von silke bigalke
E
in Balkon über den Dächern der
Stadt, welch schöner Ort könn-
te das sein. Von dort oben sind
die goldenen Kuppeln der
nächsten Kirche zu sehen, der
Lärm der vielspurigen Moskauer Straßen
scheint weit weg. Eine Fensterfront hält
den Wind fern, macht den Balkon zum klei-
nen Wintergarten, trotzdem fällt genug
Sonne herein. Ein Ort für den gemütlichs-
ten Stuhl der Wohnung, für den Kaffee am
Morgen, für Urlaubsgefühl. Doch all das ist
er nicht, der russische Balkon, auch nicht
in Moskau. Dort ist er selten Luxus und oft
Notwendigkeit. Denn auf ihren Balkonen
heben die Russen all das auf, was gerade
nicht gebraucht wird, aber vielleicht doch
noch nützlich werden könnte. Winterrei-
fen beispielsweise und den alten Kühl-
schrank, der dort draußen zwar keinen
Strom hat, aber allemal als Regal taugt.
Der Balkon ist der Ort für überflüssige
Elektrogeräte, für gut gefüllte Einmachglä-
ser, für Wäscheleine, Müllsack, Staubsau-
ger und Bügelbrett. Für Opas alte Holzski.
Es gibt mehrere Gründe für diese Bal-
konpolitik. Zum einen sind Moskauer Woh-
nungen klein und dicht bewohnt, zwei Zim-
mer für eine vierköpfige Familie keine
Seltenheit. Die Küchen, an deren kleinen
Tischen sich das ganze Leben abspielt,
sind winzig. Wohnzimmer werden nachts
zu Elternschlafzimmern, Esszimmer gibt
es selten, Gäste- oder Arbeitsräume fast
nie. Deswegen dient der Balkon als Abstell-
raum, sorgt für Entspannung in der Enge.
Denn trotz des Platzmangels sammelt
sich viel an. Neun von zehn Moskauer Woh-
nungen sind Eigentum, ihre Bewohner zie-
hen eher selten um. Mit der Wohnung wird
vieles von Generation zu Generation wei-
tergegeben, bleibt einfach da. Selbst wer
nur mietet, muss damit rechnen, umgeben
von den Besitztümern seines Vermieters
zu leben. Der lässt oft nicht nur die Möbel
stehen, sondern die Schränke gefüllt mit
Büchern, Geschirr und Wäsche zurück.
„Mein Zuhause ist meine Festung“, lautet
ein häufiger Spruch in Russland. Daheim
redet ihnen niemand rein, zumindest meis-
tens nicht.
Die private Wohnung wurde in den Fünf-
zigerjahren für die Russen zu etwas, das
sie sich eigentlich schon abgewöhnt hat-
ten: etwas Eigenes, die eigenen vier Wän-
de. Genau das war im Sozialismus der
Sowjetunion zum einen verpönt. Zum an-
deren herrschte über Jahrzehnte großer
Wohnungsmangel. Nach der Revolution
1917 waren die Bevölkerungszahlen vor
allem in Moskau stark gestiegen. Industria-
lisierung und Kollektivierung, und später
die Zerstörung durch den Krieg, trieben
immer mehr Menschen vom Land in die
Städte.
Um alle Menschen unterzubringen, wur-
den Wohnungsbesitzer im sowjetischen
Staat enteignet und bekamen Mitbewoh-
ner. Es entstanden beengte Zwangsge-
meinschaften, die sogenannten Kommu-
nalkas: ein Zimmer pro Familie, ein Bad
für alle. Manchmal wurde selbst das Bade-
zimmer zum Wohnraum, dann landete die
Badewanne in der Gemeinschaftsküche.
Wo sich in den Kommunalkas mehrere Fa-
milien ein Zimmer teilen musste, schoben
sie Schränke in Durchgänge, um etwas Pri-
vatsphäre zu schaffen. Bis heute gibt es sol-
che Wohngemeinschaften in Moskau und
Sankt Petersburg, dort lebt meist, wer sich
keine andere Bleibe leisten kann.
Mitte der Fünfzigerjahre versuchte Niki-
ta Chruschtschow, der Wohnungsnot mit
schnell und billig gebauten Häusern aus
Betonplatten zu begegnen. Er versprach
den Russen, die in ihren Kommunalkas
vor dem Klo Schlange stehen mussten, ei-
ne kleine eigene Wohnung. Innerhalb von
15 Jahren zogen mehr als 130 Millionen
Menschen in eine der Plattenbauten um,
die später etwas despektierlich „Chruscht-
schowka“ getauft wurden. Die waren nicht
höher als fünf Stockwerke, hatten keinen
Aufzug und sehr dünne Wände. Vor allem
aber sollten sie nicht ewig halten, viele ste-
hen dennoch bis heute. Und viele der heute
12,5 Millionen Moskauer leben noch in
einem solchen Bau.
In Moskau hat Bürgermeister Sergej Sob-
janin nun vor drei Jahren beschlossen, dass
die alten Fünfstöcker verschwinden müs-
sen. Und wohl nicht nur die: Mehr als
5000 Gebäude mit insgesamt 350000 Woh-
nungen sollen abgerissen werden, ganze
Wohnblocks neuen Bauprojekten weichen.
Mehr als eine Million Moskauer müssen
nach Sobjanins Plänen in den kommenden
Jahren umziehen. Das Prinzip „Mein Heim
- meine Festung“ gilt für sie plötzlich nicht
mehr. 2017 gab es Proteste gegen diese Plä-
ne, weil sich die Bewohner enteignet fühl-
ten, sie den Behörden nicht trauen, weil wie-
der einmal über ihre Köpfe hinweg entschie-
den wurde, wie und wo sie leben sollen.
Doch der Widerstand war kurz und brachte
wenig. Die ersten Wohnhäuser sind längst
abgerissen.
Überhaupt verändert sich Moskau
schneller als andere Städte. Sobjanin hat
sie in kürzester Zeit durchrenoviert, könn-
te man sagen. Er hat dafür seit 2010 fast so
viel Geld ausgegeben, wie im selben Zeit-
raum ins gesamte restliche Russland ge-
flossen ist, nämlich 1,5 Billionen Rubel, er-
rechnete die WirtschaftszeitungWedomos-
ti. Sobjanin hat dafür Parks verschönert,
neue Fahrradwege und Metrostationen ge-
baut, Beleuchtung und Kanalisation ver-
bessert, Bürgersteige vergrößert und neu
gepflastert. Manchmal ist fast unheimlich,
wie geschmiert die Dinge laufen, wie
pünktlich die Metro fährt, wie eifrig der
Schnee geschaufelt wird, wie die Weih-
nachtsbeleuchtung von Jahr zu Jahr auf-
wendiger wird. In der Innenstadt sieht
man selbst um zwei Uhr nachts noch Arbei-
ter mit Handfegern die Bürgersteige keh-
ren, und zwar nicht nur auf den großen
Touristenstraßen.
Nicht immer waren die Hauruck-Ver-
schönerungen nachhaltig. Die neuen Bord-
steinpflaster beispielsweise wackeln und
verrutschen an vielen Stellen. Als Tausen-
de Moskauer im Sommer gegen manipu-
lierte Lokalwahlen demonstrierten, wurde
ihre Wut über Sobjanins wackelnde Pflas-
tersteine zu einem ihrer Protestrufe – stell-
vertretend für all das, was in der Moskauer
Politik für sie schiefläuft. Dabei wollten
Bürgermeister und Kreml die kritischen
Großstädter mit den frisch gepflasterten
Wegen wohl eigentlich vom Demonstrie-
ren abhalten, vermuten Kritiker: Ein neu-
es, moderneres, grüneres, saubereres Mos-
kau sollte die Menschen nach den Protes-
ten 2011 und 2012 friedlich stimmen. Ande-
re vermuten hinter den Renovierungsakti-
onen neue Chancen für Korruption und
Vetternwirtschaft. Wieder andere kritisier-
ten, dass das Geld in Schulen und Kranken-
häusern dringender gebraucht werde als
für neue Parkbänke.
In ihren Wohnhäusern haben sich die
Moskauer an Pfusch gewöhnt. Daran etwa,
dass Fahrstühle nicht fahren und dass im
Sommer tagelang das warme Wasser abge-
stellt wird, für Wartungsarbeiten. Früher
waren es noch mehrere Wochen, in denen
sie kalt duschen mussten, wer wird also
klagen. Im Winter wird es dafür kuschelig
warm, in vielen Gebäuden läuft die Hei-
zung dann durchgehend auf Hochtouren.
Die Bewohner können sie nicht individuell
runterdrehen und regulieren die Zimmer-
temperatur, indem sie die Fenster aufrei-
ßen. Ein ökologischer Albtraum, doch für
die Moskauer bisher kein Grund für Pro-
test. Überhaupt fühlen sie sich meist nicht
zuständig für das, was jenseits ihrer Woh-
nungstür passiert.
Denn Heizung, Wasser, Aufzug, Dach
und Müllabfuhr sind Dinge, um die sich
früher der Staat kümmerte – oder eben
nicht. Das blieb auch lange noch so, nach-
dem viele Wohnungen seit den Neunziger-
jahren privatisiert wurden. Damals konn-
ten viele Russen die Wohnung, in der sie ge-
rade lebten, kostenlos übernehmen. Erst
später wurden die riesigen Hausverwaltun-
gen ebenfalls privatisiert. Heute teilen gro-
ße Verwaltungsfirmen Moskau unter sich
auf, sammeln von den Bewohnern monat-
lich Geld für künftige Verbesserungen ein.
Das System könnte besser sein: Nach offizi-
eller Statistik warten allein in Moskau
knapp 28000 Wohnhäuser auf eine Grund-
renovierung.
Solange wird mehr schlecht als recht ge-
flickt, was nicht mehr hält. Im Internet kur-
sieren lustige Fotos von russischen Reno-
vierungspannen: von Türen, die sich nicht
mehr öffnen lassen, weil Rohre oder Trep-
pengeländer falsch verlegt wurden. Fotos
von windschiefen Fenstern und von Was-
serhähnen, die am Waschbecken vorbeizie-
len. Von Waschmaschinen, die aus Platz-
not halb in die Wand versenkt worden
sind, von Kabel- und Rohrsalat. Über vie-
les kann man lachen – und hoffen, dass
nichts Schlimmeres passiert. Wie Mitte Ja-
nuar beispielsweise, als in der russischen
Stadt Perm ein altersschwaches Rohr
brach und mehrere Hotelzimmer mit hei-
ßem Wasser flutete. Fünf Menschen star-
ben. In Moskau starb im November eine
85-jährige Frau an einem Schlaganfall,
weil sie im Lift ihres neuen Wohnhauses ge-
fangen war. Der war vorher schon öfter ste-
cken geblieben, doch niemand hatte etwas
unternommen. Umso frustrierender die
Lage draußen, umso wichtiger ist es den
Russen, es sich drinnen gemütlich zu ma-
chen. Sie stellen dafür oft große Sofas und
Schrankwände ins Wohnzimmer, stellen
Familienfotos, gutes Geschirr, Kristallglä-
ser und andere Erbstücke hinein. Minima-
lismus, wie er in Westeuropa modern ist,
erscheint vielen beinahe blasphemisch.
Das Online-Magazin „Dom i Semja“ (Haus
und Familie) hat kürzlich versucht, den
russischen Lesern diese Geschmacksun-
terschiede zu erklären: Die Europäer,
schreibt das Magazin, schätzten Licht und
Luft in ihren Räumen, „russische Zimmer“
seien oft voller und bunter. Der Grund
dafür sei „ein Streben nach Gemütlich-
keit“, ausgelöst von einer „ungemütlichen
und sogar aggressiven Umwelt“. Zu Hause
verstecke man sich vor dem Stress drau-
ßen und versuche, ein „Defizit an Schön-
heit“ auszugleichen. „Daher kommt der
Wunsch, die Wohnung maximal zu schmü-
cken.“ Und maximal schmücken heißt oft,
maximal vollzustellen.
Gut also, dass es Balkone gibt, auf die
man alles verbannen kann, was sonst kei-
nen Platz findet. Eine Angewohnheit übri-
gens, die ansteckend ist, auch für Zugezo-
gene. Selbst die besten Vorsätze, ein Blüm-
chen auf die Fensterbank zu stellen und
Sonne reinzulassen, weichen der alten Rei-
setasche, dem überflüssigen Tisch, den
drei Putzeimern, von denen man eigent-
lich nur einen braucht. Könnte alles noch
mal nützlich werden. Man weiß ja nie.
Im Internet kursieren
jede Menge lustige Fotos von
Renovierungspannen
„Mein Zuhause ist meine Festung“, lautet ein häufiger Spruch in Russland. Das Foto entstand im Verwaltungsbezirk Moskau. FOTO: VALERY SHARIFULIN VIA WWW.IMAGO
Das kleine
Glück
Platznot, Pfusch am Bau, falsche Versprechen:
Die Moskauer haben sich an vieles gewöhnt.
Hauptsache, die Wohnung ist gemütlich
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Früher war vieles
schlechter, wieso sollte man
sich heute beklagen?
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