, weil es

anders punkten konnte: mit Kultur. Man
muss es sich immer wieder klarmachen:
Deutschlands kultureller Reichtum, diese
Vielzahl von Theatern und Museen, Orche-
stern und Schlössern, an denen Wissen-
schaft und Kunst in Flor standen, dieses
Alleinstellungsmerkmal unseres Landes in
Europa, ja auf der ganzen Welt: Das alles
rührt von politischer Bedeutungslosigkeit
her. Und es kommt aus Thüringen.
Denn Thüringen ist insofern Kultur-
deutschland in der Nussschale, als hier mit
den vielen Residenzen auf engstem Raum, in
denen jeder noch so unbedeutende Herzog
mit einer vorzüglichen Kapelle, einem be-
deutenden Hofmaler oder einem als Schrift-
steller ausgewiesenen Prinzenerzieher von
sich reden machen will, als Kompensation
für mangelnde Macht mit Aplomb die Fahne
kultureller Kompetenz geschwenkt wurde.
So kann man Niederlagen fruchtbar ma-
chen. Auch Machtverlust. Denn was wiegt
schon, von heute aus gesehen, dass man sich
keine Armee leisten kann, um sich, wie die
Preußen, in drei Kriegen Schlesien einzuver-
leiben, wenn man dafür in seiner Kapitale
mit Herder und Wieland, Goethe und Schil-
ler die führenden Köpfe der Epoche versam-
melt und ihnen Möglichkeiten schafft, sich
zu entfalten? Sicher, der rauflustige Arbeit-
gebers Goethes, Herzog Carl August, war
frustriert, dass er als Feldherr keinen Ruhm
erwerben konnte. 1778 kam er ja nicht mal im
sogenannten Kartoffelkrieg zum Zug. Und
als er dann doch, bei der Kampagne in Frank-

reich, 1792 seine Chance erhielt, steckte er
nur noch eine Niederlage ein.
Dafür prägte sein Multifunktionsminister
Goethe aus ebendiesem Anlass jenes Wort,
das einen weit ehrenvolleren Platz in unse-
rem kollektiven Gedächtnis einnimmt, als je-
de gewonnene Schlacht des Herzogs es hätte
tun können. Und dieses Wort lautet, gespro-
chen nach der für das Koalitionsheer so ver-
lustreichen Kanonade von Valmy: „Von hier
und heute geht eine neue Epoche der Welt-
geschichte aus, und ihr könnt sagen, dass ihr
dabei gewesen seid.“ Dieses Wort (wieder
ein signifikantes Beispiel für das, was der
Kulturhistoriker Wolfgang Schievelbusch
„Kultur der Niederlage“ nennt) wird man
noch im Munde führen, wenn keiner mehr
weiß, wer Carl August überhaupt war!
Auch viele andere Duodezfürsten oder
„Zaunkönige“ aus Thüringen, wie Bismarck
sie abschätzig genannt hat, sind inzwischen
im kollektiven Gedächtnis nicht mehr prä-
sent. Aber wir wollen nicht vergessen, dass
die meisten künstlerischen und intellektuel-
len Innovationen, die von Thüringen ihren
Ausgang nahmen, Ausdruck dieser ganz spe-
zifischen Residenzkultur sind, die sich eben
nirgends so großartig entfaltet hat wir hier.
Auch das nachgoethische, silberne Wei-
mar schreibt ja noch Kulturgeschichte: Hier
wirkt Liszt und hebt 1850 Wagners „Lohen-
grin“ aus der Taufe (der steckbrieflich ge-
suchte Komponist hat gerade mit Ach und
Krach Asyl in Zürich bekommen und kann
für dieses eine Mal nicht der Uraufführung
eines eigenen Werkes beiwohnen).
Ebenfalls in Weimar wird unter Carl Alex-
ander mit dem Goethe-, schließlich auch
Schiller-Archiv sodann das erste Literatur-
Schatzhaus in Deutschland errichtet. Und
unter Carl Alexanders Nachfolger Wilhelm
Ernst darf Harry Graf Kessler um 1900, zu-
mindest für einige Jahre, Weimar zur Haupt-
stadt der modernen Kunst in Deutschland
machen. Nicht zuletzt schlägt in diesem Zu-
sammenhang auch die Geburtsstunde des
Bauhauses. Aber auch in den Residenzen Go-
tha, Altenburg oder Meiningen, entzückende
Städtchen allesamt, in denen noch heute das
ganz besondere Flair der alten Residenzstäd-
te spürbar ist, wirken kunstsinnige Landes-
väter. Der eine schreibt, in Gotha, mit „Kylle-
nion – ein Jahr in Arkadien“ 1805 den ersten
schwulen Roman der deutschen Literaturge-
schichte. Ein Altenburger holt wenig später
die bedeutendste Sammlung italienischer
Tafelbilder aus der Frührenaissance in sein
kleines Reich. Der dritte schließlich begrün-
det Ende des 19. Jahrhunderts den Siegeszug
des Regietheaters, indem er in seinem Mei-
ninger Musentempel erstmals dafür sorgt,
dass auch Bühne und Kostüme der Epoche
entsprechen, in der die Stücke spielen, die
dort aufgeführt werden, was eine Revolution
in der Theatergeschichte darstellt.
Und noch der Fürst von Schwarzburg-
Sondershausen mit seinem Miniaturstaat
ließ es sich nicht nehmen, sein malerisches
im Thüringer Wald gelegenes Schloss einem
der bedeutendsten Architekten des Jugend-
stils und Art déco, Henry van de Velde, für
die Sommerfrische zur Verfügung zu stellen.
Geld für Bauaufträge an den genialen Belgier
hatte er, ein Jammer, dann schon leider kei-
nes mehr.
WWWas kann man daraus für heute lernen?as kann man daraus für heute lernen?
VVVor allem wohl eines: Dass man die Politikor allem wohl eines: Dass man die Politik
nicht absolut setzen soll. Die heute wieder
so stark ideologisch konnotierte Politik hat
zuallererst Mittel zum Zweck zu sein, Ver-
waltungswege bereitzustellen, die das gei-
stige, zivilisatorische Niveau einer Gesell-
schaft heben und sicherstellen. Wer da mit
wem koaliert, Bündnisse schließt, aufkün-
digt oder wieder auflegt, sollte nicht welt-
anschaulich, sondern pragmatisch gelöst
werden. Was heute leicht vergessen wird:
Politik ist eine Forderung des Tages. Ge-
schichte aber wird mit Kultur geschrieben.
WWWo, wenn nicht in Thüringen, lehrt das eino, wenn nicht in Thüringen, lehrt das ein
Blick in die Vergangenheit?

IMAGO IMAGES/ OLAF DÖRING

/ IMAGO STOCK

Im Herzland


In Thüringen herrscht dieser Tage Chaos. Was kann man dem Freistaat jetzt empfehlen?


Einen Blick auf seine große Tradition des Pluralismus. Eine Geschichtsstunde


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22.02.20 Samstag, 22. Februar 2020DWBE-HP


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30 DAS FEUILLETON DIE WELT SAMSTAG,22.FEBRUAR2020


S


elbstverständlich könnte man sich
von Larry Tesler auch so verabschie-
den, wie es eine niederländische Ta-
geszeitung tat. „Der amerikanische Compu-
terpionier Larry Tesler, der in den Siebziger-
jahren eine Methode erfand, wie man Text-
stücke ausschneidet, kopiert und wieder ein-
setzt („Cut, copy and paste“) ist verstorben“,
hieß es in ihrem Nachruf – aber nicht bloß
ein-, sondern gleich dreimal, ehe noch ein
letzter Satz folgte: „Er wurde 74 Jahre alt.“

VON PETER PRASCHL

Das ist superwitzig. Aber auch ein wenig
unfreundlich einem Mann gegenüber, dem
alle, die ihn gekannt haben, jetzt nachrüh-
men, wie überaus freundlich er war. Statt ei-
nes großen Egos hatte er eine große Liebe zu
den Menschen. Und statt sich wie viele ande-
re Genies im Silicon Valley als Alphatier auf-
zuspielen, war er ein Teamworker. In seiner
Jugend kam ein Test beim Berufsberater zum
Befund, dass Tesler nicht nur mathematisch
begabt war, sondern auch viel Einfühlungs-
vermögen Menschen gegenüber hatte.
Damals gab es für Jungs mit dieser Kombi-
nation von Charaktereigenschaften noch kei-
ne naheliegenden Berufe, also schlug man sei-
nen Eltern vor, ihn Architekt oder Buchhalter

werden zu lassen. Glücklicherweise stieß er
irgendwann auf Computer und ließ sich von
ihnen so sehr faszinieren, dass er sich das
Programmieren beibrachte. Er begann an der
Stanford University zu studieren, wo es für
Studenten Rechnerzeit gab, arbeitete ein paar
Jahre lang am Stanford Artificial Intelligence
Laboratory, zog, nachdem seine Ehe mit sei-
ner Collegeliebe zerbrochen war, mit seiner
fffünfjährigen Tochter nach Oregon in eineünfjährigen Tochter nach Oregon in eine
Landkommune und landete, nachdem er sei-
ne Ersparnisse aufgebraucht hatte, schließ-
lich beim legendären Xerox Parc in Palo Alto.
VVVon da an begann Tesler, dessen Namenon da an begann Tesler, dessen Namen
außerhalb der Fachwelt kaum jemand kennt,
Geschichte zu schreiben – indem er Dinge
(mit-)erfand, die praktisch jeder von uns im
AAAlltag verwendet: Cut-and-paste, grafischelltag verwendet: Cut-and-paste, grafische
Benutzeroberflächen, das Prinzip des „What
you see is what you get“, er hat sogar das
WWWort Browser erfunden, noch bevor es dasort Browser erfunden, noch bevor es das
Internet gab. Teslers Mission waren Benutz-
eroberflächen, die es allen Menschen ermög-
lichen sollten, Computer zu bedienen – nicht
nur jenen, die wussten, wie man maschinen-
lesbare Kommandos schreibt. Was benutzer-
fffreundlich war, ermittelte er in Tests. Er setz-reundlich war, ermittelte er in Tests. Er setz-
te Sekretärinnen, die bis dahin auf elektri-
schen Schreibmaschinen getippt hatten, vor
den Rechner, sah ihnen bei der Texteingabe

zu, erkundigte sich danach, was sie störte und
was ihnen die Arbeit erleichtern könnte, ließ
sie seine Einfälle ausprobieren. Er schnappte
sich Büroboten, Lieferanten, Leute, die vor-
beigekommen waren, um jemanden zum
Lunch abzuholen, und bat sie, Texte auf sei-
nem Computer zu bearbeiten – das war im
letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts
nichts weniger als eine Revolution.
Sein wahrscheinlich folgenreichster Einfall
war tatsächlich „Copy-and-paste“. Davor war
es mühsames, zeitraubendes und fehleranfäl-
liges Herumgefrickel gewesen, auf Computern
Texte zu bearbeiten. Wenn man Blöcke ver-
schieben wollte, musste man in den Befehls-
modus wechseln, um der Maschine zu befeh-
len, was sie tun sollte. Durch Teslers Verfah-
ren konnte man im Text bleiben, Wörter, Sät-
ze und ganze Absätze in einen Zwischenspei-
cher verschieben („ausschneiden“) oder ko-
pieren, um sie anderswo wieder einzusetzen.
So trug er dazu bei, dass das Schreiben an
Computern fast wie Atmen geworden ist –
man wird nicht aus den Texten gerissen,
kann weitermachen, wenn einem ein Wort
nicht einfällt, weil man später noch mühelos
nachtragen kann, hat immer ein makellos
sauberes Textfeld vor sich (anstatt durch
Tipp-Ex oder aufgeklebte Einfügungen un-
übersichtlich gewordenes Papier).

Wie jede andere große Erfindung hatte
auch Teslers Innovation ihre Schattenseiten:
Weil es so verdammt einfach ist, sich Text
zusammenzukopieren und ihn anderswo
wieder einzusetzen, sind viel zu viele Stu-
dentenarbeiten (und gelegentlich Politiker-
Dissertationen) mittlerweile eher ein Ergeb-
nis von Copy-and-paste als das Resultat
gründlichen Nachdenkens. Und nicht weni-
gen literarischen Texten merkt man an, dass
sie zu mikro-verfummelt sind, aber sich mit
den großen Bögen schwertun. Aber dafür
kann Tesler ja nichts.
Seine Einfälle machten Apple erfolgreich –
Steve Jobs hatte Teslers Benutzeroberflä-
chen im Xerox Parc gesehen und danach per
Copy-and-paste auf seine ersten Rechner
übertragen, um ihn dann für viele Jahre zum
Leiter seiner Advanced Technology Group
zu machen – Tesler war unter anderem an
der Entwicklung des iPad-Vorläufers Newton
beteiligt. In den letzten Jahren seines Lebens
war Tesler freier Berater und hielt immer
wieder schöne Vorträge über sein Ethos der
Benutzerfreundlichkeit (als junger Mann
hatte er sogar an einem Computer für Goril-
las gearbeitet).
Die Menschheit hat ihm viel zu verdanken


  • es wäre nur fair, das nicht im Zwischenspei-
    cher zu versenken.


STRG-C,


STRG-V


Hätte der


Computerpionier


Larry Tesler nicht das


Copy-and-paste


erfunden, wäre die Welt


heute eine andere.


Nun ist er gestorben


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