Frankfurter Allgemeine Zeitung - 05.03.2020

(vip2019) #1

SEITE 4·DONNERSTAG, 5.MÄRZ2020·NR.55 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Deutschlandrekrutiert


Kinder als Soldaten


Hitler,das is tvielfac hüberliefert,
warder Meinung, derUntergang sei-
nes Regimes seigleichbedeutend mit
dem Untergang des deutschenVol-
kes. Deshalb hielt er auchRücksicht-
nahmeauf diesesVolk für nicht so
wichtig. In der Endphase des Krieges
giltdasumsomehr,jeschwierigerdie
Lagewird. Nunwerden einzelne Jun-
gendes Geburtsjahrgangs 1929 zum
Volkssturmeinberufen. Das bedeutet
für die betroffenen Jugendlichen,
dasssie nac heiner bestenfalls ober-
flächlichen militärischen Grundaus-
bildung mit unzureichenderBewaff-
nungin denKampfgegendie in jeder
Hinsicht überlegenen alliiertenAr-
meengeschicktwerden.


Neue Führung in


Jugoslawien


Sowohl dieköniglicheRegierung als
auchdie Mitglieder des National-
komitees zur Befreiung Jugoslawiens
treten gemäß einer entsprechenden
Absprachevom12. Januargeschlos-
sen zurück. Da über die künftige
Staatsformnoch nicht abschließend
befunden ist, ergeht derAuftrag zur
Bildung einer Einheitsregierung wei-
terhin dur ch den königlichenRegent-
schaftsrat.Neuer Regierungschef soll
„Marschall“ Josip Broz, der unter sei-
nemKampfnamen„Tito“berühmtge-
wordene Anführer derkommunisti-
schenPartisanen,werden. Tito hatte
es im Laufedes Kriegesgeschaf ft,
sichAnerkennungauchbei denwest-
lichen Alliiertenzuverschaffen. Das
lagvorallemdaran,dassseinen Parti-
saneneinheiten mehr imKampfge-
gendie Besatzer zugetraut wurde als
anderen. Dieses ohnehin bestehende
militärischeÜbergewichtverstärkte
sichnochdurch die Waffenlieferun-
gender Alliierten anTito.Entspre-
chend selbstbewusst führtTitonun
den Regierungsauftrag auf die Erfol-
ge seiner „Patrioten“ im Befreiungs-
kampfzurück. Die Führung des Lan-
des werdedurch Einbeziehungvon
Mitgliedernder ehemaligenkönigli-
chen Regierung in Londonauf eine
breitereGrundlagegestellt.


Pläne für die


Nachkriegszeit


In London endetein internationaler
Sozialistenkong ress.Vertr eter aus
vieleneuropäischen Ländernund Pa-
lästinavereinbaren dieWiederbele-
bung der Sozialistischen Internatio-
nale. Die Delegiertenverabschieden
eine Resolution über die Behandlung
Deutschlands.Darin sprechen sich
die Sozialistengegen eineAufteilung
des Landes aus. Sieverlangen aber
die vollständigemilitärische Beset-
zung, die Bestrafung der Kriegsver-
brecher,die komplette Abrüstung so-
wie internationaleKontrolle über die
wichtigstenWasser straßen.ImRhein-
landsolleeinebesondereSicherheits-
zone eingerichtet werden. DieseFor-
derungnimmtvorallem französische
Anliegen auf.Frankreichmöcht efür
alle Zukunftausschließen, dasses
nocheinmalvonDeutschland ange-
griffenwird. Die bei dieser Gelegen-
heit ebenfalls erhobene Forderung
nachEnteignung der Großgrundbe-
sitzerund der Schwerindustrieliegt
dagegen im allgemeinen politischen
Trend derZeit.Für Deutschland wird
die Gründung demokratischer Ge-
werkschaf tenangestrebt, die in die
weltweit eGewerkschaftsbe wegung
integ riertwerden sollen. An die
Großmächteappellieren di eSozialis-
ten, diesesollten auf ihrVetorecht im
nochzu gründenden UN-Sicherheits-
ratverzichten. pes.


FrankfurterZeitung
Gründungsherausgeber ErichWelter †

VERANTWORTLICHE REDAKTEURE:für Innenpolitik:Dr.JaspervonAltenbockum; für
Außenpolitik: Klaus-DieterFrankenberger; für Nachrichten: Dr .Richar dWagner,Andreas
Ross (stv.); für „Zeitgeschehen“:Dr.ReinhardMüller;für „Die Gegenwart“: Dr .Daniel De-
ckers; für Deutschland und dieWelt:Dr. AlfonsKaiser;für Politik Online: AndreasRoss; für
Wirtschaftspolitik: HeikeGöbel;für Wirts chaftsberichterstattung: JohannesPennekamp;
für Unternehmen: Sven Astheimer;für Finanzen: Inken Schönauer;für Wirts chaftund Fi-
nanzen Online:Alexander Armbruster, Chris toph Schäfer;für Sport: Anno Hecker, Peter
Penders(stv.); für SportOnline:Tobias Rabe; fürFeuilleton: Hannes Hintermeier,Sandra
Kegel, JakobStrobel ySerra(stv.); für Literatur und literarisches Leben: Andreas Platthaus;
für FeuilletonOnline: Michael Hanfeld;für Rhein-Main-Zeitung: Dr.Matthias Alexander,
ManfredKöhler (stv.).


FÜRREGELMÄSSIG ERSCHEINENDEBEILAGEN UNDSONDERSEITEN:Beruf und
Chance:Nadine Bös; Bildungswelten:Dr. h.c. HeikeSchmoll;Der Betriebswirt: Georg
Giersberg; DerVolkswirt: Maja Brankovic; Die Lounge:JohannesPennek amp;
Die Ordnung derWirtschaf t: HeikeGöbel; Forschung und Lehre: ThomasThiel; Geis-
teswissenschaften: Patric kBahners; Immobilien:Michael Psotta; Jugend schreibt:
Dr.Ursula Kals; Jugend undWirtschaft:Lisa Becker; Kunstmarkt:Dr. Rose-Maria
Gropp; Medien: MichaelHanfeld; Menschen undWirtscha ft:Philipp Krohn;Natur
undWissenschaft: JoachimMüller-Jung;NeueSachbücher: Helmut Mayer;
Politische Bücher:Dr.PeterSturm;Recht undSteuern:Dr.HendrikWieduwilt;Reise-


blatt:FreddyLanger;Staat undRecht: Dr.ReinhardMüller ;Technikund Motor:
Holger Appel.
Bildredaktion:Henner Flohr;Chefinvom Dienst:Dr.Elena Geus;Grafis cheGestal-
tung:HolgerWindfuhr (ArtDirector),BenjaminBoch(stv.);Informationsgrafik:
Thomas Heumann.
DIGITALE PRODUKTE:Carsten Knop (Chefredakteur),KaiN.Pritzsche (Redaktions-
leiter), RobertWenkemann (ArtDirector).
GESCHÄFTSFÜHRUNG:Thomas Lindner (Vorsitzender), Dr.Volker Breid.
VERANTWORTLICHFÜR ANZEIGEN:Ingo Müller.
Anzeigenpreisliste Nr.80vom 1. Januar 2020 an; fürStellenanzeigen:F.A.Z.-Stellen-
markt-Preisliste vom1.Januar 2020 an. Internet: faz.media
HERSTELLER:Andreas Gierth.
MON ATSBEZUGSPREIS:Inland: Abonnement FrankfurterAllgemeine Zeitung
69,90 €; einschließlichFrankfurterAllgemeine Sonntagszeitung 76,90 €.Abonnenten
der gedruckten Zeitung lesen für einenAufpreisvon10,00 €die digitalenAusgaben
der F.A.Z. undFrankfurterAllgemeinen Sonntagszeitung. Darin enthalten istaußer-
dem dervollständigeZugang zurWebsiteFAZ.NET (F+). Mehr Informationen zu allen
Angebotenund Preisen (z. B. für jungeLeser undStudierende, Geschäftskunden, Di-
gital- undAuslandsabonnements) im Internetunter abo.faz.net. IhreDaten werden
zum Zweckder Zeitungszustellung an Zustellpartner und an die Medienservice
GmbH&Co. KG,Hellerhofstraße2–4, 60327FrankfurtamMain, übermittelt. Gerichts-
stand istFrankfurtam Main.

NACHDRUCKE:Die FrankfurterAllgemeine Zeitung wirdingedruckter und digitaler
Form ve rtrieben und istaus Datenbanken abrufbar.Eine Verwertung der urheberrecht-
lichgeschütztenZeitung oder der in ihr enthaltenen Beiträgeund Abbildungen, be-
sondersdurch Vervielfältigung oderVerbreitung, ist ohnevorherige schriftliche Zustim-
mung desVerlages unzulässig und strafbar,soweit sichaus demUrhebergesetz nicht
anderes ergibt. Besondersist eineEinspeicherung oderVerbreitungvonZeitungsinhal-
teninDatenbanksystemen,zum Beispiel als elektronischer Pressespiegel oder Archiv,
ohne Zustimmung desVerlages unzulässig.
Sofern Sie Artikel dieser Zeitung nachdrucken, in Ihr Internet-Angebotoder in Ihr
Intranet übernehmenoder per E-Mailversendenwollen,könnenSie die erforderli-
chen Rechte bei derF.A.Z. GmbH online erwerben unter http://www.faz-rechte.de.Aus-
kunfterhalten Sie unter [email protected] oder telefonischunter
(069)7591-2901. Für dieÜbernahmevonArtikeln in Ihren internen elektroni-
schen Pressespiegel erhalten Sie die erforderlichenRechte unter http://www.presse-mo-
nitor.de odertelefonischunter (0 30) 28 49 30, PMG Presse-MonitorGmbH.

©FRANKFURTERALLGEMEINEZEITUNGGMBH, FRANKFURT AMMAIN

DRUCK:FrankfurterSocietäts-Druckere iGmbH&Co. KG,Kurhessenstraße4–6,
64546 Mörfelden-Walldorf; MärkischeVerlags- und Druck-GesellschaftmbH Pots-
dam,FriedrichEngels-Straße 24, 14473Potsdam; SüddeutscherVerlag Zeitungsdruck
GmbH, ZamdorferStraße 40, 81677 München.
Mitteilung aufgrund §5Abs. 2, 3und 5des Hessischen Gesetzesüber Freiheitund
Rechtder Presse:Geschäftsführung derFrankfurterAllgemeine Zeitung GmbH: Tho-

mas Lindner,Vorsitzender (Bad Homburg), Dr.Volker Breid (München). Gesellschafter
der FrankfurterAllgemeine Zeitung GmbH mit einer Beteiligungvon 93,7vomHun-
dertist die FAZIT-STIFTUNG GemeinnützigeVerlagsgesellschaftmbH, Frankfurtam
Main, Geschäftsführung: BurkhardPetzold (Bad Homburg),Karl DietrichSeikel (Ham-
burg). Gesellschafterder FAZIT-STIFTUNGGemeinnützigeVerlagsgesellschaftmbH
mit einerBeteiligungvonje11,1 vomHundertsind: Prof. Dr.Dr. Andreas Barner(Ingel-
heim am Rhein), Prof. Dr.Justus Haucap(Berlin), MarijaKorsc h(Frankfurt),Karl Dietrich
Seikel(Hamburg), Prof. Dr.Birgit ta Wolff(Frankfurt).
AmtlichesPublikationsorgander Börse Berlin, Rheinisch-Westfälischen Börse zu Düssel-
do rf,FrankfurterWertpapierbörse, HanseatischenWertpapierbörse Hamburg, Nieder-
sächsischen Börse zu Hannover, Börse München, Baden-WürttembergischenWertpa-
pierbörse zuStuttgart
ANSCHRIFTFÜR VERLAGUND REDAKTION:
Postadresse:60267FrankfurtamMain, Hausanschrift:Hellerhofstraße2–4,
60327 Frankfurt am Main; zugleichauchladungsfähige Anschriftfür alle im Im-
pressumgenanntenVerantwortlichenund Vertretungsberechtigten.
TELEF ON:(069 )7591-0. Anzeigenservice: (069) 7591-3344. Kundenservice:(069)
75 91-1000www.faz.net/meinabo
Telefax: Anzeigen(0 69)7591-80 89 20; Redaktion (0 69) 75 91-1743; Kundenservice
(0 69) 75 91-2180.
BRIEFE AN DIEHERAUSGEBER:[email protected]
DeutschePostbankAG,FrankfurtamMain;
IBAN: DE58 5001 0060 0091 3936 04; BIC: PBNKDEFF

FreimutDuvegestorben
Freimut Duverepräsentierte einen
Persönlichkeitstypus, der in der SPD
seltengeworden is t: den persönlich
vonGeschichtegeprägten, belese-
nen, unabhängigen Intellektuellen.
Duveentstammteväterlicherseits der
jüdischenFamilie Herzl; die Mutter
wareine Pionie-
rinfeministischer
Selbstbestimmt-
heit.Erwuchs in
Hamburgauf,wur-
de Historiker,
Journalist, Lek-
tor. Er begründete
an der Hamburger
Universität die
Deutschkurse für
ausländischeStu-
denten,warvier Jahrelang Referent
des HamburgerWirtschaftssenators,
bevorere rstzum „S tern“, dann zum
Rowohlt-Verlag ging, dessen aktuel-
le,politische Publikationen erbetreu-
te.1980 zog Duvemit einem Direkt-
mandat in den Bundestagein; 18 Jah-
re späterverlor er es an Johannes
Kahrs.DuvewurdedannersterBeauf-
tragter der OSZE für dieFreiheit der
Medien mit Sitz inWien. Am 3. März
isternachlanger Krankheit im Alter
von83Jahrengestorben. (Lt.)

1945


E


swar kur znachder Vereidigung
Bodo Ramelows,als es im Thü-
ringer Plenarsaal nocheinmal
ganz still wurde. Gerade hatte
Susanne Hennig-Wellsow, die Vorsitzen-
de der Linken,Ramelowgratuliert, nur
mit einerUmarmung. Einen Blumen-
strauß, den sievorvier Wochen Thomas
Kemmerichnochvor dieFüße geworfen
hatte, hattesie diesmal nicht dabei–den
brachtedafür Kemmerichmit, der dritte
Gratulant.AuchCDU-Fraktionschef Ma-
rioVoigt überbrachteBlumen.Unddann
kamBjörnHöcke,der AfD-Fraktions-
chef, der in den ersten beidenWahlgän-
gengegen Ramelowangetretenwar,aber
niemehralsdie22StimmenseinerFrakti-
on bekommen hatte. Höcke streckt edie
Hand zur Gratulation aus, aberRamelow
nahm sie nicht an. Höcke blieb stehen, re-
dete immer wieder und mitNach druck
auf Ramelowein, der jedochrührte seine
Hand nicht.Aufrecht, jakerzengerade
standen sichdie beidenPolitikergegen-
über,wie bereit zumKampf. Schier un-
endlichdehntesichdieser Moment,alle
AugenimPlenarsaal und auf dervöllig
überfüllten Besuchertribüne richteten
sichauf diebeidenMänner,diesic hdaun-
tenvor dem Pult der Landtagspräsidentin
unversöhnlichgegenüberstanden.
Immer wiederredete Höcke auf Rame-
lowein,wiesähedenndasaus,wenner
jetzt ohne Handschlag zurückmüsste,
aber Ramelow, eigentlichbekannt für sei-
ne bisweilenextrem kur ze Zündschnur,
blieb dieRuhe in Person. So blieb denn
auchHöcke nichts anderes übrig, als un-
verricht eter Dingewieder zu seinem
Platz zurückzukehren. In diesem Moment
atmete der gesamtePlenarsaal spürbar
auf. Nicht auszudenken,wenn jetzt,quasi
nachderZiellinie,dochnochetwasschief-
gegangen wäre.Gewunderthätteeswohl
niemandennachdenpolitischenEreignis-
sen dervergangenen vierWochen in dem
kleinenFreistaat im Herzen Deutsch-
lands.Dabei hattesichdiegrößteAnspan-

nung aller Beteiligten erst kur zzuvor ge-
löst, als Landtagspräsidentin BirgitKeller
(Linke) das Ergebnis des drittenWahl-
gangs verlesen hatte, in demRamelowals
Alleinkandidat angetretenwar,nachdem
Höcke zuvor zurückgezogen hatte.Abge-
gebene Stimmen: 85, davongültigeStim-
men: 85.Für B odo Ramelowstimmten 42
Abgeordne te,esgab 23Nein-Stimmen
und20Enthaltungen.Daimd ritten Wahl-
gang die einfache Mehrheit ausreicht,
warRamelowwiedergewählt.Die seit
vier Wochen währendeRegierungskrise
istzumindestvorübergehend beendet.
Begonnen hattedie Landtagssitzung
am Mittwochnachmittag zunächstmit ei-
ner Schweigeminutefür die Opfer des
rechtsextremistischenTerrorang riffs von
Hanau in ThüringensNach barland Hes-
sen. „Diese Blutspur des Hasses, die der
Rechtsextremismus durch unser Land
zieht, istnichts weniger als eine Schande
für unsereGesellschaft“, sagteLandtags-
präsidentin BirgitKeller (Linke). Im An-
schlus sgratulierte sie dem neuen CDU-
Fraktionsvorsitzenden MarionVoigt, des-
sen Vorgänger MikeMohring sicherstun-
mittelbarvorSitzungsbeginn auf seinen
neuen Platz in der drittenReihe begab.
Zuvorhatteerzwölf Jahrelang dieUni-
onsfraktion im ErfurterLandtag ange-
führtundwaramMontagzurückgetreten.
Sein Nach folger Voigt hatteinden ver-
gangenen Tageneine verbale Abwehr-
schlachtgegen„Ratschläge“vonaußer-

halb Thüringensgeschlagen, die ihn im-
mer wiederdaran erinnerten, keinesfalls
Ramelowzuwählen und dafür,umganz
sicherzugehen,etwa auchden Plenarsaal
zu verlassen.Voigt hattedas empörtzu-
rückgewiesen und erklärt, dasssichge-
wählteAbgeordnete nicht aus derVerant-
wortung stehlen. Letzteres hattezunächst
die FDP-Fraktion angekündigt, diewäh-
rend derAbstimmung hinausgehen woll-
te,sichaber dochandersentschied. Die
vier anwesendenAbgeordnetenblieben
nachdem Aufruf ihrerNamen für die
Wahlsitzenundkonsultiertendemonstra-
tiv angestrengt ihreMobiltelefone.
Auch Ramelowund Voigt hattenkur z-
fristig ihrezuvor vereinbarte St rategiege-
ändert. Nach dem die AfD am Montagvor
Ablauf derFristihren Fraktionsvorsitzen-
den BjörnHöcke als Kandidaten nomi-
niertund die FDP für „Rausgehen“ plä-
dierthatte, wäre trotz geheimerWahl of-
fensichtlichgeworden, dassdie vonden
Linken ursprünglichimerstenWahlgang
geforderte absoluteMehrheit fürRame-
lownurmitStimmenausderCDU-Frakti-
onzus tandegekommenwäre. FürdieUni-
on hättedas ziemlich sicher eineVerlän-
gerungvonKriseundKritikbedeutet.Ra-
melowwar deshalb nacheinem Gespräch
mit Voigt amVorabend vonseiner Forde-
rung abgewichen, unbedingt im ersten
Wahlganggewä hlt zuwerden. „Heuteist
nichtderTagparteipolitischerPrinzipien-
reiterei, sondernder Tag, an dem dieAb-

geordne tendes Thüringer Landtags dafür
sorgen müssen,dasswiederverlä sslichre-
giertwerdenkann“, schriebRamelowin
seinem Online-Tagebuch. Voigt gegen-
über habe er sichdeshalb bereit erklärt,
„erforderlichenfallsinallendreiWahlgän-
gen“ anzutreten.
Das wardann aucherforderlich, doch
Ramelowblieb demonstrativ gelassen,
scherzteimmerwiedermitanderenAbge-
ordne ten, während Höcke ruhig auf sei-
nemPlatzsitzenblieb.Erwusste, das ssei-
ner Fraktion nachdem 5.Februar kaum
nochjemand über denWegtraute. Schon
mit ein paarStimmen fürRamelowhät-
tensie allestorpedierenkönnen, weil der
Linken-Politikerzuvorerklärthatte, dann
die Wahl nicht anzunehmen. Dochdann
lief der ersteWahlgang–untypischfür
das jüngerepolitische Thüringen–voll-
kommen nachPlan.DadieFDP-Abgeord-
netenander Wahl nichtteilnahmen,ver-
kündete die Landtagspräsidentinum
14.33 Uhr 85 abgegebeneStimmen, da-
von21Enthaltungen sowie 42 fürRame-
lowund 22 für Höcke.Das warpraktisch
ein Spiegelbild derFraktionsstä rken von
CDU (21 Abgeordne te), Rot-Rot-Grün
(42) und AfD (22). Aber die absolute
Mehrheitvon46Stimmenwarnicht er-
reicht.
Eigentlichhattedie Linkeindiesem
Fall die Wahl abbrechen und „sofortei-
nen Antrag aufNeuwahlenstellen“wol-
len. DochRamelowhielt seinePartei zu-
rückund ließ sichabermals und absehbar
auf dreiWahlgängeein. ImzweitenWahl-
gangbo tsichgut eineStunde späterexakt
das gleiche Bild wie im ersten, abermals
hatteRamelow dieabsoluteMehrheitver-
fehlt.Rot-Rot-Grün konnteRamelow
nun im dritten Wahlgang aus eigener
Kraf tins Amtwählen, auf dieStimmen
der CDUkamesnicht mehr an. In seiner
kur zen Antrittsrede dankteRamelow
dann ausdrücklichder CDU-Fraktion für
ihrekonstruktiveZusammenarbeit in den
vergangenenTagen. Noc hamMorgenhat-
tenLinke, SPD, Grüne und CDU die zu-
vorfür eineÜbergangszeit bis Aprilkom-
menden Jahres geschlosseneVereinba-
rung einer informellenKooperation ohne
AfD unterzeichnet.
Thüringen sei in der letztenZeit welt-
weit bekanntgeworden, sagteRamelow.
„Auf dieseForm der Bekanntheit hätten
wir gerneverzichtet.“ Zugleichkritisierte
erdiezahlreichenEinmischungenvonau-
ßen in die„Thüringer Belange“. Eswäre
gut,wennmaninderBundesrepublikend-
lichverstünde,dassdie alt eBonnerRepu-
blikseit 30 JahrengenausoGeschichtesei
wie die DDR.Unddann kamernochauf
den verweiger tenHandschlag zu spre-
chen.MankönneseineReaktionalsunge-
hobelteManieren betrachten, sagteRa-
melowunter lautem Gejohle der AfD.
Aber er werdeHöcke erst die Handrei-
chen, wenn er und die AfD die Demokra-
tie verteidigten, anstatt sie zu benutzen.

Der Widerstand gegendie Rentenreform
in Frankreichebbt nicht ab, auchwenn
die Regierung jetzt eineweiter eEtappe
auf demWegzueinem neuen Altersver-
sorgungssystemzurückgelegt hat. Zwei
Misstrauensanträgeinder Nationalver-
sammlunginderNachtzuMittwochschei-
terten. Damit gilt der Gesetzestext über
die RentenreforminersterLesung als an-
genommen.So siehtes dasVerfahrenlaut
Verfassungsartikel 49Absatz 3vor,das
PremierministerÉdouardPhilippe ange-
sichts der FlutvonÄnderungsanträgen
am Wochenendegewählt hatte.
Bei diesemVerfahren wirddie Abstim-
mung über einen Gesetzentwurf mit der
Vertrauensfrageverknüpft. Erhält dieRe-
gierungbeiderVertrauensfragedie Mehr-
heit,dann gilt auchderGesetzentwurfals
angenommen.Nach sieben Debattenta-
geninder Nationalversammlung hatten
die Parl amentarier nur über einen Bruch-
teil der annähernd 41000 Änderungsan-
trägeberaten.
DerRegierungschefsagteamDienstag-
abend, dieAbgeordne tenhätten achtWo-
chen rund um die Uhr und auchamWo-
chenendetagenmüssen, um alle Ände-
rungsanträgezuberücksichtigen.Um die
Prozedur zuverkürzen, habe erVerfas-
sungsartikel 49Absatz 3angerufen. „Ich

bin mir des außergewöhnlichen Charak-
ters des Verfassungsinstruments bewusst.
Aber das istkeine Premierebei wichtigen
Reformen. Meine Vorgänger haben 88
MaldasVerfahrennachArtikel 49Absatz
3gewählt“, sagtePhilippe. Bei einer er-
hitzten Debattebis spät in dieNachthiel-
tenOppositionsabgeordnete der Regie-
rung vor, die parlamentarische Demokra-
tiezumissachten.DerFraktionsvorsitzen-
dederrech tsbürgerlichen ParteiLes Répu-
blicains (LR), DamienAbad, prangerte
„den Zynismus derRegierung“ an. „Sie
haben die Grundlagen für ein beispiello-
ses parlamentarisches Fiask ogeschaf-
fen“, sagteAbad. Zu keinem Zeitpunkt
habe die Regierung darauf hingewirkt,
dassdie Volksvertretung eine sachliche
Debattezur Rentenreformführen und
dasLandbefriedenkönne.AuchderKom-
munistAndréChassaigne hielt derRegie-
rung vor, ein „demokratisches Desaster“
herbeigeführtzuhaben.„Sie bringen dem
Parlament tiefeVerachtung entgegen.“
Es handelesichum„eine neue Etappe
der autoritären Entwicklung des Re-
gimes“, sagteChassaigne. Am heftigsten
fiel die Kritik des früheren Präsident-
schaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon
vonder LinksparteiLaFrance Insoumise
(LFI) aus. „Unser Ziel bleibt derRückzug
der Rentenreform, und wirwerden das

schaf fen“, sagteMélenchon. Macron sei
umgebenvon„Technokraten, die sichan
ihrer eigenenWahrheit berauschen“. Die
Regierung habe die Widerstandskräfte
der Gesellschaftunterschätzt und in ihrer
Not„die schlimmstenAuswüchse derre-
publikanischen Monarchie reaktiviert“.
Verfassungsartikel 49Absatz 3gilt seit
langerZeit alsInbegriffdes„rationalisier-
tenParlamentarismus“,den der Gründer-
vaterder Fünften Republik,Charles de
Gaulle, einVerächter der Parteiendemo-
kratie, 1958 eingeführthatte. Berühmt ist
die Kritik des jungenFrançois Mitter-
rand, der dasRegime mit einem „ständi-
genStaatsstreich“verglich. Als Präsident
schreckteMitter rand nicht davorzurück,
alle Instrumentedes„rationalisiertenPar-
lamentarismus“ wie auchArtikel 49Ab-
satz 3einzusetzen.
Eine ähnliche Entwicklung durchlief
der SozialistFrançois Hollande.Vorsei-
nem Amtsantritt setzteerdiesen Artikel
mit „Demokratieverweigerung“ gleich
und beklagtedie „Brutalität“, mit der das
Parlament in demVerfahren ausgehebelt
werde. Françoi sHollandes Premierminis-
terManuel Valls setztedann aber wichti-
ge Reformen unterRück griffauf Artikel
49 Absatz 3durch.Philippe schrieb sich
in dieseTradition ein. „Sie haben das
Recht, Misstrauensanträgezustellen.

Aber das wirduns nicht daran hindern,
weiter unser Sozialmodell zureparieren
und neuen Herausforderungen anzupas-
sen“, sagteder Regierungschef. Der Miss-
trauensantragvonKommunisten, Sozia-
listenundLFI erhielt91Stimmenundver-
fehltedie er forderliche Mehrheitvon
Stimmen. Marine LePenhattezuvor an-
gekündigt, dassihreParteisichdem An-
trag der Linken anschließe.
Die Vorsitzende desRassemblement
National (RN) lehnteeshingegen ab, den
Antrag derRepublikaner zu unterstützen.
LR hatteimMisstrauensantrag auf dieFi-
nanzierbarkeit desRentensystems abge-
hobenundeineAnhebung desRentenein-
trittsaltersauf 65 Jahre(bei vollen Ren-
tenbezügen)gefordert. Le Penhingegen
hat ihren Anhängerneine Rück kehr zur
Rentemit 60Jahrenversprochen. IhreAn-
näherung an die Linksparteien wurde bei
der Abstimmung über die Misstrauensan-
trägeerstmals aktenkundig. Dervonden
Republi kanerneingebrachteMisstrauens-
antrag erhielt 191Stimmen.
Die LR-Abgeordnetensetzen fortan
aufihreParteifreunde im Senat,diein der
zweiten Parlamentskammer über eine
Mehrheit verfügen, um den Gesetzent-
wurfinihrem Sinne zu ändern. Der Senat
soll Anfang April die Beratungen darüber
aufnehmen.(Kommentar Seite8.)

Haftbefehl gegenRussen


wegen Angriffauf Blogger
Die Staatsanwaltschaftder ostschwe-
dischenStadt Gävlehat gegeneinen
1990geborenenrussischenStaatsbür-
gerHaftbefehlwegendes Angriffs
aufde ntschets chenischenRegimek ri-
tiker und BloggerTumso Abdurach-
manowbeantragt. Das berichteteder
russische Dienstder BBC. Der Mann
soll Abdurachmanow, dem dasRe-
gime „Blutrache“geschworen hatte,
Ende Februar in dessenWohnung
mit einem Hammer angegriffen ha-
ben. ImZuge des mutmaßlichen At-
tentats wurde bekannt, dassAbdu-
rachmanowseit einigen Monaten im
schwedischen Exil lebt;zuvor hielt er
sichinPolen auf. frs.

Vorwürfe Irans gegenIAEA
Zwischen Iran und der Internationa-
len Atomenergiebehörde IAEAver-
schär ft sichder Ton. Der iranische
Botschafterbei den UN inWien warf
am Mittwochder dortansässigen
Agentur vor, sichauf „erfundene In-
formationen vonGeheimdiensten“
zustützen. IAEA-GeneraldirektorRa-
fael Grossi hattetags zuvor in einem
Interview„Alarmgeschlagen“,weil
Iran den IAEA-Inspekteuren Zutritt
zu verdächtigen Anlagen verwehre
und außerdem bei der Anreicherung
vonUrandie nac hdem Abkommen
von2015vorgesehenenGrenzenviel-
fach überschritten habe. Inzwischen
lager tlaut IAEA mehr als eineTonne
angereichertesUraninIran. DasAb-
kommenwarzunächstvon denVerei-
nigten Staaten gekündigt worden,
dann hat auchIranaufgehört, es ein-
zuhalten. Die IAEAgalt aber bislang
als vonallen Seiten als neutral aner-
kannteInstanz. löw.

Nigeria lässtKinder nach


Terrorverdacht frei
Inder NachtzuMittwoc hhatdienige-
rianische Armee mehr als dreihun-
dertMenschen, darunter zehn Mäd-
chen und 213 Jungen, freigelassen.
DieArmeehattesiebeschuldigt,Kon-
taktezur Terrormiliz BokoHaram zu
haben. DerVorwurfhabe sichjedoch
nicht bestätigt,teiltedas Kinderhilfs-
werk der Vereinten NationenUnicef
am Mittwoch mit. Einigeder Kinder
sollen vier bis fünf Jahrelang keinen
Kontakt zu ihrenFamiliengehabt ha-
ben.DiewarenzumTeildavonausge-
gangen, dasssie nicht mehr lebten.
Aktuellwerden sievonMitarbeitern
derOr ganisationsowiedemMinisteri-
um fürFrauen und Entwicklungin
Borno betreut.Seit 2016 hat die Ar-
mee mehr als 3500 Menschen aus der
Haftentlassen, denenVerbindungen
zu Terroris tenvorgeworfen wurden,
darunter mehr als 1700 Kinder. KNA

Foto PictureAlliance/dpa

Politischer Infektionsschutz:Ramelowverweiger tHöcke den Handschlag. Fotodpa

DIE LETZTEN
KRIEGSWOCHEN


  1. MÄRZ


Im zweiten Anlauf erfolgreich


41 000 Änderungsanträgebeiseitegeschoben


Der Stre it über dieRentenreforminFrankreic hwirdzur Grundsatzdebatte /VonMichaelaWiegel,Paris


Wichtiges inKürze


Personalien


Thüringenhat wieder


eineRegierung,der


Landtag macht Bodo


Ramelow im dritten


Wahlgang zum


Mini sterpräsidenten –


jeden fallsfür eine


längere Übergangszeit.


VonStefanLocke,Erfurt


Freimut Duve

Für die Herstellung derFrankfurterAllgemeinen Zeitung wirdausschließlichRecycling-Papierverwendet.
Free download pdf