Stuttgart–Der Missbrauchsfall von Stau-
fen hat 2017 das Vertrauen in Behörden
und Justiz erschüttert. Ein kleiner Junge
war von seiner eigenen Mutter und deren
Freund auf schwerste Weise sexuell miss-
braucht und weiteren Tätern gegen Geld
im Internet angeboten worden. Und das,
obwohl der Haupttäter unter Aufsicht
stand und sich das Jugendamt immer wie-
der mit dem Kind und seiner Mutter be-
fasst hatte. Die Schuldigen sind inzwi-
schen zu langen Haftstrafen verurteilt,
politisch ist der Fall jedoch noch nicht abge-
schlossen. Als Konsequenz will das Land
Baden-Württemberg jetzt mehrere Geset-
ze ändern lassen, um Gerichtsverfahren
bei einer Kindeswohlgefährdung zu ver-
bessern. Das Bundesland setzt damit For-
derungen um, die eine Kommission aus
Fachleuten in 15 Monaten erarbeitet hat.
Im Fall Staufen lagen damals eigentlich
alle Informationen auf dem Tisch – aller-
dings, und das war das Problem, nicht auf
einem, sondern auf mehreren Tischen.
Bewährungshilfe, Polizei, Jugendamt und
mehrere Gerichte waren mit dem Fall be-
fasst – doch niemand hat das Bild zusam-
mengesetzt und das Kind aus seiner furcht-
baren Lage befreit. Die Experten-Kommis-
sion Kinderschutz hat ihrem Abschluss-
bericht die Chronologie des Versagens
vorangestellt – denn nur so lassen sich vie-
le ihrer Empfehlungen verstehen.
Das Unheil beginnt Ende 2014, damals
ist der Junge sechs Jahre alt. Seine Mutter
lernt einen Sexualstraftäter kennen, der
wenige Monate zuvor aus dem Gefängnis
entlassen worden war. Weil der Mann wei-
ter als Risiko gilt, hat ihn das Landgericht
Freiburg für fünf Jahre unter Führungsauf-
sicht gestellt. Er muss sich anfangs regel-
mäßig bei der Polizei melden und hat die
Auflage, keinen Kontakt mit Minderjähri-
gen aufzunehmen. Tatsächlich gelingt es
ihm aber mehr als ein Jahr lang, seiner Be-
währungshelferin und der Führungsauf-
sicht zu verschweigen, dass er faktisch bei
einer neuen Lebensgefährtin wohnt.
Spätestens Anfang 2015 kommt es zu
ersten Missbrauchshandlungen, an denen
sich die Mutter aktiv beteiligt. Im Juli 2015
beginnt das Bundeskriminalamt gegen
den Mann zu ermitteln. Er wird verdäch-
tigt, kinderpornografisches Material zu
verbreiten. Erst 2016 kommt es zu einer
Durchsuchung. Und erst da fällt auf, dass
der Verdächtige nicht an seiner Melde-
adresse wohnt und dass er Kontakt mit ei-
nem Kind hat.
Schwerwiegende Konsequenzen hat
dies zunächst nicht. Die Polizei informiert
die neue Lebensgefährtin über den Ge-
fährderstatus des Mannes. Niemand kann
sich in diesem Moment vorstellen, dass die
Mutter selbst ihr Kind missbraucht. Die
Frau sagt den Beamten, dass sie die Vorge-
schichte ihres Lebensgefährten kenne und
dass sie ihren Sohn nie mit ihm alleinlasse.
Der Sexualtäter wird ermahnt, dass er
seine Auflagen einhalten müsse. Danach
überprüft die Polizei monatelang nicht, ob
er noch bei dem Kind wohnt. Erst im
März 2017 – die Bewährungshelferin hat
der Führungsaufsicht inzwischen mehr-
mals berichtet, dass sich ihr Klient noch im-
mer regelmäßig in der Wohnung des Jun-
gen aufhält – leitet die Staatsanwaltschaft
ein Verfahren wegen Verstoßes gegen das
Kontaktverbot ein. Kurz darauf nimmt das
Jugendamt das Kind in Obhut.
Das Leid des Jungen ist damit aber nicht
zu Ende. Denn wenige Wochen später ent-
scheidet ein Familiengericht, dass der Jun-
ge wieder zur Mutter darf, wenn die nur da-
für Sorge trägt, dass ihr Sohn den Sexual-
straftäter nicht mehr trifft. Das Gericht
fasst diesen Beschluss, ohne sich den Jun-
gen anzuschauen und ohne mit ihm zu
sprechen. Und das Jugendamt versäumt
im Prozess, einen Hinweis aus der Schule
auf Missbrauchsverdacht weiterzugeben.
Kurz darauf wird der Haupttäter zu ei-
ner viermonatigen Haftstrafe verurteilt,
weil er gegen das Kontaktverbot verstoßen
hat. Doch er legt Berufung ein, sodass das
Urteil nicht rechtskräftig wird. Drei Mona-
te später, im Juli 2017, entscheidet das
Oberlandesgericht erneut über das Schick-
sal des Jungen. Wieder wird nicht mit ihm
persönlich gesprochen, wieder darf die
Mutter ihn mit nach Hause nehmen. Ans
Licht kommt die Sache erst, als sich im Sep-
tember 2017 ein anonymer Informant bei
der Polizei meldet und ihr Videos und Bil-
der von den Missbrauchstaten zuspielt.
Sechs Tage später werden die Mutter und
der Haupttäter festgenommen.
Was müssen die Konsequenzen aus die-
sem Fall sein? Eine Forderung der Kommis-
sion Kinderschutz hat die Landesregie-
rung schon umgesetzt, bevor der Ab-
schlussbericht überhaupt fertig war. Auf
Initiative von Baden-Württemberg hat
sich der Bundesrat Mitte Februar dafür
ausgesprochen, dass Verurteilungen we-
gen sexuellen Missbrauchs nicht mehr aus
dem erweiterten Führungszeugnis ge-
löscht werden. Ein entsprechender Gesetz-
entwurf wird beim Bundestag einge-
bracht.
Als nächstes will Sozialminister Man-
fred Lucha (Grüne) mehrere Änderungen
im Familiengerichtsverfahren erreichen.
Baden-Württemberg hat derzeit den Vor-
sitz der Familienministerkonferenz der
Bundesländer, beim Treffen Ende Mai will
Lucha dafür werben, dass Kinder künftig
zwingend vom Gericht angehört werden
müssen, wenn es um Kindeswohlgefähr-
dung geht – vorausgesetzt, das Kind ist
mindestens drei Jahre alt. Das Land selbst
bietet seinen Familienrichtern Fortbildun-
gen an, um die Gesprächsführung mit Kin-
dern zu üben. Ob der Kurs verpflichtend
sein kann, wie von der Kommission gefor-
dert, prüft das Justizministerium noch.
Die Kindeswohlverfahren vor dem Fa-
miliengericht sollen zudem weitere Ände-
rungen erfahren. Die Minderjährigen, so
der Wunsch aus Baden-Württemberg, sol-
len dort künftig immer einen Verfahrens-
beistand bekommen. Zudem sollen Fami-
liengerichte die rechtliche Möglichkeit
erhalten und dazu „animiert werden“, Psy-
chologen auch als Berater hinzuzuziehen,
nicht nur als Gutachter. Weil es momentan
nicht genug Rechtspsychologen gibt, ha-
ben die Justizminister der Länder schon
im vergangenen Jahr beschlossen, das Stu-
dienangebot in diesem Bereich auszubau-
en. Hier mahnt die Kommission eine baldi-
ge Umsetzung an.
Im Fall Staufen hatte es auch beim Zu-
sammenspiel von Familiengericht und Ju-
gendamt gehakt. Deshalb will Lucha errei-
chen, dass im Kinder- und Jugendhilfe-
recht genauer definiert wird, wie sich die
Jugendämter an den Gerichtsverfahren
zur Kindeswohlgefährdung zu beteiligen
haben. Was bisher von der Kompetenz je-
des Einzelnen abhing, soll dort ausbuchsta-
biert und damit standardisiert werden:
Dass der Sozialarbeiter persönlich mit
dem Kind sprechen muss. Dass das Jugend-
amt zudem sämtliche Hintergrundinfor-
mationen zum Kind in einen schriftlichen
Bericht gießt und diesen noch vor der Ver-
handlung ans Gericht schickt. Und dass
der Sozialarbeiter dem Richter auflistet,
welche Möglichkeiten das Jugendamt hat,
dem Kind zu helfen. Und um wiederum zu
vermeiden, dass das Gericht Anordnungen
trifft, um die sich später niemand schert,
soll den Richtern vorgeschrieben werden,
dass sie die Umsetzbarkeit ihrer Anordnun-
gen mit dem Jugendamt diskutieren.
Mangelnde Kommunikation zwischen
den beteiligten Behörden war in den Au-
gen der Kommission der Hauptgrund für
das Versagen in Staufen. Insgesamt hat sie
mehr als 100 Empfehlungen formuliert,
um das zu ändern. Dabei geht es um Ver-
waltungsvorschriften, Fortbildungen und
um die lokale Vernetzung aller, die bei Poli-
zei, Behörden und Justiz mit dem Thema
Kindesmissbrauch zu tun haben. In spätes-
tens zwei Jahren soll die Landesregierung
der Kommission berichten, welche Emp-
fehlungen umgesetzt wurden.
Weitreichend sind die Vorschläge im
Umgang mit rückfallgefährdeten Sexualtä-
tern. Hier gebe es nur eine „begrenzte Kon-
trollmöglichkeit“, kritisiert die Kommissi-
on. Ob man rückfallgefährdeten Sexualtä-
tern eine Fußfessel aufzwingen kann,
prüft das Justizministerium derzeit noch,
genauso wie die Frage, ob die Führungsauf-
sicht die Durchsuchung von Wohnungen
und elektronischen Speichermedien anord-
nen können sollte. claudia henzler
interview von wolfgang janisch
SZ: Herr Harbarth, Sie werden demnächst
aller Voraussicht nach Präsident des Bun-
desverfassungsgerichts, dem Sie nun seit
mehr als einem Jahr als Vizepräsident an-
gehören. Wie fühlt es sich an, als Politiker
in einGericht zu kommen, über dessenUr-
teile man sich früher gelegentlich geär-
gert hat?
Stephan Harbarth: Die Urteile des Gerichts
habe ich schon als Student bewundert. Es
mag sein, dass man sich als Politiker ab
und an geärgert hat.
Dürfen wir raten, worüber? Das Urteil zur
Begrenzung der Überhangmandate von
2012 ist von Ihrer Partei, der CDU, sehr kri-
tisch aufgenommen worden. Und der Bun-
destag laboriert bis heute daran, weil er
danach auf eine nie da gewesene Größe
aufgebläht worden ist.
Die Diskussion über das Wahlrecht ist letzt-
lich in der Gewaltenteilung angelegt. Geset-
ze werden vom Bundestag verabschiedet,
das gilt auch für das Wahlrecht. Das Bun-
desverfassungsgericht entscheidet, ob sie
mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Wird
ein Gesetz beanstandet, hat die Politik im-
mer wieder einmal den Vorwurf erhoben,
das Gericht habe seine Kompetenzen über-
schritten. Wäre dem Gericht dieser Vor-
wurf nie gemacht worden, hätte es seinen
Auftrag verfehlt. Denn sein Auftrag lautet,
auch dem Gesetzgeber Schranken zu set-
zen. Der Effekt des nun reformierten Wahl-
rechts ist aber, dass der Bundestag sehr
groß geworden ist. Ich glaube, der Bundes-
tag wäre klug beraten, eine Begrenzung sei-
ner Größe herbeizuführen, so schwer es
ist, darüber politischen Konsens zu erzie-
len.
Weil es die Bürger nicht verstehen, war-
um das Parlament so groß geworden ist?
Die Regelgröße des Bundestags liegt bei
598 Abgeordneten. Im Augenblick hat er
mehr als 700 Mitglieder. Und er hat seine
Aufgaben auch mit deutlich weniger Abge-
ordneten gut bewältigt. Insofern ist es völ-
lig nachvollziehbar, dass die Bevölkerung
sich fragt, warum es keine größenmäßige
Begrenzung gibt. Auch im Bundestag
selbst spürt man ja, dass eine Lösung nötig
ist, nur gibt es darüber unterschiedliche
Vorstellungen. Die richtige Lösung zu fin-
den, ist aber nicht Aufgabe des Gerichts,
sondern der Politik.
Sie waren stellvertretender Vorsitzender
der Unionsfraktion, als Sie ans Verfas-
sungsgericht gewählt worden sind. Politi-
ker als Verfassungsgerichtspräsidenten
waren sogar in der Mehrheit: Hermann
Höpker-Aschoff, Gebhard Müller, Ernst
Benda, Roman Herzog, Jutta Limbach.
Was bringt ein Politiker für das Gericht
mit?
Das Gericht lebt von der Vielfalt der Per-
spektiven: Hochschullehrer, Richter, An-
wälte, Politiker. Das ist in der Beratung ein
großer Vorteil. Wir entscheiden nach recht-
lichen Maßstäben. Aber wir treffen die Ent-
scheidungen in einem Kontext, der auch
politische Bezüge aufweist. Deshalb ist es
für das Gericht wichtig, auch eine prakti-
sche Anschauung von Gesetzgebungsver-
fahren zu haben. Wie intensiv wird im Par-
lament über Regierungsentwürfe beraten?
Wie geht das Parlament mit Sachverständi-
genanhörungen um? Wie lange braucht es,
um auf Karlsruher Urteile reagieren zu kön-
nen? Hinzu kommt: Als Abgeordneter hat
man unzählige Bürgergespräche geführt,
Weinfeste besucht, Bürgerbriefe gelesen.
Man weiß, wie es in unserer Gesellschaft
zugeht. Das verleiht dem Gericht eine ge-
wisse Erdung.
Politiker sind imGericht aber auchein Un-
sicherheitsfaktor. Sie müssen manchmal
über Gesetze entscheiden, an deren Zu-
standekommen sie beteiligt waren, und
können deshalb als befangen gelten. Sie
selbst sind im Verfahren zum Verbot der
Kinderehe ziemlich knapp an der Befan-
genheit vorbeigeschrammt.
Der Gesetzgeber hat sich für Vielfalt auf
der Richterbank entschieden. Das schließt
die Wahl von Politikern ein, und das Ge-
richt ist in seiner Geschichte mit Politikern
gut gefahren. Diese Entscheidung ist bin-
dend, auch für das Gericht. Dass jemand
am Gesetzgebungsverfahren beteiligt war,
schließt ihn daher nicht automatisch von
der verfassungsrechtlichen Prüfung des
Gesetzes aus. Ich habe beim Verfahren zur
Kinderehe dem Senat die Umstände mitge-
teilt, auf die ein Vorwurf der Befangenheit
gegründet werden könnte. Und der Senat
hat entschieden, dass keine Besorgnis der
Befangenheit besteht. So werde ich es auch
in der Zukunft handhaben.
Das heißt: Wer vielfältige Senate mit er-
folgreichen Persönlichkeitenaus der Poli-
tik will, der darf bei der Befangenheit
nicht zu streng sein? Sonst bekommt man
nur Hinterbänkler?
Wenn man die Befangenheitsgründe weit
gefasst hätte, dann würden sich Bundes-
tag und Bundesrat wegen der Konsequen-
zen für die Zusammensetzung der Richter-
bank vermutlich überlegen, ob sie wirklich
profilierte Politiker wählen. Oder angese-
hene Hochschullehrer, die sich zu vielen
Themen wissenschaftlich geäußert und
Gutachten geschrieben haben – auch bei
ihnen kann sich das Befangenheitspro-
blem stellen.
Die Politik, die Sie nun hinter sich gelas-
sen haben, hat turbulente Wochen hinter
sich. In Thüringen haben wir erlebt, wie
leicht mit einer formal korrekten, aber
böswillig kalkulierten Abstimmung das
ganze System ins Wanken zu bringen ist.
Dabeihat die Landesverfassung gut vorge-
sorgt für Fälle komplizierter Mehrheitsbil-
dung. Die Parteien finden dort eigentlich
die Instrumente, um für Stabilität zu sor-
gen. Warum tun sie sich damit so schwer?
Ich hoffe, dass die Parteien in Thüringen
lernen, mit dem Wählerauftrag umzuge-
hen und möglichst stabile Verhältnisse her-
beizuführen. Abgeordnete sind frei in ihrer
Entscheidung – auch darin, wem sie ihre
Stimme geben und wem sie ihre Stimme
verweigern. Trotzdem geht unser Staats-
modell davon aus, dass Abgeordnete eine
parlamentarische Mehrheit für eine Regie-
rung organisieren.
So etwas wie in Thüringen könnte auch im
Bund passieren – obwohl das Grundge-
setz, ähnlich wie die Thüringer Verfas-
sung, darauf angelegt ist, dass der Staat
handlungsfähig ist.
Ich würde auch für den Fall einer schwieri-
gen Regierungsbildung nach einer Bundes-
tagswahl nicht gleich den Alarmzustand
ausrufen. In anderen Ländern, etwa Spani-
en oder Belgien, hat man sich über einen
langen Zeitraum schwergetan, zu einer
stabilen Regierung zu kommen. Trotzdem
geraten die dortigen politischen Systeme
nicht aus den Fugen. Deshalb bin ich auch
für Deutschland zuversichtlich. Aber es
fordert allen politischen Akteuren ein hö-
heres Maß an politischem Verantwortungs-
bewusstsein ab, als das in einer Schön-
wetterphase der Fall ist.
Müssen die Parteien in Zeiten schwieriger
Mehrheitsverhältnisse etwas neu ein-
üben, was sie in diesen Schönwetterpha-
sen verlernt haben?
Bundespräsident Frank-Walter Steinmei-
er hat nach der letzten Wahl sehr deutlich
gemacht: Wer sich um einen Wählerauf-
trag bewirbt, der muss diesen Wählerauf-
trag auch annehmen. Das ist in der Vergan-
genheit gut gelungen, auch als die Regie-
rungsbildung schwierig war. Etwa 2013,
als sich die Regierungsbildung länger hin-
zog. Oder besonders 2017, als wir einen
langwierigen Prozess der Regierungsbil-
dung hatten. Das Land war dennoch hand-
lungsfähig. Aber die Zeiten sind für politi-
sche Akteure schwieriger als früher.
Wenn die Politik in Unruhe ist, richtet sich
der Blick auf andere Institutionen. Auch
auf das Bundesverfassungsgericht, das ho-
hes Vertrauen genießt. Immer wieder
wird gefordert, Dinge ins Grundgesetz zu
schreiben, etwa die Kinderrechte oder
den Klimaschutz. Spiegelt sich darin die
Sehnsucht der Menschen, wichtige Fra-
gen nicht mehr von der Politik, sondern
vom Bundesverfassungsgericht entschei-
den zu lassen, als einer Art gutem König?
Ein solcher Wunsch wäre problematisch.
Was im Grundgesetz verankert wird, ist
tendenziell dem politischen Diskurs entzo-
gen, weil die Verfassung nur mit Zwei-Drit-
tel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat
geändert werden kann. Solche Entschei-
dungen können später nur schwer korri-
giert werden. Die Welt ist aber mit großen
Umbrüchen konfrontiert – Digitalisie-
rung, Globalisierung, Klimaschutz, Migra-
tion. In einer Welt, die sich rasch verän-
dert, müssen die Staaten in der Lage sein,
sich anzupassen. Je mehr man in die Verfas-
sung hineinschreibt, desto größer ist die
Gefahr einer Selbstlähmung. Wir machen
uns unbeweglich in einer Zeit, in der Be-
weglichkeit gefordert ist. Das ist umso pro-
blematischer, weil autokratische Füh-
rungsmodelle gern den Eindruck erwe-
cken, sie könnten sich besser auf die Zu-
kunft einstellen.
Das Plädoyer eines Verfassungsrichters
für den politischen Prozess ...
... ja, ganz entschieden. Demokratie
braucht Streit.
Ist das nicht ohnehin eine zentrale Er-
kenntnis: dass wir wieder mehr Streit in
der Sache benötigen? Die Malaise des
Politbetriebs beschleunigt die Flucht-
bewegungen aus der Politik. Aber eigent-
lich benötigen wir die Rückkehr zur Poli-
tik, zum Streit über den richtigen Weg?
Wir brauchen einen politischen Diskurs,
der von Respekt getragen ist, in dem man
aber in der Sache hart miteinander strei-
tet. Demokratie lebt davon, dass unter-
schiedliche Positionen sichtbar werden.
Damit können sich die Menschen stärker
identifizieren. Ein politisches System, das
zu stark auf Konsensfindung angewiesen
ist, führt dazu, dass unterschiedliche politi-
sche Konzepte weniger sichtbar werden.
Ich bin der Letzte, der den politischen Kom-
promiss schlechtreden will. Er hat eine be-
friedende Funktion. Ihm darf aber ein in-
tensiver inhaltlicher Streit vorausgehen.
Das tut der Demokratie gut.
Sie sind künftig das Gesicht des Gerichts,
wenn auch nicht der Chef der anderen
Richter. Ihr Vorgänger hat die europäi-
sche und internationale Verankerung des
Gerichts zu seinem Schwerpunkt ge-
macht. Haben Sie einen Schwerpunkt für
die nun noch fast elf Jahre Ihrer Amtszeit?
Die Verteidigung des freiheitlich-demokra-
tischen Rechtsstaats, der sich starken An-
feindungen ausgesetzt sieht, wird die zen-
trale Herausforderung der nächsten Jahre
sein.
Was heißt das konkret?
Wir müssen den Menschen immer wieder
erklären, warum auch die demokratische
Mehrheit nicht nach Belieben schalten und
walten kann. Demokratie und Freiheit kön-
nen ohne Recht keinen Bestand haben. Der
Rechtsstaat ist kein Selbstzweck, keine
Idee zur Erbauung von Richtern. Er hat ei-
ne dienende Funktion. Ohne Rechtsstaat
gibt es keine Freiheit und keine Demokra-
tie.
Demokratie braucht nicht nur Mehrhei-
ten, sondern auch Regeln.
Ja, Demokratie braucht Regeln. Wenn der
demokratische Prozess nicht rechtlich ge-
regelt ist, dann setzt sich am Ende schlicht
der Stärkere durch. Wenn Freiheitsräume
auch gegen den demokratischen Gesetzge-
ber nicht verteidigt werden, dann hat man
eine schrankenlose Herrschaft der Mehr-
heit. Dann haben wir keine Freiheit mehr.
Sondern, wie Alexis de Tocqueville einst
formulierte, die Tyrannei der Mehrheit.
Deshalb ist und bleibt der Rechtsstaat so
unverzichtbar.
Mit dem Kind reden
Behördenversagen hatte den Missbrauch an einem Jungen in Staufenermöglicht. Nun zieht Baden-Württemberg Konsequenzen: für Richter, Jugendämter– und womöglich auch Täter
„Man weiß, wie es in
unserer Gesellschaft zugeht.
Das verleiht dem Gericht
eine gewisse Erdung.“
„Wir brauchen einen
politischenDiskurs, in dem
man in der Sache hart
miteinander streitet.“
In die Pädophilen-Szene verkauft: Ein Junge wurde von mehreren Männern miss-
braucht, im Bild einer der Angeklagten im Staufener Fall. FOTO: PATRICK SEEGER/DPA
„Demokratie braucht Regeln“
Stephan Harbarth, voraussichtlich künftiger Verfassungsgerichtspräsident, erklärt im Interview, warum ihm
seine einstige Laufbahn als Politiker nun zugutekommt – und was der Schwerpunkt seiner Amtszeit sein soll
Stephan Harbarth, 48, gebürtiger Bade-
ner, Jurist, ehemaliger CDU-Bundestags-
abgeordneter, ist seit November 2018 Ver-
fassungsrichter. FOTO: DPA
DEFGH Nr. 57, Montag, 9. März 2020 (^) POLITIK HF2 5
„Die Verteidigung des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats“ nennt Harbarth sein zentrales Anliegen. Dafür wirbt auch dieses Plakat. FOTO: JAN WOITAS / DPA
Bei rückfallgefährdeten Tätern
gebe es nur eine „begrenzte
Kontrollmöglichkeit“, so Experten
Das Jugendamt versäumte es,
vor Gericht einen Hinweis auf
Missbrauch weiterzugeben