Süddeutsche Zeitung - 09.03.2020

(Steven Felgate) #1
Ungewöhnliche Dinge geschehen derzeit
im Königreich Saudi-Arabien. Manche fal-
len sofort ins Auge, Bilder von ihnen ge-
hen im Internet viral: In Mekka etwa
bleibt der gigantische Innenhof der Al-Ha-
ram-Moschee derzeit leer. Dort, wo nor-
malerweise Zehntausende Gläubige das
Heiligtum der Kaaba umrunden, glänzt
nun der weiße Marmorboden. Vielleicht
zum ersten Mal in der Geschichte des Is-
lams bleiben Gläubige ausgesperrt, die
Grenzen des Landes wurden zudem für
Pilger geschlossen. Angeordnet hat das
Kronprinz Mohammed bin Salman, aus
Angst vor dem Coronavirus wird der heili-
ge Ort erst einmal desinfiziert.
Andere Vorgänge, die derzeit auf Befehl
des MbS genannten Kronprinzen passie-
ren, werden im Netz ebenso heftig geteilt
und diskutiert. Nur Bilder gibt es keine,
was in der Natur ihrer Sache liegt: Palastre-
volten und -intrigen spielen sich hinter
den blickdichten Mauern königlicher Hö-
fe ab. Im Falle Saudi-Arabiens auch hinter
den Tüchern der Luxuszelte, in denen
manche Prinzen ihre Tage vertändeln –
gut abgeschirmt in den Weiten der Wüste.
An einem dieser Beduinencamps sol-
len am Freitag schwer bewaffnete Spezial-
einheiten vorgefahren sein. Sie kappten
alle Kommunikationslinien, durchsuch-
ten das Areal, und als sie fertig waren, nah-
men sie den Hausherren und dessen jün-
geren Bruder mit. Mohammed bin Nayef
ist ehemaliger Innenminister des König-
reichs und ein enger Freund der US-Regie-
rung und Neffe von König Salman. In Riad
verhafteten Palastwachen gleichzeitig ei-
nen leiblichen Bruder des Monarchen,
Prinz Ahmed bin Abdulaziz al-Saud. Er ist
neben Salman der letzte noch lebende
Sohn des Staatsgründers, vor allem we-

gen seiner kritischen Worte zum Jemen-
krieg hofften einige Saudis, ihn einmal
auf dem Thron zu sehen. Ihm und den an-
deren Prinzen wird Verrat vorgeworfen,
sie sollen einen Putsch geplant haben. Die
Behörden in Riad gaben keine Stellung-
nahme ab, doch Mitglieder der royalen Fa-
milie bestätigten derNew York Timesdie
Verhaftungen.
Ob die Prinzen tatsächlich planten, eine
Thronbesteigung von MbS zu verhindern


  • darüber kann nur spekuliert werden. Kö-
    nig Salman jedenfalls ist 84 Jahre alt und
    leidet Gerüchten zufolge an Demenz, den-
    noch soll er die Haftbefehle persönlich un-


terschrieben haben. Dass dies an interna-
tionale Medien durchgestochen wurde,
zeigt zumindest, wie groß das Unbehagen
mit der aggressiven Politik des Kronprin-
zen selbst im Herrscherhaus ist.
Auf internationaler Bühne gelang es
dem heute 34-Jährigen, sich lange als Re-
former zu inszenieren: Er gestattete Frau-
en das Autofahren, erlaubte die Wiederer-
öffnung von Kinos und das Abhalten von
Popkonzerten. Der Aufbau einer Unterhal-
tungsindustrie ist Teil seiner „Vision
2030“, mit der MbS die Wirtschaft des
Landes weniger abhängig vom alles domi-
nierenden Ölgeschäft machen will.
Dass Mohammed bin Salman bereit
ist, weit zu gehen, um Macht zu erlangen
oder zu sichern, wurde spätestens im Ok-
tober 2018 auch international bekannt.
Im Istanbuler Konsulat des Königreichs
wurde der Publizist und MbS-Kritiker Ja-
mal Khashoggi ermordet und mit einer
Kettensäge zerlegt, die Befehle dazu ka-
men wohl vom Kronprinzen. In Saudi-Ara-
bien selbst wusste man da bereits um des-
sen Machthunger: Im Jahr 2017 ließ MbS
mehr als 200 Prinzen, Geschäftsmänner
und ehemalige Minister in einem Fünf-
Sterne-Hotel einsperren und teils miss-
handeln, bis diese bereit waren, Teile ih-
res Vermögens an den Staat zu überschrei-
ben. Der offizielle Grund hierfür war der
Kampf gegen Korruption, dass so einige
potenzielle Rivalen kaltgestellt wurden,
dürfte für MbS aber zumindest ein ange-
nehmer Nebeneffekt gewesen sein.
Mit ein paar Hundert Millionen Dollar,
wie sie die Geiseln vom Ritz-Carlton-Ho-
tel teils zahlten, werden sich die nun Fest-
genommenen nicht retten können. Ihnen
droht lebenslange Haft – oder sogar die
Todesstrafe. moritz baumstieger

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von felix hütten

V

iren lieben Menschenansammlun-
gen, für sie ist es das reinste Para-
dies. Überall Augen, Nasen, Mün-
der, über deren Schleimhäute sie hinein-
kommen in den Körper eines Menschen.
Was da hilft, ist schlicht Abstand. Je weni-
ger Menschen von einem Virus infiziert
werden, desto langsamer dessen Ausbrei-
tung. Das gilt im Grunde für alle Viren,
mit dem Unterschied, dass nicht von al-
len eine derart hohe Ansteckungsgefahr
ausgeht wie von dem Coronavirus. Und
deshalb ist es richtig, Kontaktbörsen für
Viren konsequent zu schließen; einfach,
um ihnen ihre menschlichen Ziele zu ent-
ziehen. Diese Erkenntnis der Infektions-
medizin ist unumstritten, doch leider ist
sie vor allem eines: schwer umzusetzen.
In der Praxis entspannt sich ein gehöri-
ger gesellschaftlicher Konflikt über die
konkreten Vorhaben zur Viruseindäm-
mung. Gerade wird diskutiert, ob man et-
wa Schulen und Kindergärten deutsch-
landweit schließt. In Bayern müssen nun
Kinder zu Hause bleiben, wenn sie zuvor
etwa in Norditalien im Urlaub waren. Die
Entscheidung ist richtig, kommt aber ei-
ne Woche zu spät. Das mag für manche wi-
dersprüchlich klingen, immerhin schei-
nen insbesondere Kinder nicht nennens-
wert am dem Virus zu erkranken, obwohl
sie sich ebenso anstecken können. Sehr
wahrscheinlich aber wird das Virus auch
von Menschen weitergegeben, die nur un-
spezifische Symptome zeigen. Damit wä-
ren Schulen riesige Virenschleudern.
Die Entscheidung aber, Schüler tat-
sächlich in Corona-Ferien zu schicken, ist
keine, die man ausschließlich mit Argu-
menten der Infektionsmedizin begrün-
den kann. Denn selbstverständlich kom-
men auch andere Menschenansammlun-
gen in Frage, Einkaufscenter, Autofabri-
ken, Restaurants, alles ideale Kontaktbör-
sen für das Virus.

Warum also gerade Schulen verram-
meln, und nicht Schnellimbisse und Fuß-
ballstadien? Wie wichtig ist Bildung in
Zeiten einer Epidemie? Wie wichtig ist
Vergnügen, wie wichtig Produktion, wie
wichtig ein funktionierendes öffentli-
ches Leben? Die Antworten auf diese Fra-
gen sind schwer zu finden, denn die ge-
sellschaftlichen Auswirkungen einzelner
Entscheidungen sind enorm. Schulschlie-
ßungen etwa hätten Folgen für das Ar-
beitsleben Tausender Eltern, denn deren
Kinder können wohl kaum über Wochen
alleine zu Hause bleiben. Das würde eine
enorme Zahl Erwachsener ebenso aus
dem Arbeitsleben fernhalten. Ärgerlich
für Unternehmen, ideal für den Kampf ge-
gen das Virus – wenn alle mitmachen.

Und so zeigt sich, dass effektiver Seu-
chenschutz nur gemeinsam mit den Bür-
gerinnen und Bürgen funktioniert. Basta-
Befehle von oben hingegen werden in der
Gesellschaft wahrscheinlich Unmut för-
dern, schon jetzt ist an vielen Stellen zu
hören, man sei doch nicht in China. Bes-
ser wäre es, auf Kooperation zu setzen:
Messe-Veranstalter könnten freiwillig
Termine streichen. In manchen Bran-
chen ist Home-Office eine gute Alternati-
ve; Unternehmen sollten dies Mitarbei-
tern anbieten, auch ohne einen Infekti-
onsfall in den eigenen Reihen.
Die Eindämmung des Virus kann nur
gelingen, wenn alle mithelfen. Dazu zählt
regelmäßiges Händewaschen, sich solida-
risch und flexibel zu zeigen, Vorsicht wal-
ten zu lassen und etwa auf Popkonzerte
und U-Bahn-Fahrten zu verzichten. Und
eben auch in besonders von Corona be-
troffenen Regionen des Landes vorsorg-
lich Schulen und Kitas zu schließen.

von alexander mühlauer

W

enn der britische Schatzkanzler
in dieser Woche den Haushalt
vorstellt, werden die Brexiteers
jubeln. Rishi Sunak will nämlich verkün-
den, dass die von ihnen verhasste Tampon-
Steuer zum Jahresende abgeschafft wird.
Dann soll Großbritannien die EU nach der
Übergangsphase endgültig verlassen und
muss sich nicht länger an den von Brüssel
verordneten Mindeststeuersatz auf Hygie-
neartikel für Frauen halten. Das Aus der
tampon taxist ein Sieg all jener, die sie
schon vor dem Brexit-Referendum als
Symbol für die EU-Bürokratie brandmark-
ten. Jetzt, da sie gestrichen wird, steht sie
plötzlich für etwas ganz anderes: die Wie-
dererlangung von Souveränität.
Dieses Ansinnen ist es auch, das bis-
lang die Brexit-Verhandlungen prägt. In
Brüssel treten die Briten derart dogma-
tisch auf, dass sie Gefahr laufen, die Frei-
handelsgespräche zu einem Proseminar
über Brexit-Philosophie zu machen. An-
statt die enge wirtschaftliche Beziehung
pragmatisch zu entflechten, ist es dem
Londoner Chefverhandler David Frost of-
fenbar wichtiger, der EU noch einmal klar-
zumachen, was der Brexit überhaupt be-
deutet. Aus seiner Sicht kann Brüssel
noch immer nicht akzeptieren, dass es
Länder gibt, die zwar geografisch zu Euro-
pa gehören, aber politisch durchaus unab-
hängig von der EU existieren können. Die
Briten wollen als „gleichwertiger Souve-
rän“ behandelt werden – doch was das ge-
nau bedeutet, sagen sie nicht.
Da ist zum Beispiel das von Brüssel ge-
fordertelevel playing field. Die EU möchte
damit sicherstellen, dass britische Firmen
gegenüber EU-Rivalen keine unfairen Vor-
teile haben. Die Europäische Union will
nur dann einen Handelsvertrag abschlie-
ßen, der Importe aus Großbritannien wei-
ter von Zöllen befreit, wenn Boris Johnson
keine Standards absenkt, etwa beim Um-

weltschutz, und sich an EU-Regeln für
Subventionen hält. Nur: Diese Vorschrif-
ten lehnt der Premier strikt ab – wider-
sprechen sie doch dem nationalistischen
Kerngedanken des Brexit. Stattdessen ver-
spricht London lediglich, künftig selbst
die weltweit ambitioniertesten Standards
zu setzen. Das müsse doch reichen.

Für die Brüsseler Bürokratie, die sich
seit jeher auf das Verfassen glasklarer
Rechtstexte versteht, ist das eine Provoka-
tion. Getrieben vom Londoner Brexit-
Mindset ist die EU drauf und dran, sich ih-
rerseits in den Dogmatismus zu flüchten.
Gewiss, die EU fürchtet zu Recht, dass
nach dem Brexit ein Wettbewerber vor
der eigenen Haustür entsteht, der schnel-
ler auf die Veränderungen der Globalisie-
rung reagieren kann als der träge 27-Staa-
ten-Bund. Aber anstatt darin selbst einen
Ansporn zu sehen und eine pragmatische
Lösung mit London anzustreben, hängt
die EU zu sehr am Status quo.
Insofern hat der Londoner Chefver-
handler nicht ganz unrecht: In Brüssel
gibt es immer noch die Hoffnung, dass
sich nach dem Brexit nicht so viel ändert.
Doch diese Hoffnung ist wohlfeil. Es wird
zu Disruption kommen. Umso wichtiger
ist es jetzt, die Zeit für Lösungen zu nut-
zen, die für beide Seiten gesichtswahrend
sind. Sollte Brüssel etwa der Meinung
sein, dass Großbritannien EU-Standards
im Warenaustausch unterläuft, muss dar-
über ein unabhängiges Schiedsgericht ent-
scheiden. Auch Sanktionen müssen mög-
lich sein. Im Idealfall befruchten sich Lon-
don und Brüssel jedoch gegenseitig. So
wie bei der Tampon-Steuer. Von 2022 an
dürfen auch alle EU-Staaten die Abgabe
streichen, wenn sie es denn möchten.

D

ass es in Deutschland zunehmend
ungerecht zugehe, gilt vielen Bür-
gern als Binse: Selbstverständlich
sei das so, sagen sie, das könne man schon
daran erkennen, dass es doch ganz offen-
sichtlich immer mehr Reiche und immer
mehr Arme gebe und im Übrigen kein Nor-
malverdiener in München sich noch eine
Wohnung leisten könne. Das passt aller-
dings so nicht zu wissenschaftlichen Er-
kenntnissen, wonach die Ungleichheit in
Deutschland seit 15 Jahren eben nicht wei-
ter zugenommen hat.
Nach einer Studie des Instituts der deut-
schen Wirtschaft (IW) sind die realen Ein-
kommen zwischen 1991 und 2017 im
Schnitt um 20 Prozent gestiegen, seit 2013


profitierten davon so gut wie alle Einkom-
mensschichten. Und dank der guten Kon-
junktur gelang zuletzt mehr Menschen als
früher der Aufstieg in die Mittelschicht.
Aber wahr ist auch: Es macht einen Unter-
schied, womit jemand sein Geld verdient.
Wer von seinem Angestellteneinkommen
lebt, wird selten Ausreißer nach oben erle-
ben, anders als derjenige, der sein Geld
mit Wertpapieren verdient oder Immobi-
lien in den richtigen Lagen besitzt.
Deshalb muss die Politik ein deutliches
Signal geben, dass sich Leistung für alle
Verdiener lohnt. Wenn es jetzt wegen der
Corona-Krise zu Steuererleichterungen
kommt, wäre das in schlechten Zeiten ei-
ne gute Nachricht. marc beise

K

inder sind besonders verletzlich,
sie benötigen mehr rechtlichen
Schutz als Erwachsene, weil sie
sich selbst noch nicht so verteidigen kön-
nen wie Volljährige. Und weil sie oft nicht
ernst genommen werden. Aus dieser Idee
entspringt der Plan, Kinderrechte ins
Grundgesetz zu schreiben. Und tatsäch-
lich müssen Kinderinteressen mehr Ge-
wicht bekommen, bei der Stadtplanung,
beim Freiraum zum Spielen oder beim
Schutz vor Gewalt. Das heißt aber nicht au-
tomatisch, dass die geplante Verfassungs-
änderung der richtige Weg ist.
Zum einen bescheinigen Fachleute
dem Entwurf von Justizministerin Christi-
ne Lambrecht, dass er eigentlich nur die


bisherigen Karlsruher Urteile widerspie-
gelt, sprich: nicht wirklich etwas ändert.
Solche Symbolpolitik kann Erwartungen
wecken, die später enttäuscht werden.
Zum anderen könnte er durchaus fragwür-
dige Folgen haben für das Verhältnis von
Eltern und Kindern.
Ihr gehe es, sagt die Ministerin, nur um
das Verhältnis von Staat und Kindern. Ex-
perten sehen aber sehr wohl die Möglich-
keit, dass Elternrechte beschnitten wer-
den. Wie Verfassungsrichter das später be-
urteilen könnten, ist ungewiss. Diese hoch-
politische Frage sollte man jedoch nicht
unbeabsichtigt über das Grundgesetz be-
antworten. Man muss sie politisch erstrei-
ten und entscheiden. roland preuss

F

ür vieles in Israels Politik kann Ben-
jamin Netanjahu verantwortlich ge-
macht werden. Er hat für wirtschaft-
lichen Aufschwung gesorgt, aber auch
den politischen Diskurs vergiftet. Mit ihm
und seiner Koalition aus rechten und reli-
giösen Parteien ist das Land weiter nach
rechts gerückt. Aber für ihren Niedergang
ist die mit Netanjahu konkurrierende Ar-
beitspartei selbst verantwortlich.
Die Partei, die die Gründung des Staa-
tes Israel betrieben und die meisten Minis-
terpräsidenten gestellt hat, ist auf fünf
Prozent geschrumpft. Die Arbeitspartei
hat den Freiraum durch den Rechtsruck
nicht genutzt, sondern die Chance durch
interne Machtkämpfe verspielt. Nach


dem Gastspiel eines Millionärs an der Spit-
ze setzte sich mit dem Gewerkschafter
Amir Peretz ein Politiker durch, der keine
Visionen hat und bei Wahlen bereits ge-
scheitert ist. Der Umbau, den junge Politi-
ker wie Itzik Shmuli und Stav Shaffir vor-
antreiben wollten, wurde abgesagt. Wäh-
ler suchten sich nun eine politische Alter-
native: Blau-Weiß, Meretz oder die Verei-
nigte Liste der arabischen Parteien.
Wie die aus der Gründung des Staates
stammende Kibbuz-Bewegung muss sich
auch die Arbeitspartei in Israel jetzt neu er-
finden, wenn sie denn weiter bestehen
will. Sonst wird die einst staatstragende
Partei des Landes bald nur noch Geschich-
te sein. alexandra föderl-schmid

R


ecep Tayyip Erdoğan ist nach-
weislich ein Hitzkopf, aber das
bedeutet keineswegs, dass er
nicht in der Lage wäre, kühl zu
taktieren. Der türkische Präsi-
dent weiß, was Autokraten von Weltrang
heutzutage wissen: nämlich auf welche
Stellen man zielen muss, um Gesellschaf-
ten des Westens zu spalten. Indem er Mi-
granten zu Tausenden an die Grenze zu
Griechenland karren lässt, um sie zum
Überrennen der EU-Außengrenze zu trei-
ben, fordert Erdoğan Europa in dessen In-
nerstem heraus. Gemeint ist jenes Werte-
gerüst, das heute so gerne angeführt wird,
um zu definieren, was diesen Kontinent
vom Rest der Welt unterscheidet.
Die Tränengasgranaten, die griechi-
sche Grenzer auf die vom türkischen Re-
gime als Waffen missbrauchten Men-
schen schießen, sind ein Geschenk für
den Propagandisten Erdoğan; die Bilder
der Brutalität am Fluss Evros sind ihm ein
Beleg dafür, dass es die Europäer, wenn es
hart auf hart kommt, mit ihren Menschen-
rechten selber nicht so genau nehmen –
und folglich anderen auch keine morali-
schen Lektionen zu erteilen haben.


Die Griechen seien nun Europas
„Schild“, sagt die oberste Repräsentantin
dieses alten Europas, Kommissionschefin
Ursula von der Leyen, die zusammen mit
Premier Kyriakos Mitsotakis einen Hub-
schrauberflug über das Krisengebiet an
der Grenze unternommen hat – ohne mit
ähnlicher Entschlossenheit darauf hinzu-
weisen, dass es hier um schutzbedürftige
Menschen geht, die zwischen die Fronten
geraten sind. Und dass die griechische Re-
gierung Völkerrecht und europäisches
Recht bricht, wenn sie zugleich für einen
Monat alle Möglichkeiten aussetzt, einen
Antrag auf Asyl zu stellen.
Zweifellos hat Griechenland wie jedes
andere Land das Recht (und als EU-Mit-
glied auch die Pflicht), seine Grenzen zu
kontrollieren und sich gegen Angriffe und
Erpressungsversuche zu wehren. Es ist
richtig, dass die europäischen Partner
Athen darin unterstützen. Das zum Twit-
ter-Hashtag gewordene Credo diverser
Spitzenpolitiker, Griechenland beizuste-
hen („#Standwithgreece“), zeugt von ei-
ner innereuropäischen Solidarität, die das
bis heute von Finanzkrise und Sparpolitik
gebeutelte Land gut gebrauchen kann. Es
wäre aber verheerend, wenn sich diese So-
lidarität auf die gemeinsame Aufrüstung
an der Außengrenze der Europäischen
Union beschränkte.


Die Regierung in Athen ist zunehmend
verzweifelt. Premier Mitsotakis wird an
diesem Montag in Berlin Bundeskanzle-
rin Angela Merkel um Hilfe bitten, zu-
gleich versucht eine deutsch-griechische
Konferenz in der Hauptstadt, mehr Inves-
titionen nach Griechenland zu locken.
Auf Lesbos herrschen inzwischen bür-
gerkriegsähnliche Zustände: Vorletzte Wo-
che bekriegten sich Inselbewohner und
Polizei-Spezialeinheiten im Streit um Plä-
ne der Athener Regierung, auf den Ägäis-
Inseln neue Flüchtlingslager zu errichten.
Viele Inselbewohner sympathisieren mit
dem rechten Mob, darunter offenbar auch
solche, die zuvor die bei ihnen gestrande-
ten, Schutz suchenden Menschen mit De-
cken und Lebensmitteln versorgt hatten.
Ein berechtigtes kollektives Gefühl, über-
fordert und vom Rest Europas mit der La-
ge allein gelassen zu sein, ist in Wut und
Hass umgeschlagen.
Die Lage auf Lesbos, wo heute etwa
19000 Asylsuchende in und rund um ein
für 2200 Menschen geschaffenes Lager ve-
getieren, ist eine direkte Folge der planlo-
sen und unsolidarischen europäischen
Migrations- und Asylpolitik. Seit die Euro-
päer nach der Massenbewegung von 2015
beschlossen, die Balkanroute zu schlie-
ßen, sitzen jene, die es noch aus der Tür-
kei auf EU-Territorium schafften, in Grie-
chenland fest. Die dortigen Behörden sind
mit der Fülle an Verfahren überfordert. Ge-
nau darin braucht das Land nun die Solida-
rität der anderen Europäer.
Die EU-Staaten müssen dafür sorgen,
dass an ihrer gemeinsamen Außengrenze
schnellstens wieder Recht und Ordnung
einkehren; konkret: Sie müssen sicherstel-
len, dass nicht Sicherheitskräfte mit Trä-
nengas und Bürgerwehren mit Knüppeln
darüber entscheiden, wer in Europa ein
Recht auf Schutz hat, sondern Beamte mit
rechtsstaatlichen Mitteln. Sie müssen ge-
meinsam die Kapazitäten so aufstocken,
dass dies im Einzelfall schnell geschieht
und nicht, wie bisher, mitunter Jahre dau-
ert. Und sie müssen die schutzbedürfti-
gen Menschen, die im Dreck der überfüll-
ten griechischen Lager festsitzen, befrei-
en und untereinander gerecht verteilen.
Regierungen wie jene in Ungarn und
Polen, die sich der Verantwortung verwei-
gern, die mit den Vorzügen einer EU-Mit-
gliedschaft einhergehen, müssen den
größtmöglichen Druck der anderen er-
fahren.
Sich nicht von den zynischen Erpres-
sungsversuchen Erdoğans spalten lassen,
sondern neben den gemeinsamen Gren-
zen auch die gemeinsamen Werte verteidi-
gen: Nur wenn sie diese gewaltige Heraus-
forderung bestehen, können die Europäer
behaupten, aus den Ereignissen von 2015
wirklich etwas gelernt zu haben.

Gleichberechtigung für Frau-
en lässt in vielen deutschen
Parlamenten auf sich war-
ten. Im Deutschen Bundes-
tag liegt der Anteil weibli-
cher Abgeordneter bei 30,7 Prozent, dem
niedrigsten Wert seit 1998. Die Grünen
besetzen ihre Listenplätze paritätisch,
die anderen großen Parteien nicht. Eine
derzeit diskutierte Lösung wäre es, die Pa-
rität gesetzlich vorzuschreiben: Dem-
nach wären die Wahllisten für die Parla-
mente zu gleichen Teilen mit Frauen und
Männern zu besetzen. Dies haben die Lan-
desregierungen in Brandenburg und Thü-
ringen 2019 beschlossen. Die Mehrzahl
der Juristen sieht darin eine unzulässige
Vorgabe, welche die Freiheit der Wahl ein-
schränke. Nach Artikel 38, Absatz 1 des
Grundgesetzes sind Wahlen allgemein,
frei, gleich, unmittelbar und geheim. Zur
Wahlfreiheit gehört aber das freie Wahl-
vorschlagsrecht. Staatliche Eingriffe ver-
stoßen, so die Kritik, gegen dieses Grund-
prinzip der parlamentarischen Demokra-
tie, selbst wenn sie von besten Absichten
getragen sind. Befürworter berufen sich
dagegen darauf, dass das Grundgesetz in
Artikel 3, Absatz 2 den Staat verpflichte,
gegen Ungleichheit vorzugehen. In Thü-
ringen klagen AfD und FDP gegen die
Quotierung – Ministerpräsident Bodo Ra-
melow (Linke) will das Paritätsgesetz sei-
nes Landes daher für die Neuwahlen 2021
vorsichtshalber außer Kraft setzen. jkä

(^4) MEINUNG Montag,9. März 2020, Nr. 57 DEFGH
FOTO: REUTERS
CORONAVIRUS
Alle müssen mithelfen
BREXIT
Die Briten trumpfen auf
MITTELSCHICHT
Weniger Steuern – jetzt
GRUNDGESETZ
Streiten für Kinder
ISRAEL
Selbstverschuldeter Abstieg
Verhandlungen in Brüssel sz-zeichnung: oliver schopf
GRIECHENLAND


Europas Schild

von tobias zick


AKTUELLES LEXIKON


Paritätsgesetz


PROFIL


Mohammed


binSalman


Saudischer
Kronprinz im
Machtkampf

Basta-Befehle funktionieren
nicht. Besser wäre es, auf
Kooperation zu setzen

Es ist Zeit für Lösungen,
die für beide Seiten
gesichtswahrend sind

Die katastrophale Lage auf


Lesbos ist eine direkte Folge der


unsolidarischen EU-Politik

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