Die Zeit - 27.02.2020

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2018 gewannen Sie für »Das Mädchen mit der Leica« den
Premio Strega, den wichtigsten Literaturpreis Italiens, als
erste Frau seit 15 Jahren. Kürzlich schrieb die »New York
Times« über den sogenannten »Ferrante-Effekt«: Durch den
weltweiten Erfolg von Elena Ferrante würden auch andere
italienische Autorinnen sichtbarer. Stimmt das?
Ich denke, auch in Italien sickert ein Genderbewusstsein
durch, unabhängig von Elena Ferrante. In den Feuilletons
gibt es zwar nach wie vor sehr wenige Kritikerinnen, aber
mittlerweile sitzen einige Frauen in Jurys von Literatur­
preisen. Und wir Schriftstellerinnen sind zum Teil schon
länger vernetzt. Wir veranstalten zum Beispiel ein Literatur­
festival, zu dem wir nur Autorinnen einladen.
Sie waren auch die erste Migrantin, die den Premio Strega
gewann. Was war das für ein Gefühl?
Ein bittersüßes, muss ich sagen. Ich war wahnsinnig stolz,
viele aus dem Literaturbetrieb haben sich mit mir gefreut.
Aber mein Sieg fiel in den Sommer der sogenannten
geschlossenen Häfen, der großen Stimmungsmache gegen
Migranten, die über das Mittelmeer gekommen waren.
Manche haben behauptet, die Entscheidung für mich sei
eine der Political Correctness gewesen. Ein Kritiker meinte
einmal, das sei ja alles schön und gut, was ich da schrei­
be, aber meine langen Sätze würden ihn ans Deutsche
erinnern. Das sei kein Italienisch, kein richtiges jedenfalls.
Mich trifft das sehr. Andererseits denke ich, klar, vielleicht
hat er recht. In meinen Büchern finden sich Einflüsse und
Einsprengsel vieler Sprachen. Ist das schlecht? Wie soll es
anders gehen in einer globalisierten Welt? Saša Stanišić,
Ocean Vuong, Chimamanda Ngozi Adichie: Sie alle sind
migriert und bringen fremde Einflüsse mit, nicht nur the­
matisch, sondern auch sprachlich.
Mit Ihrer Mutter sind Sie, fünfzig Jahre nach Kriegsende,
nach Polen zurückgekehrt. Wie war diese gemeinsame
Reise für Sie?
Das war so eine organisierte Reise Mitte der Neunziger, mit
Stationen in Warschau, Krakau und natürlich Auschwitz.
Wenn man zusammen reist, kommt das Erzählen von
allein, weil so viele Erinnerungen vor einem liegen. Alles,
was ich über Mutter und den Krieg weiß, habe ich auf die­
ser Reise erfahren. Sie hat uns beiden gutgetan.
Als Sie in Auschwitz waren, brach Ihre Mutter zusammen –
vor der Vitrine mit den Zyklon-B-Steinchen.
Vorher, bei den Haaren, Zahnbürsten und Cremedosen,
war sie noch ruhig gewesen. Dann, als sie zum ersten Mal
in ihrem Leben das Gift sah, mit dem ihre Familie ermordet
wurde, fing sie an zu schreien: »Mama, Mama!« Sie konnte
sich gar nicht mehr beruhigen. Viele der Überlebenden in
der Gruppe hatten vor dem Besuch Valium genommen.
Eine der Frauen brüllte mich an und warf mir vor, ich hätte
meiner Mutter auch so eine Ta blet te geben sollen. Da bin
ich ausgerastet. Meine Mutter kann hier so viel weinen, wie
sie will, habe ich gesagt.
Sie haben sich an die Seite Ihrer Mutter gestellt. Das war
sicher ein Moment der Nähe.


Ja, das war es wirklich. Diese kurzen Momente hat es ja
auch immer gegeben zwischen uns.
Wie wirkte die Gedenkstätte auf Sie?
Ich finde es schade, dass man das Gelände nicht individuell
betreten kann, jedenfalls nicht ohne sich Monate vorher
angemeldet zu haben. Mein Sohn und ich sind im vergan­
genen Jahr deshalb nicht reingekommen. Und Mitte der
Neunziger habe ich mich gestört an den vielen Flaggen,
die die Besucher um die Schultern trugen. Ich finde, die
gehören nicht an so einen Ort. Heute, habe ich gehört,
sind es eher noch mehr geworden.
Vor 75 Jahren wurde das Lager befreit. Finden Sie, dass
Auschwitz heute für nationale Interessen instrumentali-
siert wird?
Das finde ich nicht nur, das ist so. Es ist beinahe gro­
tesk, was bei den Feierlichkeiten abgelaufen ist zwischen
Auschwitz und Yad Vashem, zwischen den Russen, den
Polen und den Israelis, jeder auf seiner Seite. Es ist naiv,
zu denken, wir hätten heute eine entpolitisierte, kollektive
Erinnerung an den Holocaust.
In den sozialen Medien kritisieren Sie immer wieder die ita-
lienische Politik, unter anderem dafür, wie sie mit Seenot-
rettern umgeht. Weltweit werden nationalistische Parteien
stärker. Bewegen wir uns hin zu totalitären Strukturen?
Ich weiß gar nicht, ob wir dieses Wort brauchen. Muss ich
wirklich zunächst klären, ob Ungarn jetzt totalitäre Struk­
turen hat oder noch eine illiberale Demokratie ist, bevor
ich feststellen kann, dass die Entwicklung, wie sie ist,
nicht gut ist? Was gerade passiert, ob in den USA, Groß­
britannien, Italien oder Polen, läuft den Errungenschaften
entgegen, auf die wir uns gemeinsam nach dem Zweiten
Weltkrieg geeinigt haben.
Was ist das Problem in Italien?
Die Demografie zum Beispiel. Die jungen Leute finden keine
Jobs, trauen sich kaum noch, Kinder in die Welt zu setzen,
die fehlenden Kinder führen dazu, dass der So zial staat immer
mehr aus ein an der bricht. Ein Teufelskreis. Italien ist ein sehr
altes Land geworden, und alte Leute ängstigen sich leicht


  • obwohl natürlich auch Junge rechts wählen. Und die seit
    Jahren mitregierende Partei Lega, die bis vor ein paar Jahren
    noch den Anspruch vertrat: Wir im Norden sind die guten,
    tüchtigen Italiener, hat sich nun nationalisiert. Der Sünden­
    bock ist nicht mehr der Süditaliener, sondern der Ausländer.
    Und mit ihm wird den Leuten auch eine Erklärung serviert:
    Du armer, aber gebürtiger Italiener wirst immer besser sein
    als jeder andere, qua deiner Geburt. Das ist für desillusionier­
    te Menschen schon ein Angebot. Die denken, okay, wenn ich
    schon nichts anderes habe, dann bleibt mir wenigstens mein
    nationales Zugehörigkeitsgefühl.
    Damit erübrigt sich wohl die Frage, ob Schriftsteller Ihrer
    Meinung nach politisch Stellung beziehen sollten.
    Ich finde, jeder Mensch hat die Wahl, ob er aus seiner
    Geschichte etwas herauszieht. Für mich ist es selbstver­
    ständlich, mich zu engagieren, ich habe doch das Privileg,
    öffentlich zu sprechen. Jemand wie Olga Tokarczuk, die in


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