Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1
Nachdem mein Kolumnen-Ich aus unru-
higen Träumen von Sex mit Friedrich
Merz erwacht war, beschloss es, seinem
Therapeuten Wolfgang G. gleich in der
nächsten Sitzung mitzuteilen, dass es
nicht beabsichtige, weiter eine gehorsame
Patientin zu sein. Ich würde nicht aus
Höflichkeit weinen, um Herrn G. das
Gefühl zu vermitteln, wir machten Fort-
schritte, ich würde nicht mehr dankend
den Papiertaschentuchspender aus Metall
entgegennehmen wie eine Hostie. Ich
würde keine Witze über Sex mehr ma-
chen und ihm meine Neurosen zur Un-
terhaltung zur Verfügung stellen, wäh-
rend er all das in sein Notizbuch schrieb.
Nein, ich würde ihm endlich sagen, dass
ich keinen vernünftigen Grund dafür sah,
dass er auf der besseren Sitzgelegenheit
saß als ich und dabei überhaupt nichts tat.
Denn er sagte während unserer Sitzungen
tatsächlich kaum etwas, er sah nur gele-
gentlich von seinem Notizbuch auf und
lächelte mich an wie
Norbert Röttgen (wis-
send, ernst, zuver-
sichtlich). Herr G.,
würde ich sagen, das
nennen Sie Arbeit?
Ich will brauchbare
Ergebnisse!
Aber es kam alles
anders. Denn ich war
meiner Tochter gegen-
über ausgerastet, nach-
dem sie in der Kita
in Gegenwart einer
Erzieherin behauptet
hatte, ich würde ihr
zum Einschlafen Der
Struwwelpeter vorle-
sen, außerdem, so die
Erzieherin weiter, habe
mei ne Tochter zu ihrer
besten Freundin »du
miese Cock-Teaserin«
gesagt, was ich ernst, aber zuversichtlich
nickend zur Kenntnis genommen hatte.
Als wir die Kita verlassen hatten, hatte
ich mein Kind nach Hause transportiert,
so lange die Luft angehalten und war,
nachdem die Wohnungstür hinter uns
zugefallen war und mein Kind meine
weiße Bluse beim Jacke-Ausziehen mit
Schokolade beschmiert hatte, sehr, sehr
laut geworden. Außerdem hatte ich sein
rosa Playmobil-Puppenhaus mit einem
Fußtritt gegen die Wand geschleudert, es
hatte mich also gewissermaßen über-
mannt, und dieses Verhalten ist selbstver-
ständlich überhaupt nicht vereinbar mit
meinen Erziehungsidealen (»Attach ment
Pa ren ting«). All das musste ich Wolfgang
erzählen, der mich, wie ich hoffte, von
meiner Schuld (keine gute Mutter, keine
gute Feministin) freisprechen würde. Aber
als ich ihm dann, wie immer dienstags,
gegenübersaß und gerade anfangen woll-
te, fiel mir ein hellbrauner Fleck auf sei-
nem Hemd auf. Etwa in der Größe eines
Aspirin-Complex-Tütchens, die Umrisse

erinnerten mich an das Bundesland Thü-
ringen. Während ich auf den Fleck starr-
te, fragte Herr G. wie jedes Mal, was mich
heute beschäftige. »Der Fleck auf Ihrem
Hemd«, sagte ich zu meiner eigenen
Überraschung. »Worum geht es bei die-
sem Fleck?«, fragte Herr G. und räusper-
te sich. »Weiß ich nicht, warum ist er da?«,
entgegnete ich und dachte, was für ein
schlampiger Lappen Herr G. war, auf
diese Weise hier rumzusitzen. »Macht
dieser Fleck Sie aggressiv?«, wollte Herr
G. wissen, wobei er sich aufrichtete und
die Hände faltete. Man sah, dass er etwas
auf der Spur war. Ich nickte.
»Aaaaahhhh«, machte Herr G., »es
geht um das Fremde, es geht also um Ord-
nung. Toll, die Übertragung beginnt!«
Herr G. rieb sich die Hände, und ich
fragte: »Sind Sie ordentlich?« – »Um mich
geht es hier nicht«, sagte er, und ich
schwieg und dachte daran, dass mein
WK2-Opa das auch immer gesagt hatte.
Ich sah eisern zur De-
cke und erinnerte
mich daran, was mei-
ne vorletzte Thera-
peutin mal gesagt
hatte, nämlich, dass
sich die in Deutsch-
land bis heute nach-
wirkende autoritäre
Erziehung Kinder
vorgestellt hatte als
triebhafte, unersättli-
che Wilde, deren
Willen man brechen
musste, und dass diese
Kinder, auf die Liebe
der Erwachsenen an-
gewiesen, irgendwann
taten, was man ihnen
sagte, bis nichts mehr
von ihnen übrig war
außer der Überzeu-
gung, schlecht und
minderwertig zu sein, weswegen sie na-
türlich für immer jemanden brauchten,
der ihnen sagte, was zu tun ist. So wie ich
glaubte, Wolfgang G. zu brauchen, dessen
Fleck mich, die ich noch immer tapfer
schwieg wie ein gefolterter Terrorist in
Home land, auf die Idee brachte, dass die
Wut auf diesen Fleck aus der verinner-
lichten Überzeugung (Herr G. würde hier
von Introjekt sprechen) kam, Flecken
seien verboten, und zwar allen.
Total happy über diese effiziente Sit-
zung und in der Überzeugung, wesent-
liche Probleme Deutschlands verstanden
zu haben, fühlte ich mich bereit, Verant-
wortung zu übernehmen, das heißt für
einen Parteivorsitz zu kandidieren. Ich
wollte eilig aufstehen und gehen, aber
dann sah ich Wolfgang an, und er guck-
te nicht mehr zuversichtlich, sondern
traurig. Ich sank zurück auf das Sofa,
fing an zu weinen und ließ mir ein Ta-
schentuch reichen.

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Der Fleck


MEIN LEBEN ALS FRAU

Unsere Kolumnistin will für den Parteivorsitz
kandidieren. Doch dann wird ihr Therapeut traurig

An dieser Stelle erscheinen im Wechsel vier Kolumnen.
Lesen Sie nächstes Mal Andreas Bernards »Verhaltenslehren«

VON ANTONIA BAUM

MOSAIKKUNST

Wandschmuck in der Fabrik »Süßes Land«, Tiflis, Georgien, 1980er-Jahre

Foto (Ausschnitt): Katja Koch/Lukas Verlag; Illustration: Rachel Levit für DIE ZEIT (l.)


Kleine weiße


Friedenstaube


VON ALEXANDER CAMMANN

Wie Grabmäler an der Via Appia wirken
sie, auch wenn es sich nur um einsame,
vor sich hin rottende Bushaltestellen
handelt, in Ghindești, Moldawien, oder
in Kobuleti und Kwibisi, Georgien. Sie
zeugen dort, inmitten weiter Felder einer
östlichen Campagna, von der Kultur
eines untergegangenen, einst mächtigen
Imperiums – nicht nur architektonisch,
sondern ebenso künstlerisch. Denn auch
diese Bushaltestellen an den fernen Rän-
dern des Sowjetreichs waren mit Mosai-
ken geschmückt, die glückliche, Ball
spielende oder Rad fahrende Kinder zei-
gen, tanzende Frauen oder in den Him-
mel emporsteigende Kraniche. Doch
nicht nur Bushaltestellen ließ das Arbei-
ter-und-Bauern-Paradies unterwegs zum
Kommunismus mit Mosaiken verzieren,
auch Fabriken, Kolchosen, Metrostatio-
nen, Schulen, Kulturpaläste, selbst
Wohnhäuser wurden damit künstlerisch

veredelt, so im kirgisischen Bischkek
(das von 1926–1991 Frunse hieß,
benannt nach dem sowjetischen Volks-
kommissar für Armee und Marine) mit
dem Fries Festlicher Umzug der Schwerst-
arbeiter, Kulturschaffenden und Wissen-
schaftler. Dieser sowjetischen Mosaik-
kunst ist jetzt ein fantastischer Bildband
gewidmet (Katja KocheAram Galstyan:
Mosaiki. Bruchstücke einer Utopie: Mo-
saiken im postsowjetischen Raum, Lukas
Verlag 288 S., 39,80 Euro). Man kann
nur hoffen, dass diese Hinterlassenschaft
einer Epoche wie die Mosaiken römi-
scher Luxusvillen und frühchristlicher
Basiliken in Rom oder Ravenna bewahrt
wird. Dass ausgerechnet die heidnische,
jedoch ebenfalls glaubensfromme Sow-
jetideologie dabei oft die christliche Iko-
nografie mit Jungfrau und Taube adap-
tierte, ergibt eine sinnreich-schöne welt-
historische Pointe.

Darf ’s ein bisschen mehr sein? Nicht
ohne Rührung erinnert man sich der
ökologisch unbesorgten Zeiten, in der
die Floskel aus der Welt der Gastrono-
mie bis in die allgemeine Werbesprache
vordrang und den Menschen bei jeder
Gelegenheit ermunterte, eine ordentli-
che Extraportion draufzulegen.
Das bisschen Mehr galt für die PS
von Automobilen, Ausstattung von
Hotels, Materialien in Mode und
Heim, überhaupt für jede Form von
Luxus und ganz grundsätzlich für das,
was sich der Mensch vor der Jahrtau-
sendwende gönnen zu müssen glaubte.
Nicht zufällig hat jetzt Friedrich Merz,
dessen Prägephase in diese Epoche fiel,
zur Begründung seiner Kandidatur für
den CDU-Vorsitz erklärt, er sei »wirk-
lich sehr, sehr motiviert« – augen-
scheinlich hat er mit Blick auf seine
Konkurrenten gefunden, dass es ihm
zustehe, sich ein persönliches Mehr an
Motivation zu gönnen.
Übrigens gehörte auch der Gedanke,
dass man sich nach eigenem Ermessen
etwas gönnen könne (und nicht etwa
anderen), zum Bestand der Neunziger-
und Nullerjahre, in denen der Gier-
schlund das ökonomische Ideal war.
»Das gönn ich mir«, »Das bin ich mir
wert« waren die zentralen Ansagen der
Zeit. Nichts zeigt ihre Verflossenheit
stärker, wenn auch unwillkürlich an,
als dass selbst Merz sich keine volle
Pulle, sondern nur einen Doppelten
vom Wörtchen »sehr« genehmigt.
Und erst recht nicht in die verän-
derte politische Landschaft scheint das
Schaltjahr zupassen, in dem der Kalen-
der allen Menschen einen ganzen Ex-
tratag gratis dazugibt. Dürfen es wirk-
lich 24 Stunden mehr sein? Also, wie
man heute rechnet, 24 Stunden mehr
CO₂-Ausstoß? 24 Stunden mehr Stra-
ßenlärm, Reifenabrieb und bedenken-
loser Verzehr grundwasserspiegel-
senkender Avocados aus Afrika?
Oder lässt sich im Gratistag eine
allegorische Verschlüsselung der
Grundrente für alle sehen, eine zu-
tiefst sozialistische Angelegenheit, die
Friedrich Merz gar nicht recht sein
kann? Könnte es sogar sein, dass ihn
die Idee des Schaltjahrs sehr, sehr de-
motiviert? Aber Spaß beiseite – auch
»wir müssen uns fragen lassen« (so die
zentrale Vorwurfsformulierung der
Gegenwart), ob wir noch länger einen
dermaßen naiven Umgang mit der
kostbaren Ressource Zeit pflegen dür-
fen. Wäre es nicht ökologischer, die
Schalttage anzusammeln und für
kommende Generationen aufzuspa-
ren? Mit einer globalen Kalenderre-
form könnte die CDU sich nicht nur
in die Nachfolge der historischen Re-
former Julius Cäsar und Papst Gregor
stellen, sondern auch zeigen, wie man
die bürgerlichen Tugenden der Spaß-
verhinderung (die alte Sparsamkeit)
mit den grünen Formen der Spaßver-
hinderung (die neue Sparsamkeit)
zwanglos verbindet.

Als Verbot getaugt hat Adornos Kalender-
spruch, dass es barbarisch sei, nach
Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ja
eigentlich nie so richtig, weshalb uns,
schade, zum Beispiel Günter Grass nicht
erspart geblieben ist – zur Kontroverse
taugt die Frage aber nach wie vor: Ob und
wie kann und darf Auschwitz zum Sujet
der Kunst werden?
Aktueller Anlass: Die gerade bei Ama-
zon Prime veröffentlichte Serie Hunters,
in der Al Pacino mit Catch me if you can-
Launigkeit auf Nazijagd im New York der
Siebziger geht. Mittendrin: Rückblenden,
in denen KZ-Insassen gezwungen werden,
sich bei einem zynischen Spiel namens
Menschenschach die Kehle durchzu-
schneiden. Die Gedenkstätte Auschwitz
kritisierte diese fiktionalisierten Splatter-
szenen umgehend als »gefährliche Dumm-
heit und eine Karikatur«. Auch viele Re-
zensenten empören sich.
Der Serienautor David Weil weiß
natürlich, dass es in Auschwitz kein Men-
schenschach gab, war seine Großmutter
doch selbst dort interniert. Trotzdem: Ist
das Singuläre an Auschwitz doch eben
nicht der Exzess der Gewalt – sondern die
kühle Rationalität, mit der unsere Mütter,
unsere Väter jahrelang die Vernichtungs-
industrie professionell am Laufen hielten.

Seit Langem schon muss man sich sor-
gen: Mal wurde die Mona Lisa mit
Säure angegriffen, mal mit roter Farbe,
auch kam es schon vor, dass Besucher
einen Stein auf das Gemälde warfen
oder einen Kaffeebecher, erworben im
Souvenirshop. Auf etwas andere Weise
bedrohlich ist die jüngste Attacke des
Künstlers Franck Slama: 330 Zauber-
würfel, bekannt als Rubik’s Cubes, ließ
er zu einem großen Mosaik arrangieren,
das unschwer an das Frauenbildnis des
Leonardo da Vinci erinnert. Bestimmt
ist das ungeheuer originell gemeint,
schließlich vereint sich hier, um es auf
Kuratorendeutsch zu sagen, der Zauber
der Schönheit mit dem Zauber der
Geometrie. Das eigentlich Überra-
schende – und zugleich Infame – ist
jedoch der Preis, den ein unbekannter
Bieter jetzt auf einer Auktion dafür ge-
zahlt hat: glatte 480.000 Euro. Man
weiß ja längst, dass es auf dem Kunst-
markt oft weniger um Kunst und mehr
um Markt geht. Und doch ist man von
dieser Art der Zauberei immer wieder
aufs Neue verblüfft: wie es dem Geld
(und nicht dem Künstler) mühelos
gelingt, aus einer kleinkarierten Nich-
tigkeit eine Kunstsensation zu machen.

Passt das


Schaltjahr noch


in unsere Zeit?


Ist Auschwitz-


Fiction


geschmacklos?


Was muss die


»Mona Lisa«


noch aushalten?


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VON HANNO RAUTERBERG

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