Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1

Im Dieselskandal streitet Volkswagen mit Verbraucherschützern um Millionen Euro. Protokoll einer Beziehungskrise VO N C L A A S TATJ E


Schwer zu knacken


Illustration: Sandro Rybak für DIE ZEIT

A


m Valentinstag um 11.53 Uhr
ahnt Klaus Müller, Chef des
Verbraucherzentrale Bundes-
verbands (vzbv), dass er die Zu-
neigung von Volkswagen nun
vollends verloren hat. Im Auf-
trag des Autoherstellers schreibt
eine Anwältin der Kanzlei Freshfields ihm eine
anderthalbseitige E-Mail. Eine Liebeserklärung
enthält sie nicht. Vielmehr geht es darin um die
Frage, wie gierig Müllers Anwälte sind. Immerhin
endet der Brief mit freundlichen Grüßen. Keine
Stunde später lässt Volkswagen die Vergleichs-
verhandlungen um eine Entschädigung für Hun-
derttausende Dieselkunden platzen. Die schnelle
Einigung rückte damit wieder in weite Ferne.
Die Schlammschlacht danach sucht ihresglei-
chen in der jüngeren Rechtsgeschichte. Es ging ja
auch um viel. Die erste Musterfeststellungsklage
drohte zum Reinfall zu werden. Mit diesem neuen
Instrument sollten über 400.000 Individualklagen
gebündelt werden und sich am Ausgang eines ein-
zelnen Prozesses orientieren – dem eines vom Ge-
richt bestimmten Musterklägers. Daher der Name.
Dabei begann alles mal ganz harmlos: Volks-
wagen gegen die Verbraucherzentralen, da waren
die Rollen eigentlich klar verteilt. Auf der einen
Seite stand ein Konzern, dem bisher jedes rechtliche
Mittel lieb gewesen war, Schaden von seinen Ak-
tionären abzuwenden. Damit war vor allem Scha-
densersatz oder zumindest Wiedergutmachung für
die Kunden nach dem größten deutschen Indus-
trieskandal der vergangenen Jahrzehnte gemeint.
Und auf der anderen Seite standen die guten Ver-
braucherschützer um vzbv-Chef Müller und dessen
Anwälte, die vielen Autokäufern Hoffnung auf eine
Entschädigung für den Abgasbetrug machten.
Die Parteien standen sich ziemlich unversöhn-
lich gegenüber, bis der Vorsitzende Richter des
Oberlandesgerichts Braunschweig, Michael Neef,
im vergangenen November einen Vorschlag unter-
breitete: Wie wäre es mit einem Vergleich?


Zuerst bricht der Autokonzern die
Verschwiegenheitsabmachung


Noch ehe die Gespräche darüber überhaupt be-
gannen, bereiteten die Anwälte der von Volkswagen
beauftragten Kanzlei Freshfields alles für diskrete
Verhandlungen vor. Am 9. Dezember um 19.57
Uhr, einen Tag bevor die Verhandlungen im Inter-
city Hotel am Berliner Hauptbahnhof losgingen,
übersandte ein Volkswagen-Anwalt eine dreiseitige
Vertraulichkeitsvereinbarung an die beteiligten Par-
teien. Er konnte sich da womöglich noch gar nicht
vorstellen, dass nur Wochen später die Rechtsvor-
ständin von Volkswagen und der Chefjustiziar
diese Vertraulichkeitserklärung missachten werden.
Dann sollte alles ganz schnell gehen. Die An-
wälte der Verbraucherzentralen berichten, wie
Volkswagen alles darangesetzt habe, eine Einigung
herbeizuführen. Man treffe sich nicht nur in Berlin,
sondern auch in Tagungsräumen am Frankfurter
Flughafen. Dort, so berichtet die VW-Seite, sei es
den Anwälten des vzbv aber in den Gesprächen vor
allem um eins gegangen: um Honorare.
Tatsächlich hat sich rund um Volkswagen eine
regelrechte Klageindustrie etabliert. In dessen Zen-
trum stehen zwei Kanzleien, die für die Verbrau-
cherzentralen die Musterfeststellungsklage führen:
Rogert & Ulbrich aus Köln und Stoll & Sauer aus
Lahr im Schwarzwald. Den VW-Fall bearbeiten sie
unter der gemeinsamen Firma RUSS Litigation.
Bis vor wenigen Jahren kannte man diese beiden
Kanzleien kaum. Die Dieselaffäre änderte das. Mit
»Die Experten im Abgasskandal« wirbt Rogert &
Ulbrich in Online-Anzeigen. Stoll & Sauer lockt
mit »Jetzt Ansprüche geltend machen«. Der Fall
Volkswagen scheint sich auch für sie zu lohnen. Die
Kanzlei Stoll & Sauer jedenfalls hat gerade ihren
Jahresabschluss im Bundesanzeiger veröffentlicht.
Im Geschäftsjahr 2018, einem Jahr, in dem Tau-
sende VW-Fahrer vor Gericht zogen, erhöhte sich
das Jahresgewinn der von Ralf Stoll und Ralph


Sauer betriebenen Kanzlei von rund 2,9 Millionen
Euro auf rund 14,2 Millionen Euro. Dies sei in
einer »erhöhten Zahl« abgeschlossener Mandate
sowie »der Effizienzsteigerung« begründet, heißt es
im Jahresabschluss. Einen Teil des Überschusses
investieren sie offenbar in Marketing und Websites.
Eine heißt: vw-schaden.de.
Die Verbraucherschützer haben RUSS Liti ga-
tion nach einer Ausschreibung ausgewählt. Am
Musterfeststellungsverfahren verdient die RUSS
Litigation zunächst wenig. Laut vzbv betrug das
Honorar 6702,67 Euro. Die Anwälte profitieren
jedoch an anderer Stelle, wie Stoll & Sauer in ihrem
Jahresabschluss betonen: Da die Gesellschafter von
Stoll & Sauer auch zu den Gesellschaftern der RUSS
Litigation zählen, »konnte durch die mediale Be-
gleitung die Gesellschaft erheblich« von der Klage
profitieren. Volkswagen schätzt, dass der Wert
dieser medialen Beachtung einem Werbewert in
Millionenhöhe entspricht. Es ist erst der Anfang.

Auf ein Ultimatum der Verbraucherschützer
reagiert Volkswagen mit dem PR-Angriff

Die Musterfeststellungsklage läuft so ab: Nachdem
sich mithilfe der vzbv die Kläger registrierten, wur-
de ein Musterkläger identifiziert. An seinem Beispiel
wird der Prozess geführt. Hat er Erfolg – und darauf
deutete zuletzt einiges hin –, können alle weiteren
registrierten Kläger individuell vor das Gericht
ziehen und sich auf das Ergebnis berufen. Sie müss-
ten dann nur noch die Höhe ihres individuellen
Schadens klären. Und die meisten würden dazu
wohl auf die RUSS-Anwälte zurückgreifen.
Es folgten die Vergleichsverhandlungen. Plötz-
lich war alles wieder offen. Denn nach einem Ver-
gleich hätten keine weiteren Prozesse um die Höhe
der Entschädigung mehr geführt werden müssen.
Stattdessen hätten die Autobesitzer den Betrag be-
kommen, auf den sich Volkswagen und Verbrau-
cherschützer geeinigt hätten – der aber nicht für alle
gleich gewesen sein dürfte, sondern zum Beispiel
vom Alter des Fahrzeugs abhängig gewesen wäre.
Angesichts der ungeheuren Zahl von Klägern wäre
dies jedoch ein enormer bürokratischer Aufwand.
Den die Anwälte der RUSS Litigation ungern in
Volkswagens Hände gegeben hätten. Sie trauten
der Gegenseite nicht, wie sie selber sagen.
Gutachten jagte Gutachten, am Ende forderten
die RUSS-Anwälte über 50 Millionen Euro für die
Abwicklung der über 400.000 Fälle. Zu viel, zetern
die VW-Anwälte. Sie fürchteten, sich auf das »tro-
janischste Pferd aller Zeiten« einzulassen.
Am 14. Februar um 0.01 Uhr geht vzbv-Chef
Müller in die Offensive und schreibt an die Gegen-
seite einen Forderungskatalog, verbunden mit ei-
nem Ultimatum: 12 Uhr am selben Tag.
Volkswagen reagiert mit Liebesentzug und
blanker Verachtung. Zuerst mit der E-Mail der
Freshfields-Anwältin Martina de Lind van
Wijngaarden, die auf der Kanzleihomepage ihr
schönes Motto »Die Lösung komplexer Streitig-
keiten ist meine Leidenschaft« stehen hat.
Unter Missachtung der eigens betriebenen Ver-
schwiegenheitsregeln übernimmt Volkswagen die
Kommunikation: Die Verhandlungen über einen
Vergleich seien gescheitert, gibt Rechtsvorständin
Hiltrud Werner in einer Pressemitteilung bekannt.
Die Anwälte der Verbraucherzentralen hätten 50
Millionen Euro »ohne eine konkrete Rechtfertigung
eingefordert«. Und weiter: »Dieses Geschäftsgeba-
ren der Klägeranwälte darf nicht zu Lasten der
Kunden gehen.« Volkswagen wolle nun seinerseits
einen Vergleich mit den Kunden erzielen.
Ganz so war es aber wohl doch nicht. Ein Groß-
teil der 50 Millionen Euro für die Abwicklung des
Vergleichs wäre an einen IT-Dienstleister gegangen.
Der stand aber noch nicht fest. RUSS Litigation
habe eine Firma vorgeschlagen, doch Volkswagen


  • so erfuhr die ZEIT auf Nachfrage – habe nie kon-
    krete Bedingungen gestellt. »So war es unmöglich,
    ein Angebot zu schreiben«, teilt eine mit den Vor-
    gängen vertraute Person mit. Volkswagen zufolge
    hätte ein anderes Unternehmen die Abwicklung


des Vergleichs für ein Drittel der Summe übernehmen
können. Dann kam der große Streit.
Vzbv-Chef Müller behauptet nach dem großen
Krach im Handelsblatt: »Der VW-Konzern hat jetzt
ein zweites Mal betrogen.« Das Scheitern der Gesprä-
che sei von langer Hand geplant gewesen, sagen Mül-
ler und seine Anwälte. Volkswagen habe einfach nur
Zeit gewinnen wollen und sei nicht lösungsorientiert
gewesen. Sprecher von Volkswagen bestreiten das.

Der Abbruch der Gespräche war jedenfalls gut or-
chestriert. Volkswagen verbreitete nicht nur Presse-
mitteilungen, sondern hatte auch schon eine Home-
page installiert, um Kunden direkt einen alternativen
Vergleich anzubieten. Zwischen 1350 Euro und 6257
Euro bot der Konzern ihnen an.
Doch nach dem Knall war vor dem Frieden. Ver-
gangenen Donnerstag begannen urplötzlich neue
Güteverhandlungen in Braunschweig. Die Parteien

haben sich nicht nur wieder zusammengerauft. Sie
reden sogar miteinander. Mitunter bis tief in die
Nacht. Von beiden Seiten ist der Wille zu vernehmen,
sich doch noch zu einigen.
Das wäre ein Happy End, wie es sich nicht mal
Rosamunde Pilcher zu Lebzeiten für diese noch vor
Tagen verfeindeten Lager hätte vorstellen können.
Die Verhandlungen dauerten bei Redaktionsschluss
noch an.

WIRTSCHAFT 25


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  1. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10

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