Die Welt - 22.02.2020

(Barré) #1

M


ehr als vier Jahre ist es her,
dass Justin Bieber sein letztes
Album, „Purpose“, veröffent-
licht hat. Es war sein größter
Erfolg. Songs wie „What Do U
Mean?!“ und „Sorry“ liefen öfter im Radio als
die Nachrichten. „Love Yourself“ wurde die
wahrscheinlich beliebteste Art, Schluss zu
machen. Bieber mischte zuckersüßen Pop mit
EDM-Balztanz-Beats und eingängigen Re-
frains. „Purpose“ erreichte Platz eins der
Charts in den USA, der Schweiz und Kanada,
erhielt in vier Ländern vierfach Platin-Status.

VON LAURA SOPHIA JUNG

Die Pop-Maschinerie um den kanadischen
(Ex-)Teenstar lief wie am Schnürchen. „Pur-
pose“ wurde als Coming-of-Age-Album insze-
niert. Es sollte zeigen, dass Justin aus seinen
Fehlern (von A wie Affe als Haustier halten bis
Zwie zugedröhnt Auto fahren) gelernt hatte.
Es sollte aber auch zeigen, dass von diesen
Fehlern Spuren geblieben waren: ein Sixpack,
viele Tattoos und ein perfekter Schlafzimmer-
blick. Diese neue Dreifaltigkeit löste die alte
aus Pilzkopf, zu großer Gitarre und Zahnpas-
talächeln offiziell mit der Calvin-Klein-Werbe-
kampagne ab, die Bieber im Jahr 2015 – ober-
körperfrei und mit einer Beule in der Unterho-
se, die zu Spekulationen anregte – zierte.
Doch trotz durchtrainiertem Körper, einem
wirklich guten Pop-Album und wohlkalkulier-
ter Promotion wurde „Purpose“ nicht der er-
hoffte Neubeginn für Bieber, sondern ein Ein-
schnitt. Auf der gigantesken Welttournee, die
fast zwei Jahre ging, wurde dem Menschen
hinter der Maschinerie alles zu viel. Nach
knapp 150 Konzerten brach Bieber zusammen.

Der Rest der Tour wurde abgesagt. „The
Biebs“, wie ihn seine Fans liebevoll nennen,
verschwand in der Versenkung, um seine
mentale und körperliche Gesundheit zu
schützen, wie es damals hieß.
In den darauffolgenden Jahren gab es zwar
immer wieder Lebenszeichen wie seinen Re-
mix von „Despacito“ und einige Features. Auf
ein neues Album ließ Justin seine Fans jedoch
warten. Bis jetzt. Am Valentinstag erschien
„Changes“, sein fünftes Studioalbum. Nach
der für Social-Media-Aufmerksamkeitsspan-
nen sträflich langen Auszeit hat Biebers Mana-
gement in Sachen Marketing alle Register ge-
zogen, um „Changes“ zu der Erfolgsgeschich-
te zu machen, die das Ding jetzt werden muss.
In erneut neuem Look (ein Schnorres, für
den eigens ein Diminutiv erfunden werden
sollte) smalltalkte Justin sich in den vergan-
genen Wochen durch sämtliche Abendshows.
Hockeyspielen mit Jimmy Fallon, Sextalk mit
Ellen Degeneres, nichts blieb Bieber erspart.
Manches ließ er nur mit geradeso würdevoller
Miene über sich ergehen. Die erste Single
„Yummy“, rosarot und zäh wie ein viel zu sü-
ßer Kaugummi, wurde als TikTok-Hit konzi-
piert. Bieber höchstpersönlich legte sich ei-
nen Account auf der Plattform zu, um seinen
Fans vorzumachen, wie man in einem 15-Se-
kunden-Clip zu dem Tropical-House-Beat
tanzt. In den sozialen Medien erklärte er sei-
nen Fans, den Beliebern, wie sie die Charts
manipulieren können: einfach „Yummy“ die
ganze Nacht in Dauerschleife durchlaufen las-
sen. Und Fans, die nicht in den USA leben,
sollten einen VPN-Server nutzen, damit ihre
Streams trotzdem für die amerikanischen
Charts gewertet werden. Es reichte trotzdem
nur für Platz zwei. Für einen Star von Biebers
Kaliber ist das schon eine Niederlage. Für das
Album legte man in Sachen Promo noch mal
nach: Die YouTube-Serie „Seasons“ präsen-

tierte den – wieder mal – neuen Bieber in zehn
Episoden von maximal fünfzehn Minuten.
Beliebern wurde darin ein Einblick in das
Leben ihres Idols versprochen, in die „good
seasons and bad seasons“. Ob sich wohl viele
an eine gewisse deutsche Vorabendserie erin-
nert fühlten? „You wanna start by talking
about the last four years?“, wird Bieber im
Trailer gefragt. Seine Antwort: „Wow.“ Gene-
rische Klaviermusik setzt ein. Anders als die
gerade auf Netflix erschienene Dokumentati-
on „Miss Americana“, die die ähnlich harten
und formativen vergangenen Jahre im Leben
von Taylor Swift beleuchtet und dabei das in-
time Porträt einer großen Künstlerin zeich-
net, ist „Seasons“ ganz klar Mittel zum
Zweck. Die Serie ist ein Album-Teaser auf
Filmlänge. Größtenteils wird der Produkti-
onsprozess von „Changes“ begleitet. Immer
wieder gibt es als kleine Appetithappen, die
sich auf das Private fokussieren: die vergan-
genen Drogeneskapaden und depressiven
Phasen (bad seasons), die Beziehung zu sei-
ner Ehefrau und das häusliche Leben (good
seasons). Ansonsten singt Justin viel,
schreibt manchmal ein bisschen, lässt sich
Texte und Songideen zeigen. Sogenannte
WWWeggefährten und Freunde kommentiereneggefährten und Freunde kommentieren
das angemessen.
Das Endergebnis ist ein durchschnittliches
Album – Marketing hin oder her. Wäre „Chan-
ges“ ein Date, würde man sagen, dass es ganz
nett war, und den Typen dann nie wiederse-
hen. Es ist sonnig und belanglos wie ein Sonn-
tag in den Sommerferien. Voll mit Musik, die
nicht beim Bügeln stört. Justin Bieber war nie
für avantgardistischen Sound und Klangexpe-
rimente bekannt, sondern für seine schöne
Stimme und das dazu passende Äußere. Im-

Justin lässt keine Zweifel daran, dass er und
seine Frau sehr viel Sex haben. Wenn sie wü-
tend ist, darf sie es an ihm auslassen („Take It
Out On Me“), denn sie ist sein „bonafide stal-
lion“ („Yummy“). Für einen Moment horcht
man auf: die Frau ein Hengst? Werden etwa in
der streng christlichen Ehe der Biebers alte
Rollenbilder durchbrochen?
Leider deutet außer der fraglichen Songzei-
le nichts darauf hin. In „Seasons“ zeigt sich
das junge Ehepaar wie frisch zurück aus den
Flitterwochen in den fünfziger Jahren. Hailey
unterstützt Justin bei der Arbeit. Sie sorgt da-
für, dass er seine Medikamente rechtzeitig
nimmt, erinnert ihn daran, gesund zu essen
und genügend zu trinken. Sie wacht sogar ne-
ben der Sauerstoffkabine, in die sich Justin
zurückzieht, um seine Angstzustände in den
Griff zu bekommen. Bei jeder Zeile, die er
singt, hängt sie an seinen Lippen oder in sei-
ner Nähe am Handy. Alle, vom Manager bis zu
Justins Mutter, sind sich einig: Sie hat aus ihm
einen besseren Mann gemacht. Und Justin
singt: „It’s a blessing that you’re in my life,
make me look even better.“ („That’s What
Love Is“) Die Frau als bemutternde Muse.
Kein Hengst, sondern Heilige.
Zueinandergefunden haben Hailey und Jus-
tin passenderweise durch Gott. Nach einer
kindlichen Freundschaft und einer kurzen Ro-
manze hatten sich ihre Wege getrennt, bis sie
sich bei einer Messe der Hillsong Church wie-
dertrafen, wie Hailey in „Seasons“ berichtet.
Dann ging es schnell – nach kurzer Dating-
phase direkt zur standesamtlichen Hochzeit.
Denn: kein Sex vor der Ehe. Seither offen-
sichtlich viel Sex in der Ehe, mal mit weichem
Tenor, mal mit Falsette-Stimme besungen.
Natürlich ist so eine Bilderbuchehe ein gro-

ßer „Change“, nur leider kein besonders span-
nender für Außenstehende. Kein einziger der
über ein Dutzend konturlosen Sex-Songs
macht Lust auf Sex. Oder Ehe. Oder Monoga-
mie. Es gäbe so viele andere Dinge, über die
man sich einen Song von Justin Bieber ge-
wünscht hätte. Sei es der Haustieraffe, der ihn
in Konflikt mit dem Gesetz brachte, oder die
Tatsache, dass Bieber einen Zauberwürfel in
unter zwei Minuten lösen kann. Eine Anlei-
tung auf einem R&B-Beat, der das Klicken des
Würfels einbaut, hätte ein Hit werden kön-
nen. Auch eine clubtaugliche Hymne über den
kanadischen Nationalsport Hockey hätte dem
Album bestimmt gutgetan.
Trotzdem kann man sich aufrichtig für Jus-
tin freuen. „Changes“ transportiert die Bot-
schaft: Es geht ihm gut. So gut, dass er jetzt
anderen helfen will. So macht er mit dem Vi-
deo zur Single „Intentions“ auf das Alexan-
dria House in Los Angeles aufmerksam, eine
Anlaufstelle für in Not geratene Frauen. Ge-
meinsam mit Rapper Quavo ließ er sich dabei
filmen, wie sie einige der Frauen besuchten
und ihnen Geschenke machten. Dazu
schmachtet Justin feinste Inspirationsporno-
Zeilen wie „Heart full of equity, you’re an as-
set“. Dank des eingängigen Beats und der
schönen Bilder möchte man fast sagen: Es ist
der beste Song des Albums.
Er zeigt aber auch, wie problematisch Jus-
tins Wille zur Hilfe ist. Es hat etwas von
christlichem Missionartum, wie er in das
Hilfsprojekt einreitet, Geschenke verteilt und
ein paar schöne Schnittbilder mit den Be-
schenkten dreht. Dann der Abspann: Justin
hat einen Fonds mit 200.000 Dollar einge-
richtet, hier könnt ihr spenden. Es ist in HD
inszenierte christliche Nächstenliebe, bei der
man gerne zusieht. Danach fühlt man sich, als
hätte man selbst etwas Gutes getan. Echter
„Change“ ist das aber nicht.

JOE TERMINI/UNIVERSAL MUSIC

Inszenierte


Nächstenliebe


Justin Bieber war nach


seinem Welterfolg „Purpose“


verschwunden. Sein


neues Album „Changes“


entscheidet nun


darüber, wie es


weitergeht


mer noch kann man auf YouTube den zwölf-
jährigen Justin sehen, wie er in grieseligen
Homevideos Cover von R&B-Songs singt.
Diese Videos, von seiner Mutter bei Gesangs-
wettbewerben und zu Hause im kanadischen
Stratford aufgenommen, wurden der Grund-
stein für seinen Erfolg.
Talentmanager Scooter Braun entdeckte
ihn online und nahm ihn unter seine Fittiche.
Da ist Justin bis heute geblieben. Braun ist für
den Sohn einer alleinerziehenden Mutter Va-
terersatz, auch wenn er den Habitus eines ewi-
gen Fratboys hat. Vor allem aber hat Braun ein
Gespür für das richtige Marketing. Statt den
Zwölfjährigen sofort in die Industrie einzu-
speisen, ließ er ihn weiter YouTube-Videos in
schlechter Qualität machen. Es sollte authen-
tisch wirken, süß und harmlos. Es funktionier-
te. Justin Bieber wurde mit gerade mal 15 zum
ersten Popstar, den YouTube hervorbrachte.
Seine Karriere folgte dann dem üblichen
Weg: von ausverkauften Stadien als Schwie-
germuttersliebling zum Bad Boy par excellen-
ce inklusive diverser Festnahmen. Dann Reue,
Rückfall und schließlich Rückzug. Seine Mu-
sik folgte dabei der Chronologie der Pubertät:
erst Songs für Schwärmereien im Kinderzim-
mer („One Time“, „Baby“), dann für erste
Gehversuche in Sachen romantischer Bezie-
hung („Boyfriend“) und schließlich hormo-
nelles Chaos („What Do You Mean?“).
Jetzt ist Justin 25. Er hat die Pubertät hin-
ter sich gelassen, wieder zu Gott gefunden,
geheiratet. Deshalb dreht sich in „Changes“
auch alles um die Liebe – entweder die zu sei-
ner Frau Hailey oder die zu Gott. Die Über-
gänge sind dabei fließend. Bieber singt in
kaum voneinander unterscheidbaren Songs
davon, dass Liebe Gewohnheit ist („Habitu-
al“), die im besten Falle ewig hält („Forever“).
Dabei soll allerdings auf keinen Fall der Ein-
druck entstehen, Monogamie sei langweilig.

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22.02.20 Samstag, 22. Februar 2020DWBE-HP


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DIE WELT SAMSTAG,22.FEBRUAR2020 DAS FEUILLETON 31


mann Benoît Delhomme. Der Regisseur.
Die Witwe von Eugene Smith. Es dauert,
bis Depp sich auf Betriebstemperatur ge-
redet hat. Selbst dann stockt er noch.
Stolpert hinter seinen Gedanken her.
Sucht Worte. Beißt ins Mikrofon. Bedankt
sich bei allen. Verbeugt sich vor allen. Er
ist gerührt.
Wichtig war ihm das Projekt. Johnny
Depp, sagt Levitas, sei der Motor gewe-
sen. Ein Journalist aus Japan erzählt, dass
die Leute in Minamata, die Opfer, die heu-
te noch leben, erstaunt waren, wie ähn-
lich Depp dem Fotografen gewesen sei,
den er darstellt. Drei Stunden, heißt es,
habe es gedauert in der Maske. Von Ver-
antwortung ist viel die Rede. Für die Op-
fer von damals, für die Jungen von heute.
Ein Zeichen zu setzen, dass so etwas, das
immer noch nicht zu Ende ist, nie wieder
geschehen darf.
Das ist „Minamata“ tatsächlich gewor-
den. Ein Denkmal, ein Mahnmal, ein le-
bendiges, gegenwärtiges. Andrew Levitas
fffolgt dem Buch, das Eugene Smith mitolgt dem Buch, das Eugene Smith mit
seiner japanischen Frau Aileen 1972, ein
Jahr nach der „Life“-Reportage heraus-
brachte. „Minamata“ heißt es, „The story
of the poisoning of a city, and of the
people who choose to carry the burden of
courage“.
Es ist der Entwicklungsroman eines in
Welt- und Selbstekel Ertrinkenden. Keine
Heldengeschichte eigentlich. Oder doch.
Die Geschichte vieler Helden, die das Le-
ben ertrugen, die ihre Kinder sterben sa-
hen, kränker und kränker wurden, irgend-
wann aufbegehrten, irgendwann laut wur-
den, mit vergiftetem Fisch auf die Sicher-
heitsleute warfen und irgendwann W. Eu-
gene Smith aus dem Abklingbecken seiner
Existenz herausrissen. Mitrissen. Über
die Grenzen zwischen den Kulturen („Mi-
namata“ ist auch eine Variation von „Lost
in Translation“ – einmal sitzt Smith/Depp
vor einem kitschigen Sonnenuntergang
und trinkt jenen Whisky, für den Bill Mur-
ray in Sofia Coppolas Japanverwirrungs-
film Werbung macht). Über die Mauern

ray in Sofia Coppolas Japanverwirrungs-
film Werbung macht). Über die Mauern

ray in Sofia Coppolas Japanverwirrungs-

der Fremdheit.
Levitas’ Film erzählt diese Geschichte,
wie Smith seine Bilder baute. Zeigt das
Elend, stellt es nicht aus. Gibt den Opfern
ihre Würde, ihren Stolz, ihre Schönheit
wieder. Und klagt die Schuldigen an.
Ging nicht ganz so gut aus, wie der
Film endet. Die Menschen von Minamata
wurden finanziell wenigstens ein biss-
chen versorgt, nicht genug für das Leiden,
das, wie Aileen Smith in der Pressekonfe-
renz schilderte, eben bis heute andauert.

W. Eugene Smith wurde bei einer De-
monstration vom Chisso-Werkschutz
derart zusammengetreten, dass sein Au-
genlicht sich nie mehr vollständig davon
erholte. 1978 ist er gestorben. An den Mi-
namata-Folgen, den Folgen von Alkohol,
Medikamentensucht, von einem exzessi-
ven Leben – und schlussendlich einem
Schlaganfall.
Die Kraft des Kleinen habe er gelernt
aus der Arbeit in Minamata und mit „Mi-
namata“. Dass es gegenüber einem über-
mächtigen Gegner nicht hilft, ihn allein
anzuschreien, nicht zu versuchen, ihn al-
lein auszuhebeln. Es hilft allein, an einer
Stelle anzufangen, die Mauer aufzupi-
cken. Dann kommen andere und helfen.
Wir alle sind die Kleinen, sagt Depp,
immer wieder, vor einem übergroßen
Gegner. Jetzt könnten wieder die Küchen-
psychologen übernehmen. Besser nicht.
Ist auch egal. Johnny Depp ist als Charak-
terschauspieler wieder da. Vermisst ir-
gendjemand Captain Jack Sparrow?

V


ielleicht würde manch eine(r) ihn
sich gern so vorstellen. Ein Mann,
in der Dunkelkammer seiner Seele.
Ein Mittfünfziger, der zu viel gesehen hat.
Trinkt zu viel. Wirft zu viel ein. Alles ist
ihm zu nahe gekommen. Gespenster ver-
folgen ihn. Er hat sich abgeschlossen von
der Welt. Wütet in sich, gegen sich und
gegen all jene, die ihn nicht verstehen
wollen und seine Kunst erst recht nicht.
Also gegen alle.

VON ELMAR KREKELER

Die Rede ist eigentlich von W. Eugene
Smith. Der hat die Reportagefotografie
revolutioniert. Mit Fotoessays für „Life“
vor allem. Mit Kriegsreportagen. Smith
war im Pazifikkrieg dabei. In Iwojima.
Wurde schwer verwundet. Ein Liebender.
Einer, der das Leben einfangen wollte mit
der Kamera, so wie es ist: „Es gibt schon
genug Schein und Täuschung.“ Der die
Welt zeigen wollte mit kaltem und mit-
fühlendem Blick, ihre Wahrheit, und sie
verändern. Ein Schwieriger, der auf der
Fotografie nicht nur als journalistisches
Bei-, sondern als Kunstwerk beharrte.
Kompromisslos. Am Ende – nachdem er
sich an allen Wänden seiner Profession
das Hirn blutig geschlagen hatte und es
sich mit allen verscherzt – allein.
Man braucht nicht allzu viel küchen-
psychologischen Feinsinn und Boshaftig-
keit mitbringen, um Parallelen herzustel-
len zu jenem Mann, von dem jetzt auch
die Rede sein muss, weil er im Berlinale
Special in „Minamata“ von Andrew Levi-
tas W. Eugene Smith ist. Grau gelockt,
überwuchert von einem stoppeligen Bart,
bebrillt, verschattet von einer Ernesto-
Cardenal-Ähnlichkeitskappe, kaum zu er-
kennen.
Depp ist jetzt ungefähr so alt, wie
Smith war, als er 1971 von einem Auftrag
fffür „Life“ und einer schönen, mutigenür „Life“ und einer schönen, mutigen
Japanischübersetzerin aus seiner Dun-
kelkammer, die sein New Yorker Apart-
ment war, herausgeholt wurde. Nach Mi-
namata, ein 25.000-Seelen-Kaff, wo Tau-
sende Menschen starben, Kinder missge-
bildet auf die Welt kamen, weil das Che-
mieunternehmen seit den 30ern ungefil-
tert Quecksilber in die Bucht vor Mina-
mata leitete, bei dem alle arbeiteten, die
nicht gerade Fischer waren, dem ein
Viertel des Stadtgebiets gehörte und das
die Hälfte aller Steuereinnahmen der Ge-
meinde zahlte.
Und Depp schien, als er im vergangenen
Jahr in Japan drehte, ähnlich ins Abseits
geraten zu sein wie
Smith in den frühen
7 0ern. Jack Sparrow
durfte er nicht mehr
spielen. Gegen seine
WWWeiterbeschäftigungeiterbeschäftigung
als hitleresker Zaube-
rer Grindelwald in J. K.
Rowlings „Phantasti-
sche Tierwesen“-Fil-
men gab es Proteste.
Folge eines Rosenkrie-
ges mit seiner Ex-Frau
Amber Heard. In des-
sen Verlauf die Schau-
spielerin, die fünf Jahre
mit Depp zusammen
und 15 Monate mit ihm
verheiratet war, ohne
Depps Namen zu nen-
nen, insinuierte, sie sei
Opfer häuslicher Ge-
walt geworden.
Ein Vorwurf, der – so
rechnete es Depps An-
waltschaft jedenfalls in
einer Klage gegen
Heard vor – ihn wegen
entgangener Rollen einen Verlust von 50
Millionen Dollar kostete. Der sich aber
endgültig nicht mehr halten ließ, als Depp
nicht nur seine – angeblich nach einem
Übergriff Heards – verlorene Fingerkup-
pe ins Feld führen konnte. Sondern im
vergangenen Jahr auch Tonbandmit-
schnitte von Telefonaten und Therapie-
sitzungen, die – der „Daily Mail“ zuge-
spielt – den Eindruck nahelegten, dass
nicht Heard, sondern Depp das Miss-
brauchsopfer in diesem Fall war.
„Minamata“ könnte – eine küchenpsy-
chologische Theorie – für Depp gewesen
sein, was Minamata für W. Eugene Smith
war. Depp sieht jedenfalls keinen Tag äl-
ter aus als 40, als er in der Pressekonfe-
renz ankommt. Mit leicht angeranztem
Hut auf dem Kopf, unter dem sich Haare
rauszauseln, die bemerkenswert unange-
graut sind, etwas zu große getönte Brille,
Holzfällerhemd hochgeschoben über Un-
terarmen mit erklärungsbedürftigen Tat-
toos. Die Kollegen sind da. Der Kamera-

Aus der Dunkelkammer


der Seele


Johnny Depp zeigt sich auf der Berlinale


und in „Minamata“ als Charakterdarsteller


Die Welt zeigen, mit mitfühlendem Blick: Johnny Depp

AP

/MARKUS SCHREIBER

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