Süddeutsche Zeitung - 22.02.2020

(WallPaper) #1

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as bestverkaufte Kostüm in die-
sem Jahr ist in den Karnevals-
kaufhäusern angeblich das Mo-
dell „Joker“. Weil Joaquin Phoenix für
selbige Rolle den Oscar gewonnen hat?
Dann wäre das Trendkostüm nur ein
Beweis dafür, wie fantasielos manche
Männer sind. Zwischenmenschlich lau-
ern damit ganz andere Gefahren. Denn
der Joker verbreitet keine Angst, er hat
sie aber selbst – und zwar vor Zurückwei-
sung. Was Ironie des Schicksals ist, weil
jede Frau vor dem Joker zurückweichen
wird, und sei es nur, um das eigene sexy
Katzenkostüm vor der Mischung aus
Karnevalsschminke und Kneipen-
schweiß zu retten. Ja, lieber unsicherer
Mann, das Lallen ins Ohr einer Frau wird
mit Joker-Schminke ungleich schwerer
als im wahren Leben! Männliche Verwe-
genheit ist natürlich trotzdem der richti-
ge Weg zum Flirtziel. Weil beispielsweise
ein Froschkostüm zwar lustig, aber eben
auch nur das ist. Nur bitte weder zum
Piloten werden (zu eitel) noch zum Wi-
kinger (zu archaisch)! Die Idee des domi-
nanten Schurken ist gut, sollte aber klas-
sisch umgesetzt werden: als Pirat oder
als Arzt. Augenklappen und OP-Kittel –
dies ist der Rat vom Monaco Franze und
einer karnevalserprobten Rheinländerin



  • haben sich über die Jahrzehnte als
    Abschleppverkleidung bewährt. Der
    Pirat suggeriert eine gewisse lustige
    Bodenständigkeit, der Chirurg hingegen
    eher eine präzise Abgründigkeit. Abfuh-
    ren gehören aber im Fasching übrigens
    genauso dazu wie im wahren Leben.
    Dass niemand mit einem reden will, weil
    man irgendwie irr aussieht, allerdings
    nicht. julia werner


von silke wichert

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ie Beerdigung ist fünf Mona-
te her, aber die Tote wirkt auf
den ersten Blick eigentlich
recht lebendig. Zumindest or-
ganisiert sie fünf Tage lang
60 Shows in der ganzen Stadt, von der Ta-
te Modern bis zum Lancaster House. Letz-
te Saison war die London Fashion Week
von den Klimaaktivisten der „Extinction
Rebellion“ (mit einer Zeremonie) offiziell
zu Grabe getragen worden. Sie forderten
das sofortige Ende eines Sys-
tems, in dem jede neue Saison
einen Haufen neue Klamotten
bringe. Aber die britische Mode-
industrie erwirtschaftet elfein-
halb Milliarden Pfund pro Jahr,
sie ist eine der größten Wirt-
schaftszweige des Landes und
die Modewoche ihr hübsches
Aushängeschild. Natürlich wird
hier nicht einfach freiwillig der
Löffel abgegeben.
Statt nun noch eindringli-
cher zu protestieren, sind die
Aktivisten diesmal kaum zu se-
hen. SturmDennisfegte am ver-
gangenen Wochenende durch
die Straßen. Die möglichen Aus-
wirkungen des Klimawandels
kommen ausgerechnet den Kli-
maschützern in die Quere: eine
ganz bittere Ironie.
Aber Umweltfragen sind ja
längst nicht das Einzige, das
der Londoner Modewoche aktuell zu schaf-
fen macht. Was der Brexit bringt – den in
dieser Branche nun wirklich keiner wollte
–, ist nach wie vor unklar. Wird die ohne-
hin schon komplexe Liefer- und Produkti-
onskette, meist über mehrere Länder hin-
weg, mit Zöllen und Papierkram noch kom-
plizierter? Werden britische Kleider des-
halb teurer und damit weniger wettbe-
werbsfähig? Können all die Kreativen aus
der EU weiter in den Ateliers arbeiten? Al-
les Themen, die schon mehrere Saisons im
Raum stehen, gemessen am rasend schnel-
len Takt der Branche also uralt und total
ausgelutscht sind. Folglich ist das „B-
Wort“ nirgends zu hören.
Dafür fällt ständig das „C-Wort“: Coro-
na. Chinesische Journalisten und Einkäu-

fer fehlen, wie schon bei der New York Fa-
shion Week, beinahe komplett. British Air-
ways hat alle Flüge von China nach Groß-
britannien gestrichen. Wer aus den Mode-
zentren Peking und Shanghai anderweitig
hätte anreisen wollen, wurde vorab von
den PR-Abteilungen freundlich darauf hin-
gewiesen, dass das vielleicht keine so gute
Idee sei. Burberry verschickte vor der
Show am vergangenen Montag eine Mail
mit dem Hinweis, man wolle nur noch ein-
mal daran erinnern, dass alle, die in den
letzten vierzehn Tagen in China, Thailand,
Macao, Hongkong et cetera ge-
wesen seien und eventuelle
Symptome aufwiesen, doch bit-
te dem Event fernbleiben soll-
ten. „Damit die Show in einer si-
cheren Umgebung erlebt wer-
den kann.“
Die britische Megabrand
trifft das Virus ohnehin beson-
ders hart. Rund 40 Prozent ih-
res Umsatzes macht sie mit chi-
nesischen Kunden. Weil die
aber gerade andere Probleme
haben als den neuesten Trench-
coat mit Kunstfellbesatz und
viele Läden ohnehin geschlos-
sen sind, dürften die Umsatzein-
bußen gewaltig sein. Und das
ausgerechnet jetzt, wo die Zah-
len unter dem italienischen De-
signer Riccardo Tisci im ersten
Halbjahr 2019 endlich wieder
um 36 Prozent gestiegen wa-
ren. Auch andere Marken stor-
nieren, um schnell Kosten zu sparen, be-
reits reihenweise Anzeigen. Wenn überall
die Fabriken stillstehen, könnte es bei Mar-
ken, die in China fertigen – darunter auch
Namen wie Prada oder Burberry – außer-
dem bald zu Lieferengpässen kommen.
Was tun, wenn sich scheinbar die ganze
Welt gegen einen verschworen hat? Viel-
leicht die alte John-McClane-Taktik („Die
Hard“) anwenden: Jetzt erst recht. Zumin-
dest bei einigen Londoner Designern hat-
te man den Eindruck, sie seien fokussier-
ter, angriffslustiger als sonst. Jonathan
Anderson zeigte für seine Linie JW Ander-
son eine der besten Kollektionen über-
haupt, auch wenn sich Kombinationen
wie „Strickpullover mit Zelluloid-Schnip-
seln auf den Schultern zu schmalem Samt-

Ballonrock“ erst einmal nicht danach an-
hören. Aber genau darauf versteht sich
der Nordire ja so gut: Ein bisschen seltsa-
me Dinge (wie diese Infinity-Zeichen um
die Brustpartie aus der aktuellen Sommer-
kollektion) so gestalten, dass sie nur auf
den ersten Blick verstörend und im nächs-
ten dann gleich ziemlich verlockend ausse-
hen. Für nächsten Herbst stehen bei ihm
vor allem die Schultern im Fokus, Kleider
mit besagten Glitzer-Epauletten wie aus
dem Reißwolf, Mäntel in übertriebener
Trapezform. Das lederne Revers steht seit-
lich wie ausgefahrene Ellbogen ab. Klei-
dung für Frauen, die sich durchboxen,
aber auf coole Art.
Auch bei Burberry, Emilia Wickstead,
Simone Rocha oder Victoria Beckham spie-
len aufwendige Schulterpartien und volu-
minöse Ärmel eine große Rolle. Trench-
coats mit Gala-Dekolleté, voluminöse Keu-
lenärmel, Bänder, die wie eine Stola nicht
auf, sondern durch den Mantel fließen, Är-
mel mit Cut-outs, damit sie die Blusen dar-
unter freilegen. Beckham präsentierte ih-
re Show diesmal im Banqueting House in
Whitehall, dessen Deckenmalerei von Ru-
bens stammt. Die Ambitionen sind also
nach wie vor hoch, die Ansagen deutlich:
Als die ersten Models, allesamt in schwar-
zen, dezent-tief ausgeschnittenen Klei-
dern über den Laufsteg laufen, dröhnt aus
den Boxen Musik der Rapperin Little
Simz: „I’m a boss in a fucking dress“. Back-
stage verrät die Designerin dann noch,
dass sie ihrer Tochter Harper, die die
Show wie immer neben zwei ih-
rer älteren Brüder auf dem
Schoß ihres Vaters verfolgt, vor
der „explicit language“ des
Lieds gewarnt habe.
Beckham will Mode für
selbstbewusste Frauen ma-
chen, die kriegen, was sie sich
in den Kopf setzen. So wie sie
selbst: Ausgerechnet ihrer
Freundin Stella McCartney soll
sie das Kindermädchen ausge-
spannt haben, indem sie der
jungen Frau ein noch lukrative-
res Angebot machte. Laut der
Timeshaben die McCartneys
deshalb die Beckhams für ein
geplantes Essen wieder ausgela-
den. Keine Ahnung, was diese
Super-Nanny alles draufhat, je-
denfalls sorgte dieser Transfer
für eine der lustigeren Schlag-
zeilen der Woche.
McCartney zeigt ihre Kollek-
tionen bekanntlich nicht in ihrer Heimat-
stadt, sondern in Paris. Dabei könnte Lon-
don ihren grünen Daumen gut gebrau-
chen. Denn die Fashion Week lässt sich
zwar nicht totkriegen, will aber umden-
ken. Wie schon bei der Kopenhagen Fa-
shion Week vergangenen Monat sollen
Einweg-Plastikbügel durch recycelte Hän-
ger ersetzt werden. Tommy Hilfiger, der
seine Show in Kooperation mit Lewis Ha-
milton diesmal hier zeigte, errechnete für
die Sause in der Tate Modern einen CO2-
Ausstoß von 1,591 Tonnen, die nun mit
nachhaltigen Projekten in Kambodscha
ausgeglichen werden sollen. Der Ire Ri-
chard Malone entwarf eine komplett kom-
postierbare Kollektion aus natürlich ge-
färbter Merinowolle und erhielt dafür den

mit 120000 Euro dotierten Woolmark Pri-
ze.
Auch beim British Fashion Council
steht Nachhaltigkeit jetzt ganz oben auf
der Agenda. Am Dienstag wurde zu die-
sem Thema sogar in 10 Downing Street ein-
geladen. Die Hauskatze Larry liegt gleich
neben der Eingangstür auf der Fenster-
bank, nur Hausherr Boris hat leider Wichti-
geres zu tun. Dafür empfängt der neue Mi-
nister für Digitales, Kultur, Medien und
Sport, Oliver Dowden, und sagt in seiner
Rede, in Downing Street habe es, wie in
der Mode, ja zuletzt auch „viele neue
Trends“ gegeben. Gelächter. Dann versi-
chert er, der Premierminister unterstütze
diese „britische Erfolgsgeschichte“ zu
hundert Prozent. Weniger Gelächter. Die
meisten hier schauen skeptisch auf die an-
stehenden Verhandlungen mit der EU.
Was der London Fashion Week im Ver-
gleich fehlt, sind Label, die aktuell die
ganz große Aufregung bringen. Nach de-
ren Sachen sich die Modeleute regelrecht
verzehren, so wie nach Bottega Veneta,
Alexander McQueen oder Khaite aus New
York. Die hiesigen Erfolgsgeschichten
sind entweder stiller, so wie Rejina Pyo, de-
ren tragbares, aber nie einfallsloses Label
von Saison zu Saison steil wächst. Oder
spezieller, so wie Molly Goddard, deren
Tüllkleider wiederum nicht ganz so trag-
bar sind, aber eine eingeschworene Fange-
meinde haben. Richard Quinn hat seit der
Gründung seines Labels 2016 mit knalli-
gen Blumenkleidern eine sehr wiederer-
kennbare (nebenbei auch in-
stagramfreundliche) Ästhetik
etabliert. Seine Shows stylt
mittlerweile sogar dieVogue-Ve-
teranin Carine Roitfeld. Sonst
war diesmal allerdings nicht
viel Neues zu erkennen.
Der einzige wirkliche Block-
buster ist und bleibt Burberry.
Tisci ließ sich diesmal, wie es
heißt, von seiner Zeit in Indien
inspirieren. Er kombiniert also
Madrasmuster mit dem hausei-
genen Karo, mixt noch ein biss-
chen kleinkarierten Punk dazu.
Klingt in der Theorie interes-
sant, sieht am Model aber nicht
überzeugend aus, nicht mal,
wenn das Mädchen Kendall Jen-
ner oder Gigi Hadid heißt. Die
Mäntel mit doppelten Kragen,
Kleider mit Korsetteinsätzen,
und all die Streetwear-Einflüs-
se in den fast hundert Looks
sind sehr viel stärker.
Aber was für eine Location, was für Mu-
sik! In die knapp hundert Jahre alte Aus-
stellungshalle Olympia National Hall war
ein überlanger, erhöhter Discolaufsteg ge-
baut worden, in dem sich die imposante
Stahlkonstruktion des Daches spiegelt. In
der Mitte stehen zwei schwarze Flügel für
die französischen Pianistinnen-Schwes-
tern Katia und Marielle Labèque, die von
der gehypten Produzentin und DJane Arca
orchestriert werden. Beim Sound ist Tisci
wie immer total in seinem Element.
Nebenbei lieferte er damit am Ende der
Fashion Week noch eine hübsche Parabel:
Mag das Schiff gerade sinken, die Welt aus
den Fugen geraten – in der Mode wird ei-
sern weitergespielt, jetzt erst recht.

A


ch doch, das kann man sich ja
lebhaft vorstellen, wie irgendso-
ein Ulf zum Feuerwehrfasching
kommt, mit seiner Greta-Perücke und
schon ordentlich Saufdampf im Kessel
und gleich großes Stammtisch-Hallo
und befreites Aufgrölen erntet. Denn
das ist ja schon seit dem Pausenhof ein
bewährtes Mittel, Mitmenschen, deren
Wesen man nicht gleich ganz erfasst,
vorsichtshalber mal als lächerlich zu
deklarieren. Erspart jede weitere Denkar-
beit. Nun ist im Karneval allerlei erlaubt,
und es war zu erwarten, dass die dauer-
präsente Greta dabei humoristische
Verarbeitung erfahren wird. Ist ja auch
o.k. Noch schöner wäre das allerdings,
wenn Kostüme bei Erwachsenen weiter-
hin so funktionieren würden wie bei
Kindern – man verkleidet sich als das,
was man gerne wäre oder zumindest
cool findet. Dieser Ansatz geht
irgendwann flöten, bei Erwachsenen
erleidet der fröhliche Eskapismus eines
Faschingkostüms jedenfalls meistens
eine eher banale Umdeutung: möglichst
gruslig, möglichst albern, möglichst
flirttauglich soll es sein. Was davon gilt
für die Greta-Zöpfe samt Strickmütze,
die derzeit im Online-Kostümhandel zu
erwerben sind? Im Fall des fröhlichen
Ulfs von oben ist es eben einfach nur
alberne Herabwürdigung. Als Pippi
Langstrumpf würde er sich ja vermut-
lich nicht verkleiden, denn das hat ja
gar kein Hämepotenzial und wäre eher
peinlich bei den Kumpels. Greta aber
funktioniert, weil man endlich mal -of-
fen über die Kleine lachen und sich
einmal im Leben noch überlegen fühlen
kann. Uff, Ulf. max scharnigg


Stirb


langsam


Bei der Modewoche in London


setzen die Designer ein Zeichen:


Wenn das Desaster eintritt, sollte


man wenigstens gut aussehen


Unappetitlich:


Joker-Schminke


Unvermeidlich:


Greta-Zöpfe


LADIES & GENTLEMEN


Burberry
hatte
gerade
einen Lauf,
doch jetzt
bricht der
chinesische
Markt weg

Victoria
Beckham
macht
Mode für
Frauen, die
kriegen,
was sie
wollen

DEFGH Nr. 44, Samstag/Sonntag, 22./23. Februar 2020 57


STIL


Die Fastenzeit beginnt, da ist es
praktisch, dass jeder unter Verzicht
etwas anderes versteht  Seite 60

Denkste, Suppe!


FOTOS: KARNEVAL MEGASTORE; PR/PUSCHELZ

FOTO: IMAGO IMAGES/PANTHERMEDIA

Von oben: Riccardo Tisci
präsentiert seine Kollektion
für Burberry in einer
Ausstellungshalle, bei
JW Anderson liegen nächsten
Herbst Zelluloidschnipsel
auf den Schultern,
Richard Quinn stickt
„God Save the Quinn“ auf
Kleider, bei Victoria
Beckham gibt es Gürtel mit
silbernen Händen.
FOTOS: ALEXANDRE SORIA;
ISIDORE MONTAG, CARLO SCARPATO,
ALESSANDRO LUCIONI / GORUNWAY
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