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ach Mitternacht werden sie ab-
fahren, sagt Nesip Temuri, er
ist 17, aus Afghanistan, er hat
die Kapuze seines Sweatshirts
über den Kopf gezogen. Es ist
zugig in der Wartehalle am Busbahnhof
von Istanbul. Nesips Familie hat eine Woll-
decke auf dem Boden ausgebreitet, Vater,
Mutter, kleine Geschwister. Die Mutter ist
schwanger.
Neben ihren Decken liegen noch mehr,
sie sind eine Notgemeinschaft hier, die Fa-
milie von Nesip und die von Sinan Jamsidi.
Sinan ist zwölf, auch aus Afghanistan, er
trägt ein Adidas-Shirt. Die Jungs sprechen
Türkisch, Kinder lernen neue Sprachen
schnell, deshalb reden sie für ihre Eltern.
Und sie erzählen alle dieselben Geschich-
ten: Sie haben gehört, dass die Grenzen der
Türkei offen sind, deshalb haben sie alles
stehen und liegen lassen, wo sie zuletzt ge-
lebt haben, in Kayseri und Tokat, in Çorum
und Sakarya, in den fernen Ecken der Tür-
kei. Einer erzählt: „Bei der türkischen Aus-
länderbehörde haben sie uns gesagt: ‚Ihr
müsst nichts unterschreiben, ihr könnt ein-
fach zur Grenze gehen.‘“
Der Junge heißt Abdul Halil, er ist eben-
falls 17 Jahre alt und mit seinem Vater ge-
kommen. Der steht hinter ihm, eine blaue
Wollmütze auf dem Kopf, stumm. Sohn Ab-
dul sagt, bei der Behörde habe man ihnen
auch klargemacht, sie hätten noch sechs
Monate Zeit, dann würde man sie aus der
Türkei werfen. „Wir haben es satt, wir wol-
len nicht wieder illegal sein.“ Dann zeigen
sie alle ihre türkischen Identitätskarten,
wie zum Beweis dafür, dass sie keinen Feh-
ler machen wollen.
Um 1.30 Uhr werde der Bus abfahren, so
genau waren die Angaben. Da glaubten die
Menschen noch, was man ihnen sagt. Da
ahnten sie nicht, was sie in den nächsten
Tagen erwartet, Nächte im Regen, Streit im
Bus, endloses Warten. Was sonst mit ihnen
passieren würde.
Es ist Dienstagabend, bis Mitternacht
sind es noch vier Stunden, und während
die Familien auf den Bus warten, lassen sie
im 240 Kilometer entfernten Edirne, an
der Grenze zu Griechenland, schon keine
Busse mit Flüchtlingen mehr in die Stadt.
Nesip, Sinan, Abdul und ihre Familien wis-
sen zu diesem Zeitpunkt, dass nur das tür-
kische Grenztor geöffnet ist und dass Präsi-
dent Recep Tayyip Erdoğan sagte, es wer-
de offen bleiben. Erdoğan sagte auch, Milli-
onen Flüchtlinge würden nach Europa
kommen. Wie das gehen soll, wenn die
Griechen ihre Grenze mit Tränengas, Plas-
tikgeschossen und scharfen Waffen vertei-
digen, sagte er nicht. Dass die Flüchtlinge
damit in eine Sackgasse laufen, sagte er
auch nicht.
Die Temuris und die Jamsidis und die
anderen Familien haben vor ihrem Auf-
bruch herausgefunden, dass es zwischen
der Türkei und Griechenland einen Strei-
fen Niemandsland gibt und einen breiten
Fluss. Und dass Menschen, die es über die-
sen Fluss geschafft haben, von griechi-
schen Sicherheitskräften rüde behandelt
wurden. Man hat sie sofort zurückge-
schickt, in die Türkei, hat ihnen Handys,
Geld und die Kleider abgenommen, damit
sie es auf keinen Fall noch mal versuchen.
Jemandem die Kleider zu nehmen, wirkt
erniedrigend. Abdul hat gesagt: „Ich werde
an der Grenze warten, bis die Griechen das
Tor öffnen.“
Das Tor steht ein paar Kilometer ent-
fernt von Edirne, die Türken nennen den
Übergang Pazarkule, die Griechen Kasta-
nies. Hier ist das Land flach, auf den Fel-
dern wachsen Zwiebeln. Man sieht kilome-
terweit. Auch die Flüchtlinge, die in klei-
nen Gruppen über die Äcker laufen, auf
den Stacheldraht zu. Plötzlich rennen zwei
wilde Hunde in die Gegenrichtung, weg
von der Grenze. Es ist nun Mittwochmor-
gen, von der griechischen Seite ist ein
dumpfes Klack-Klack zu hören, mehrmals
kurz hintereinander, wie Gewehrschüsse.
Die Regierung in Athen hat ein „Manöver“
mit scharfer Munition angekündigt.
Auf einmal Schreie, ein türkischer Poli-
zist in Zivil läuft herbei, mit Waffe im Ho-
senbund, er will einen Mann beruhigen,
der Blutflecken auf dem T-Shirt hat. Auch
auf seinen Turnschuhen ist Blut. Der
Mann lässt sich nicht beruhigen, er war im
Niemandsland, wo sich zwischen den
Grenztoren Tausende gesammelt haben:
„Es gibt Verletzte, ich habe sie auf meinem
Rücken getragen.“ Der Mann ist aufgeregt,
will eine Zigarette, jemand legt ihm eine Ja-
cke über das blutverschmierte Hemd. An
diesem Tag wird der Gouverneur von Edir-
ne verkünden, es habe einen Toten an der
Grenze gegeben, und fünf Verletzte.
Sinan, Nesip und Abdul sind weder in
Edirne noch in Pazarkule angekommen.
Wo sind sie geblieben?
Nesip schickt eine Whatsapp. Der Bus
sei erst am Morgen abgefahren. Jetzt stehe
er einige Kilometer vor Edirne, es gehe
nicht weiter. Er klingt besorgt. Es habe ei-
ne Revolte der Flüchtlinge im Bus gege-
ben, sagt er am Telefon, weil der Fahrer
sich weigerte, nach Edirne zu fahren. Sie
haben aber alle Tickets nach Edirne ge-
kauft. Auf den Tickets ist das Logo der gro-
ßen türkischen Touristikfirma Metro ge-
druckt, es steht auch auf dem Bus. Wir wer-
den diesen Bus noch öfter sehen.
Man wolle sie nach Uzunköprü bringen,
sagt Nesip. Uzunköprü liegt gut 60 Kilome-
ter entfernt von Edirne, es ist auch ein
Grenzort. Der Unterschied: Dort gibt es
nur einen Weg nach Griechenland, über
den Fluss, mit Booten, illegal. Warum sol-
len sie dahin? In Uzunköprü verlangen
Schlepper von jedem Flüchtling Geld, die
Preise variieren, je nachdem, was einer be-
zahlen kann. Die Schmuggler haben das
im Internet geschrieben, ganz offen. Das
wissen alle.
In dem Bus, in dem auch Sinan, Abdul
und ihre Familie sitzen, sind etwa 40 Men-
schen. Der Bus wird weiterfahren, dann
wieder stoppen, weil die Flüchtlinge wie-
der rebellieren. Sinan hat per Whatsapp ei-
nen Standort geschickt. Als wir die Stelle
finden, am Rand der Autobahn, treibt ein
Mann, der sich als „Staatsbürger“ vor-
stellt, die Passagiere zurück in den Bus.
Nicht alle wollen mit, die Gruppe teilt sich.
Während Abdul und sein Vater mitfah-
ren, wollen Sinan, Nesip und ihre Familien
nicht wieder einsteigen, sie wollen nicht
nach Uzunköprü, nicht über den Fluss, sie
fürchten sich vor den griechischen Sicher-
heitskräften. „Brutal“, seien die, sagt
Nesip. Deshalb gehen sie zu Fuß weiter,
über die Felder, mit Nesips schwangerer
Mutter. Die Landschaft hier ist hügelig,
nicht so flach wie an der Grenze. Die Flücht-
linge haben Rucksäcke und Koffer dabei,
über ihnen steht die Sonne, es sind etwa
15 Grad, aber in der Nacht soll es viel kälter
werden. Ein beschwerlicher Weg.
Bei einem späteren Treffen wird der Fah-
rer des Busses sagen, er schäme sich „als
Türke dafür, was hier mit den Menschen
geschieht“.
Mittlerweile ist es Mittwochnachmit-
tag, und die Wege der Flüchtlinge teilen
sich nicht nur, sie überkreuzen sich auch.
Die einen wollen unbedingt noch zur Gren-
ze, suchen nach Lücken im Zaun – die ande-
ren kehren schon wieder um. Enttäuschte,
die sich getäuscht fühlen.
Einer von ihnen ist Abdul Rezak, er hat
seit vier Tagen im Niemandsland bei Pazar-
kule ausgeharrt, mit Vater, Mutter und
zwei Brüdern, mit Tausenden anderen Aus-
reisewilligen. Er ist aus Syrien, aus Aleppo,
25 Jahre alt. Er sagt, sein jüngster Bruder
sei sechs Jahre alt und krank geworden,
„vom Tränengas“. Abdul Rezak sagt auch:
„Ich dachte, wir können ganz legal ausrei-
sen.“ So hat er das verstanden, was Erdo-
ğan verkündete.
Seit sechs Jahren leben er und seine Fa-
milie im türkischen Bursa, er arbeitet dort
als Automechaniker. „Sie haben uns hier
mit einem Traktor im Schlamm abgela-
den.“ Und dann: „Es ist ein politisches
Spiel. Wir sind nicht gekommen, um zu re-
bellieren.“ Er sagt das, weil einige Flüchtlin-
ge Steine auf griechische Grenzschützer ge-
worfen haben. „Ich fühle mich wie ein Ball,
herumgeschubst.“
Der Syrer Abdul Rezak will jetzt wieder
zurück ins 400 Kilometer entfernte Bursa,
will einen offiziellen Weg aus der Türkei
heraus suchen. Dann läuft er los, den klei-
nen Bruder an der Hand, über die Staub-
straße an der Grenze entlang, wo ein paar
Bäuerinnen Äpfel und Brot verkaufen.
Die frisch geackerten Felder riechen
hier schon nach Frühling. In einem steht
ein älteres türkisches Paar, die Frau trägt
ein beiges Kopftuch, der Mann eine Woll-
mütze. Sie blickt starr Richtung Grenze,
wischt über ihr Handy, „ich mache mir sol-
che Sorgen“. Mit ihrem Auto hätten sie eine
junge Syrerin hergebracht, die das unbe-
dingt wollte. Eine Frau aus Idlib mit fünf
Kindern, das jüngste gerade ein Jahr alt.
„Wir wollten sie aufhalten, aber wir konn-
ten nicht, dann haben wir sie gefahren“,
sagt die Türkin. Die Frau versuche es
schon zum zweiten Mal, ihr Mann sei bei
Kämpfen gefallen, ihre Brüder seien in Ber-
lin. „Wir hatten Erbarmen.“
Es wird schon dunkel am Mittwoch,
dem sechsten Tag der türkischen Grenzöff-
nung, als sich immer mehr rückkehrwilli-
ge Flüchtlinge in Edirne versammeln, am
Flussufer. Es sind die Gestrandeten, die
Wütenden, die Verzweifelten. Ein Mann
ruft laut: „Wo ist Allah?“ Die Griechen hät-
ten ihm alles weggenommen, sagt er im-
mer wieder, er habe nichts mehr. Zwei jun-
ge türkische Polizisten beobachten das Ge-
schehen von einer Böschung aus, eher ent-
schlusslos, als wüssten sie auch nicht, was
sie mit der ganzen Situation anfangen sol-
len. Einer der Beamten zieht einen 50-Lira-
Schein aus der Hosentasche. „Ich hatte heu-
te Morgen noch 250 Lira, 200 habe ich an
Flüchtlinge verschenkt“, sagt er, und dass
das Leben in der Türkei wegen der Wirt-
schaftskrise sehr teuer geworden sei.
Über das teure Leben hatten auch Sinan
und Nesip geklagt. Sie haben erzählt, die Af-
ghanen bekämen in der Türkei gewöhnlich
nur schlecht bezahlte, meist illegale Jobs,
ohne Versicherung. Sinans Eltern hatten
zuvor bereits zwölf Jahre als Flüchtlinge in
Iran gelebt, sie konnten auch dort nicht
bleiben. Den Syrern in der Türkei gehe es
besser, sagten sie, die dürften zumindest
in die Krankenhäuser gehen. Die Krise
macht auch die Ärmsten zu Konkurrenten.
Aber wo sind Sinan, Nesip und die ande-
ren jetzt? Sie werden die Nacht im Freien
verbringen, nach einem langen Marsch.
Am nächsten Morgen, es ist mittlerwei-
le Donnerstag, stehen in Edirne tiefe Pfüt-
zen auf der Straße, es hat geregnet.
Sinan meldet sich, sie haben auf einem
Feld geschlafen und sind nass geworden.
Jetzt seien sie in einem Dorf angekommen,
er schickt die Koordinaten per Whatsapp.
Das Dorf heißt Azatlı, es liegt etwa 30 Kilo-
meter südlich von Edirne, eine Ansamm-
lung von ein paar Bauernhäusern. Die Jan-
darma, die außerhalb der Städte in der Tür-
kei Polizeigewalt ausübt, hat sie am Mor-
gen entdeckt. Jetzt bewachen zwei Beamte
in blauer Uniform Sinan, Nesip und ihre Fa-
milien. Die Gruppe ist nach dem Streit im
Bus auf 25 Personen geschrumpft. Die
Männer lehnen an einer Mauer, die Frauen
haben sich erschöpft auf einen Grasstrei-
fen am Wegrand gesetzt, zwischen ihnen
schlafen Kleinkinder. Die Frauen durften
in der Dorfmoschee auf die Toilette gehen.
Sinan hat erzählt, seine Mutter habe Pro-
bleme mit den Nieren.
Die Jandarmen sagen, sie hätten die Aus-
länderbehörde verständigt, die würde
gleich einen Bus schicken. Wenig später
kommt dann auch ein weißer Kleinbus,
mit einem Kennzeichen der Nachbarpro-
vinz Kırklareli. Der Fahrer treibt zur Eile.
Er trägt eine rote Steppjacke, und auf die
Frage, wohin es geht, sagt er, seine Anwei-
sungen bekomme er unterwegs. Die Fami-
lien sagen, dass sie nicht nach Uzunköprü
wollen, nicht an den Fluss, auf keinen Fall.
Sie wollen nach Edirne, und von dort zum
Übergang von Pazarkule, weil sie hoffen,
dass dort irgendwann das griechische Tor
doch noch aufgehen wird. So haben sie
Erdoğan schließlich verstanden. Ausreise,
ganz legal, nach Europa.
Das Gepäck wird hinter die Heckklap-
pen des Transporters gestopft, der Fahrer
streift einen weißen Mundschutz über,
dann steigt er ein, der Bus fährt los. Fünf
Minuten später melden sich abwechselnd
Sinan und Nesip, sie sind in Panik. „Sie
bringen uns nach Uzunköprü!“
Noch am selben Tag hat sich der türki-
sche Innenminister Süleyman Soylu zum
Grenzbesuch angekündigt. Journalisten
lassen sie jetzt nicht mehr in Grenznähe,
schon Kilometer vor Pazarkule müssen sie
umkehren. Soylu sagt dann, dass er Spezial-
einheiten an die Grenze bringen werde,
um zu verhindern, dass die Griechen die
Flüchtlinge gleich wieder zurückschicken.
Wie das gehen soll, sagt er nicht.
Wollen sie die Menschen hin- und herja-
gen? Und wenn ja, warum? Was soll hier be-
wiesen werden – dass Europa sich bis aufs
Blut verteidigt, nachdem die Türkei prak-
tisch Beihilfe zur illegalen Ausreise leistet?
Der türkische Innenminister sagt auch:
„Europa hat uns bislang kein konkretes An-
gebot gemacht“, wie man mit der Situation
umgehen wolle, mit den Tausenden Men-
schen, die in die EU möchten.
Eigentlich ging es doch mal um den
Krieg in Syrien, und darum, dass die Tür-
kei schon 3,6 Millionen Menschen aufge-
nommen hat. Europa lobte sie dafür reich-
lich. Dass die Türkei nicht noch mehr
Flüchtlinge aus der umkämpften syri-
schen Provinz Idlib beherbergen will, ha-
ben die Europäer inzwischen auch verstan-
den. Von den Afghanen und all den ande-
ren, den Pakistanern, den Irakern, den Ira-
nern, die sich aus den unterschiedlichsten
Gründen in die Türkei geflüchtet haben,
spricht Erdoğan eigentlich nie. Sie haben
auch kaum Rechte in der Türkei.
Am Donnerstagabend wird dann auch
noch ein Waffenstillstand für Idlib verkün-
det, vom russischen Präsidenten Wladimir
Putin und von Erdoğan, einen halben Tag
haben die beiden im fernen Moskau ver-
handelt. Die türkischen Medien schicken
Eilmeldungen.
Sinan meldet sich an diesem Donners-
tagabend auch noch einmal, schickt einen
neuen Standort, es ist eine Stelle am Orts-
eingang von Uzunköprü. Sie sind da, wo sie
nie hinwollten. Eine Tankstelle ist hier
schon seit Tagen zu einem Abladeplatz der
Elenden geworden. Hunderte Menschen
kauern zwischen den Zapfsäulen, liegen
auf dem blanken Betonboden, entkräftet.
Viele wurden von den griechischen Sicher-
heitskräften über den Fluss zurückge-
schickt. Einer, der noch aufrecht steht,
trägt ein geborgtes Jackett, das ihm Num-
mern zu groß ist. Die Griechen hätten ihn
ausgezogen, sagt er. Es gibt jetzt auch Vi-
deos von großen Gruppen fast nackter
Männer, türkische Medien verbreiten sie.
Wer all die Flüchtlinge zu dieser Tank-
stelle gekarrt hat, bleibt unklar. Am Rand
der Benzinstation parken mehrere weiße
Kleinbusse, in einem davon saßen auch Si-
nan, Nesip und ihre Familien. Tage und
Nächte waren sie jetzt unterwegs, um an ei-
nem Ort anzukommen, an den sie nie woll-
ten. Hier dürfen auch keine fremden Beob-
achter mehr sein. Ein Mann mit dunkler
Windjacke und durchsichtigen Plastik-
handschuhen schreit auf Türkisch: „Weg
hier, weg!“
Sinan hat geschrieben, der Busfahrer,
der sie in Azatlı abgeholt hat, angeblich im
Auftrag der Ausländerbehörde, habe sie an
dieser Station ausgesetzt. Sie hätten 80 Li-
ra pro Person zahlen sollen, etwa zwölf Eu-
ro, um bis zur Grenze am Fluss gebracht zu
werden. Sinan schickt auch noch zwei kur-
ze Videos. Auf einem hat er das Innere der
Tankstelle gefilmt, einen weiß gekachel-
ten Raum, in dem sonst Autos repariert
werden. Man sieht die Grube für die Unter-
bodenarbeiten, und drum herum Men-
schen auf Decken und Plastikplanen. Vor
der Werkstatt stehen ein paar weiße Gar-
tenstühle, alle sind besetzt. Es gibt auch ei-
nen kleinen Spielplatz, die Schaukel
quietscht, man hört es in den Videos.
Am Samstag spricht wieder Innenminis-
ter Soylu, er sagt: „Das ist erst der Anfang,
was bislang geschehen ist, ist nichts.“ Die
Zahl der Flüchtlinge an der Grenze werde
bald noch stark ansteigen. Kurz darauf
wird bekannt, dass Erdoğan am Montag
nach Brüssel reisen und mit der EU-Kom-
mission reden will.
Sinan schickt seine letzte Botschaft, sei-
ne Mutter sei ohnmächtig geworden. „Be-
tet für uns.“ Dann ein Foto von einer Kran-
kentrage. Darauf liegt die Mutter, und Si-
nans Rucksack. Nesips Whatsapp-Profil-
bild zeigt einen Strand mit einem Herz aus
Licht. Davor stehen zwei Menschen. Sie hal-
ten sich an den Händen.
DEFGH Nr. 57, Montag, 9. März 2020 (^) DIE SEITE DREI 3
Keinen Schritt weiter
Es hieß, die Grenzen nach Europa sind offen. Also gingen sie los. Bis sie merkten,
dass sie von Präsident Erdoğan nur benutzt werden. Über Menschen, die niemand haben will
von christiane schlötzer
Gerade sind so viele Flüchtling in der Türkei unterwegs, dass sich ihre Wege kreuzen. Die einen wollen noch an die Grenze, die anderen kehren um. Mit dem Gepäck und den Kindern, mit all ihrer Enttäuschung. FOTO:MOHSSEN ASSANIMOGHADDAM / DPA
Sinan Jamsidi ist zwölf Jahre alt, seine Familie hat Bustickets nach Edirne ge-
kauft,an die Grenze. Aber der Bus bringt sie dort nicht hin. FOTO: CSC
Sie warten an der Grenze, am
Stacheldraht. Dann ein Geräusch,
klack, klack, so klingen Schüsse
Abdul Rezak wurde mit einem
Traktor im Schlamm abgeladen:
„Es ist ein politisches Spiel.“
Während die Menschen auf dem
Boden kauern, auf Plastikplanen,
redet der türkische Innenminister