interview: christian zaschke
SZ: Mr. Stevenson, stimmt es, dass Sie
noch niemals Alkohol getrunken haben?
Bryan Stevenson: Keinen Tropfen in
60 Jahren. Sie müssen wissen, dass ich in
einem Haushalt aufgewachsen bin, in dem
die Frauen das Sagen hatten. Der unum-
strittene Boss war meine Großmutter. Als
ich acht oder neun Jahre alt war, nahm sie
mich beiseite und sagte: Ich glaube, dass
du etwas Besonderes bist. Ich glaube, dass
du alles erreichen kannst, was du willst.
Versprich mir nur drei Dinge. Erstens: Lie-
be deine Mutter. Zweitens: Tue immer das
Richtige, auch wenn es nicht das Einfachs-
te ist. Drittens: Trinke niemals Alkohol.
Der Einfluss Ihrer Großmutter muss wirk-
lich enorm gewesen sein, wenn Sie sich
bis heute daran halten.
Ja, sie war die Tochter von Menschen, die
noch versklavt worden waren. Sie war zu-
gleich hart und liebevoll. Meinen Geschwis-
tern hat sie übrigens das Gleiche gesagt,
aber die haben zumindest den Punkt mit
dem Alkohol nicht ganz so eng gesehen.
Als ich 16 war, ist sie bei einem Raubüber-
fall in ihrer Wohnung erstochen worden.
Das hat meine Entscheidung, später Jura
zu studieren, sicherlich beeinflusst.
Sie haben in Harvard studiert, einer der
besten Universitäten der Welt.
Das stimmt.
Sie hätten sich nach diesem Studium einer
feinen Kanzlei anschließen können, um
sehr reich zu werden.
Als Student wusste ich zunächst nicht, was
für eine Art Anwalt ich sein wollte. Dann
musste ich für einen meiner Kurse jeman-
den treffen, der zum Tode verurteilt wor-
den war. Ich fuhr also nach Georgia und
traf einen Mann, den niemand vertreten
wollte. Wir waren gleich alt, und wir haben
miteinander geredet. Drei Stunden lang.
Das hat alles geändert.
Inwiefern?
Die Wächter waren sauer. Es dauerte ihnen
alles zu lang. Sie kamen ins Besprechungs-
zimmer und schlugen ihn. Ich flehte sie an,
bitte freundlicher zu sein. Sie zerrten ihn
zur Tür. Und an der Tür schaute er mich an
und sagte: „Bryan, bitte komm noch ein-
mal zurück.“ Und dann begann er zu sin-
gen, was ich wirklich nicht erwartet hatte.
Das hatte so eine Kraft, dass ich in diesem
Moment wusste: Ja, ich will zurückkom-
men, ich will diesen Menschen helfen, de-
nen sonst keiner hilft.
Und Sie kamen zurück.
Ja. Mein Interesse am amerikanischen
Rechtssystem war ab diesem Moment,
wenn man so will, radikalisiert. Ich war ex-
trem fokussiert. Ich hatte jetzt eine Aufga-
be. Ich habe mehr oder weniger in der
Bibliothek gelebt, denn ich wollte alles
wissen, um diesen Menschen dienen und
helfen zu können.
Und dann gingen Sie nach Alabama, nicht
das einfachste Pflaster für Schwarze.
Alabama war der letzte Staat in den USA,
der das Eheverbot zwischen Schwarzen
und Weißen aufhob. Es bestand bis zum
Jahr 2000. Der Staat ist bis heute rassis-
tisch. Bei einem meiner frühen Fälle waren
der Richter und der Staatsanwalt und ich
im Gerichtssaal. Nur mein Klient fehlte.
Nach fünf Minuten sagte der Richter: Glau-
ben Sie, Ihr Anwalt kommt noch?
Meinte er das als Witz?
Nein. Die dachten, der Schwarze kann
nicht der Anwalt sein, der hat sicherlich
was ausgefressen.
Nun gibt es diesen Film über Sie, „Just
Mercy“, Sie sind berühmt.
Das wird vergehen.
Meinen Sie?
Ich bin mir sicher. Ich habe Jahrzehnte hier
gearbeitet, es geht mir nicht um Berühmt-
heit. Es geht mir um die Würde des Einzel-
nen, um die Rechte des Menschen. Ich glau-
be, jedem Mitglied der Gesellschaft steht
etwas zu, und auf jeden Fall steht jedem
einzelnen Gerechtigkeit zu. Wir sind davon
heute meilenweit entfernt.
Woran liegt das?
Das hat natürlich viele Ursachen, aber ei-
ner der Gründe ist meiner Ansicht nach,
dass wir in diesem Land durch eine Zeit ge-
gangen sind, in der wir von einer Politik
der Angst und der Wut regiert wurden. In
den Siebziger- und Achtzigerjahren haben
unsere Politiker einen fehlgeleiteten Krieg
gegen die Drogen geführt. Sie sagten über
Menschen, die abhängig sind – hey, das
sind Kriminelle. Und sie beschlossen, un-
ser Rechtssystem dazu zu benutzen, diese
Leute ins Gefängnis zu bringen. Man hätte
sagen können, diese Menschen haben ein
Problem, um das sich unser Gesundheits-
system kümmern sollte. Aber diesen Weg
haben wir nicht eingeschlagen, weil wir,
wie es hieß, eine harte Linie gegen das Ver-
brechen fahren wollten.
Und das führte wozu?
Wir haben Hunderttausende Menschen
ins Gefängnis gebracht. Die Zahl der Insas-
sen stieg von 300000 auf 2,2 Millionen.
Wir haben die höchste Rate von Gefängnis-
insassen weltweit. Wir investieren Milliar-
den Dollar in unsere Gefängnisse, und wir
haben dieses sehr robuste System errich-
tet, das Leute ins Gefängnis bringt, ohne
ein System zu haben, das sicherstellt, dass
diese Leute schuldig oder verantwortlich
sind für ihre Taten und dass die Urteile ge-
recht sind. Ich glaube, viele unserer heuti-
gen Probleme entspringen dieser Zeit der
Angst und der Wut. Für mich sind Angst
und Wut die maßgeblichen Voraussetzun-
gen für Ungerechtigkeit und Unterdrü-
ckung. Wenn eine Gesellschaft es hin-
nimmt, von diesen Kräften regiert zu wer-
den, dann toleriert sie Dinge, die sie nie-
mals tolerieren sollte.
Und die amerikanische Gesellschaft tut
das Ihrer Ansicht nach?
Wir stecken in diesem Land Kinder in Ge-
fängnisse für Erwachsene, und es gibt Poli-
tiker, die sagen, diese Kinder seien Raubtie-
re. Wir haben 13 Staaten, in denen es kein
Jugendstrafrecht gibt. Das führt dazu,
dass ich als Anwalt zehn Jahre alte Kinder
vertrete, denen 50 Jahre im Gefängnis dro-
hen. Im Gefängnis für Erwachsene. Ich ver-
trete 13 oder 14 Jahre alte Kinder, die in Ge-
fängnissen sitzen, in denen sie misshan-
delt, verprügelt und vergewaltigt werden.
Und ich glaube, dass die meisten Men-
schen nicht wollen, dass so etwas passiert.
Natürlich nicht.
Aber es passiert. Und wir müssen mehr
tun, als einfach nur nicht daran zu denken.
Wir haben das erlaubt. Wir haben uns mit-
schuldig gemacht. Wenn man erlaubt, dass
Angst und Wut eine Rolle im politischen
Prozess spielen, können schreckliche Din-
ge passieren.
Wie meinen Sie das?
Schauen Sie zum Beispiel auf Deutschland
im 20. Jahrhundert, auf das Nazi-Regime.
Schauen Sie auf Ruanda, wo 1994 bis zu ei-
ne Million Menschen ermordet wurden.
Der Fanatismus war in diesen Fällen das
vorherrschende Narrativ.
Man kann von der aktuellen amerikani-
schen Regierung halten, was man will,
aber die USA sind doch nicht mit Nazi-
Deutschland vergleichbar.
Nein, das meine ich auch gar nicht. Wir ha-
ben in diesem Land das Erbe der Sklaverei.
Wir haben das Erbe von Lynchmorden und
Rassentrennung, und es gibt immer noch
das Vorurteil, dass schwarze oder braune
Menschen gefährlich sind. Dass sie schul-
dig sind. Und jetzt nehmen Sie dieses Vorur-
teil und beschuldigen jemanden, irgendet-
was getan zu haben, und das Ergebnis ist
nicht selten, dass diese Menschen vor Ge-
richt schuldig gesprochen und verurteilt
werden, obwohl sie unschuldig sind.
Ist das ein amerikanisches Problem?
Nein, das Gefühl, das jeweils andere dämo-
nisieren zu müssen, ist weit verbreitet. Die-
ses andere kann alles Mögliche sein. Ein-
wanderer. Eine ethnische Minderheit. Je-
mand, der anders aussieht oder eine ande-
re sexuelle Orientierung hat. Für mich als
Anwalt ist es entscheidend, genau dagegen
anzuarbeiten. Es geht mir darum, die
Menschlichkeit und die Würde jeder einzel-
nen Person zu verteidigen. Das ist der
Grund dafür, warum ich vor allem für die
Armen arbeite, die Verachteten, die Verges-
senen. Wir haben uns still und leise davon
überzeugen lassen, dass deren Leben weni-
ger wert sei, dass deren Leben keine Bedeu-
tung habe. Aber ich habe noch nie jeman-
den getroffen, zu dem ich hätte sagen
können, dass sein Leben keinen Wert hät-
te, keinen Sinn oder keine Bedeutung.
Die Dämonisierung des anderen ist seit
jeher Teil der menschlichen Geschichte.
Ja. Ich sage es erneut: Schauen Sie auf
Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Auf die
Ermordung von Millionen Juden. Aber
nach dem Krieg hatten die Deutschen ver-
standen, dass sie diese Vergangenheit, ers-
tens, aufarbeiten müssen, und dass sie ihr,
zweitens, ein neues Narrativ entgegenset-
zen müssen, eine neue Erzählung, wenn
sie nicht für immer als Nazis und Faschis-
ten dastehen wollen. Ich hoffe übrigens,
dass sich in Ihrem Land nicht gerade neues
Unheil am rechten Rand zusammenbraut.
Oder nehmen Sie Südafrika. Nach der
Apartheid gab es ein klares Bekenntnis da-
zu, sich zu ändern. Es gab das Bekenntnis
zu Wahrheit und Versöhnung. Auch in Ru-
anda gibt es Unmengen an öffentlichen Zei-
chen, an Symbolen, die klarmachen, ein
Völkermord darf nie wieder passieren. Wis-
sen Sie, was mir in Berlin immer passiert?
Erzählen Sie.
Die Taxifahrer sagen zu mir: Ich hoffe, Sie
haben Zeit, die Holocaust-Gedenkstätte an-
zusehen. Wenn ich in Berlin bin, erstaunt
es mich jedes Mal, dass man nicht sonder-
lich weit gehen kann, ohne auf die Stolper-
steine zu treffen, die an ermordete Juden
erinnern, die in der Gegend gewohnt ha-
ben. Dann komme ich ins Hotel. Und die Re-
zeptionistin sagt: Ich hoffe, Sie haben Zeit,
die Holocaust-Gedenkstätte anzusehen.
Wirklich?
Jedes Mal. Man wird als Besucher aufgefor-
dert, sich mit diesem Kapitel der deut-
schen Geschichte auseinanderzusetzen.
Gibt es Statuen von Hitler in Deutschland?
Ist das eine ernst gemeinte Frage?
Natürlich.
Vielleicht muss ich mich eines Besseren be-
lehren lassen, aber ich würde behaupten:
keine einzige.
Sehen Sie, das ist der Unterschied.
Der Unterschied wozu?
Waren Sie mal in den Südstaaten?
In den meisten, ja.
Und was haben Sie dort gesehen?
Ich weiß, worauf Sie hinauswollen.
Dort werden die Architekten der Sklaverei
romantisiert. Dort werden die Verteidiger
der Sklaverei geehrt. Mit Statuen. Mit
Denkmälern. In Alabama ist der Tag der
Konföderierten, die im Bürgerkrieg für
den Erhalt der Sklaverei kämpften, ein
staatlicher Feiertag. Wir haben keinen Mar-
tin-Luther-King-Tag. Wir haben einen
Tag, an dem Martin Luther Kings und Ro-
bert E. Lees in gleicher Weise gedacht wird.
Lee war ein Südstaatengeneral, der für die
Sklaverei kämpfte. Wir feiern die Men-
schen, die für den größten Verstoß gegen
die Menschenrechte in der Geschichte die-
ses Landes verantwortlich sind.
Ich habe in der Tat Dutzende dieser Denk-
mäler in den Südstaaten gesehen.
Und was haben Sie gedacht? Vielleicht ha-
ben Sie als Ausländer diese Statuen ein-
fach als Monumente der reichen amerika-
nischen Geschichte gesehen?
So würde ich es nicht sagen. Ich dachte
eher, dass Geschichte komplex ist und
dass man sie nicht löschen kann.
Ich fürchte, es gibt kein Bewusstsein dafür,
was es bedeutet, dass diese Denkmäler da
stehen. Es gibt, anders als in Deutschland,
als in Ruanda oder Südafrika, keine Ände-
rung des Narrativs. Wir feiern bis heute die
Menschen, die für die Sklaverei verant-
wortlich waren, die sie befürwortet haben.
Sind Sie in Berlin dem Rat der Taxifahrer
gefolgt?
Ich war äußerst bewegt vom Holocaust-
Denkmal. Was mich besonders aufwühlte:
Den Besuchern wird zugetraut, ein abstrak-
tes Monument zu betreten, ohne viel Erklä-
rung, und trotzdem den kompletten Hor-
ror zu verstehen. Wir haben in Montgome-
ry, der Hauptstadt Alabamas, ein Denkmal
für die Sklaverei, und das würde nie funkti-
onieren ohne Erklärtafeln. Aber kein Denk-
mal kann wirklich erklären, was die Sklave-
rei war. Ich empfehle Ihnen, den Film „12
Years a Slave“ anzusehen. Der erklärt es.
Ein Hollywoodfilm?
Klar, und „Just Mercy“, der Film über mein
Leben, ist auch ein Hollywoodfilm. Das ist
ja an sich nichts Schlechtes. Natürlich wird
da verkürzt und dramatisiert. Aber ich fin-
de ihn gut, er erzählt das Wesentliche. Wir
leben in einem Land, in dem es bis heute
eine extreme Ungleichheit gibt zwischen
Schwarzen und Weißen. Und bis heute
wird darüber nicht ehrlich gesprochen.
Wie spräche man ehrlich darüber?
Wir haben allein in Montgomery 59 Denk-
mäler für die Konföderierten, die für den
Erhalt der Sklaverei kämpften, und an kei-
nem einzigen gibt es eine Tafel, die erklärt,
was die Sklaverei bedeutet hat. Genau die-
se Art der Erzählung zu ändern, ist das al-
les Entscheidende, und das ist der Grund
dafür, dass ich hier lebe und arbeite.
Bryan Stevenson hat in Harvard
Jura studiert, er hätte als Anwalt sehr reich
werden können. Stattdessen entschied
er sich dazu, nach Alabama zu ziehen, um
sich dort für die Armen, die Benachteiligten,
die Menschen am Rande der Gesellschaft
einzusetzen. Stevenson hat einen langen
Tag hinter sich, als das Gespräch um acht
Uhr abends beginnt. Als er merkt, dass es
länger dauern wird, lässt er sich zur
Stärkung eine heiße Schokolade bringen
Bryan Stevenson, 60, ist Anwalt und
Bürgerrechtler. Geboren wurde er in
der Kleinstadt Milton in Delaware, wo
er auch aufwuchs. Er studierte Jura an
der Universität Harvard. Anschließend
zog er zunächst nach Georgia, dann
nach Alabama. Stevenson setzt sich
dort seit mehr als 30 Jahren für Häftlin-
ge ein, die zu Unrecht verurteilt
wurden, die allermeisten von ihnen
Schwarze. Vor fünf Jahren erschien
sein Buch „Ohne Gnade“, in dem er von
seiner Arbeit und dem alltäglichen Ras-
sismus der amerikanischen Justiz be-
richtet. Den Regisseur Destin Daniel
Cretton hat Stevensons Geschichte zu
einem Film inspiriert: „Just Mercy“ mit
Michael B. Jordan und Jamie Foxx in
den Hauptrollen startet am 27. Febru-
ar in den deutschen Kinos.
„Das Gefühl, das jeweils
andere dämonisieren zu
müssen, ist weit verbreitet.“
„Wir leben in einem Land,
in dem es bis heute eine
extreme Ungleichheit gibt.“
FOTO: SORIANO/LE FIGARO/LAIF
„An der Tür schaute er mich
an und sagte: Bryan, bitte
komm noch einmal zurück.“
BRYAN STEVENSON
ÜBER
SCHULD
56 GESELLSCHAFT DAS INTERVIEW Samstag/Sonntag, 22./23. Februar 2020, Nr. 44 DEFGH
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