a sitzt sie, auf der Bank hinterm Haus, schließt
kurz die Augen und pustet Zigarettenrauch in
die Vormittagssonne, die blass überm Feld
hängt. Wie immer hofft sie, dass er nicht vor
ihr steht, wenn sie ihre Augen wieder öffnet.
Jener Mann, der immer alles allein entschied,
der schrie, wenn ihm was nicht passte, mit dem
sie trotzdem mehr als ihr halbes Leben lang
verheiratet war und von dem sie sich nun hat
scheiden lassen. Jede Zigarette, die sie unge
stört rauchen kann, ist ein kleines Glück. Seit
sie wieder allein ist, häufen sie sich, diese
Glücksmomente, womit sie kaum noch ge
rechnet hätte. Dagmar ist 70 Jahre alt.
Es sei Zeit gewesen, zu gehen, sagt sie. Es
sei ihr aber auch peinlich gewesen. Eine Schei
dung, in ihrem Alter. Was die Leute im Dorf
wohl sagen? Wo doch jeder weiß, dass sie
eigentlich keine ist, die einfach verschwindet,
sondern eine, die sich dem Leben stellt. Eine
Frau, die eine Lösung findet. Nur manchmal,
so kann man es auch sehen, und dieser Gedan
ke erschien ihr selbst von Tag zu Tag plausib
ler, ist Gehen eben die einzige Lösung. Ihre
Ehe dauerte 39 Jahre.
- fünf gemeinsame Autos (ein Trabant,
weiß, ein VW Scirocco, 139 PS, ein Land
rover, Turbodiesel, ein Opel Zafira, sieben
Sitze, ein Opel Corsa, KombiLimousine) - drei Hunde (ein Pudel, Flora, ein Schä
ferhund, Lennox, ein Mischling, Sally) - drei Umzüge
Weit ist sie nicht gekommen. Dagmar
wohnt jetzt direkt gegenüber, im Haus der
Mutter, 91 Jahre alt, dement. Sie kümmert sich
um sie. Nach der Trennung räumte sie das Ess
zimmer aus, strich die Wände rosa und hängte
einen Traumfänger auf. Einen Nachbarn bat
sie, den Leuchter an die Decke zu schrauben.
Sie kaufte sich ein Bett und stellte es darunter.
Und hatte nun, zum ersten Mal, seit sie ein
Kind war, ein Zimmer ganz für sich allein.
Wäre ihre Mutter nicht, sagt Dagmar, die
Tochter und der Enkel, sie hätte ihre Heimat
längst hinter sich gelassen. Wohin sie gegangen
wäre, weiß sie selbst nicht, nur weit weg, so viel
ist klar. An die Ostsee vielleicht, die Nordsee
gefiele ihr auch. Sie mag die Küsten, die Leute
dort. Die seien immer geradeheraus, sagt sie,
immer ehrlich, anders als ihr Mann, das »Ex«
hat sie sich noch nicht angewöhnen können. In
dieser Geschichte soll er Joachim heißen. - Sohn eines Landwirts
- gelernter Dachdecker
- selbstständiger Bauunternehmer
- spielt Mau-Mau mit dem Enkel
- schaut am liebsten Tiersendungen
- ist es gewohnt, dass abends Essen auf
dem Tisch steht - trägt, wann immer es geht, seine abge
wetzte braune Lederjacke
Dagmar – auch ihr Name ist in Wahrheit
ein anderer, einige Details sind verfremdet, er
soll sich von dieser Geschichte nicht provoziert
fühlen. Sie trägt die Haare kurz, ein paar Strähn
chen sind blond gefärbt, die Augenbrauen dun
kel nachgezogen. Unter dem bunten Halstuch
baumeln zwei lange Silberketten, die gepunkte
ten Stiefeletten könnte auch eine 25Jährige
anziehen. Überhaupt wirkt sie jünger als 70, vor
allem ihr Lachen, mädchenhaft. An ihrem Äu
ßeren habe sie nichts verändert nach der Schei
dung. Ein neues Kostüm hat sie sich gekauft,
kirschrot, das ist alles. Noch mal jemanden
kennenzulernen, sagt sie, darüber habe sie nie
nachgedacht. »Wo sollte ich den noch unter
kriegen?« Einen Mann, der keine Belastung ist,
scheint sie sich nicht vorstellen zu können.
Dagmar mag eine ungewöhnliche Groß
mutter sein, weil sie so spät noch ihren Mann
verließ. Sie ist aber auch eine ganz ge wöhn
liche Oma, immer zur Stelle, eine Stütze, ohne
die ihre Familie nicht funktionieren würde.
Neben der dementen Mutter ist sie täglich für
den Enkel da, holt ihn mit dem Fahrrad von
der Schule ab, hört ihm zu, macht Abendes
sen. Sie verwöhnt den Jungen, und sie weiß es.
Denn der kam gefährlich früh zur Welt, muss
te die ersten Monate seines Lebens auf der
Kinderstation eines Krankenhauses verbrin
gen. Heute geht es ihm gut, er ist sieben Jahre
alt. Aber die Sorge um ein Kind, von dem man
nicht weiß, ob es überlebt, vergisst man nicht.
Auch im Ruhestand – sie war Buchhalterin
in Ämtern und Familienunternehmen – ist
Dagmar so beschäftigt, dass sie sich das Träu
men verbietet. Manchmal denkt sie an Schott
land, wo sie immer mal hinwollte, doch bevor
ihre Fantasie den Gedanken bebildert, verwirft
sie ihn wieder. Einmal die Woche geht sie
schwimmen, das muss reichen.
Wäre die Trennung wenigstens leise über
die Bühne gegangen. Aber es wurde unange
nehm, mit Anwälten, vor Gericht. Weil Joa
chim sich querstellte. Er wollte die Scheidung
nicht, sagt sie, ignorierte ihren Wunsch so
lange, bis das Schreiben ihres Anwalts im Brief
kasten steckte. Da erst hat er die Augen aufge
macht, sagt sie. Da hat er geschrien. Der hat
ein Organ, sagt sie, das hat das halbe Dorf ge
hört. Die Nachbarn waren öfter kurz davor, die
Polizei zu holen. Immer wenn Joachim etwas
nicht passte, und es passte ihm mit den Jahren
immer weniger, beschimpfte er seine Frau.
- »Blöde Kuh!«
- »Lügenmaul, du!«
- »Du hast keinen Geschmack!«
- »Verpiss dich!«
- »Verlogenes Aas«
- »Du Hure!«
Einmal kam er mit dem Schlauch angerannt
und spritzte sie vor den Augen eines überrum
pelten Besuchers von oben bis unten nass.
Dagmar hielt vieles aus, solange es gegen sie
ging. Was sie nicht ertragen konnte, war, wenn
der Enkel die Wutausbrüche mit anhören
musste. »Opa, schrei nicht so«, habe er manch
mal gesagt, aber selbst das konnte Opa nicht
bremsen. Als sie schließlich auszog, fühlte sie
sich dennoch schuldig. »Ich wusste nicht, wie
ich es dem Enkel erklären soll«, sagt sie. Also
überlegte sie sich etwas, das halb stimmte und
halb gelogen war. »Du weißt ja«, sagte sie, »der
Opa schreit immer so viel. Außerdem muss ich
mich noch besser um Uroma kümmern.«
Die Gründe, die Dagmar schließlich dazu
bewogen, die Scheidung ihrer Ehe nicht dem
Tod zu überlassen: Hausbau, Jobverlust, Geld,
Lügen. Und natürlich die Sache mit den Kois.
Der erste große Vertrauensbruch geschah
Anfang der Neunziger, als Joachim ihr erstes
Haus baute. Nicht irgendeins, eins mit sechs
eckigem Grundriss. Er hatte es drüben in West
deutschland entdeckt und aus allen Himmels
richtungen abfotografiert. Aus dem Kopf habe
er es gebaut, erinnert sich Dagmar, habe kaum
mal in die Bauzeichnungen gucken müssen. Er
konnte das, Ideen so konkret denken, dass man
meinte, sie anfassen zu können. Es wurde schön,
nur das zweite Bad fehlte, das sie sich so sehr
gewünscht hatte. Er hatte einfach den Grundriss
geändert, ohne ihr etwas zu sagen. Zwei Wochen
lang redete sie nicht mit ihm.
Nach dem Mauerfall hatte Joachim eine
Baufirma gegründet. Ein Dutzend Mitarbeiter
verputzten Fassaden, deckten Dächer, reno
vierten Hausflure. Der Osten hatte Nachhol
bedarf, und Joachim befriedigte ihn. »Nach
der Wende wusste ja keiner, wie und was«, sagt
Dagmar, »und er hat einfach gemacht.« Jahre
lang lief es gut, dann kam die Jahrtausend
wende, und die Aufträge brachen ein. Die
Firma wurde insolvent. Von da an habe Joachim
nur noch auf dem Sofa gesessen, erinnert sich
Dagmar. »Ich konnte nicht begreifen, wie man
so in den Tag leben kann, ohne Aufgabe, ohne
Ziel.« Jedes Mal, wenn sie ihm eine Stellen
anzeige in die Hand drückte, bekam sie dieselbe
Antwort. Er habe genug gearbeitet in seinem
Leben, da war er noch keine 50 Jahre alt.
Und es gab noch etwas, das Dagmar nicht
begreifen konnte. Dass Joachim ausgerechnet
jetzt sein teures Hobby wiederentdeckte, die
KoiZucht, die nicht nur Zeit verschlang, son
dern auch Geld, das er nicht mehr hatte. Bald
besaß er Hunderte Karpfen, die teures Spezial
futter fraßen und deren Teiche die Rasenfläche
schrumpften. Am Ende hatte Dagmar Mühe,
einen Platz für den Wäscheständer zu finden.
Ein Teich, damit hätte sie leben können. Vier
Teiche waren zu viel. Sie habe die Viecher ein
fach nicht mehr ertragen.
Der Tiefpunkt war 2013 erreicht, als Joa
chim Geld nahm und es verschwieg. Geld, das
muss man dazusagen, das Dagmar für einen
ganz bestimmten Zweck vorgesehen hatte: Ein
Enkel sollte her. Bei der Tochter und ihrem
Mann klappte es nicht. Irgendwann war klar,
dass es ohne eine künstliche Befruchtung
kaum noch was werden würde. Weil die
Behandlung teuer war, besorgte Dagmar einen
Sofortkredit. Die Kreditraten waren hoch,
aber das war ihr egal. Es ging ja um was.
Eher zufällig fand sie eines Tages heraus,
dass die Kreditkarte öfter in Benutzung war als
gedacht. Jemand hatte immer mal wieder klei
ne Beträge abgehoben. Ihre Tochter konnte es
sich nicht erklären, und so kamen sie darauf,
dass es Joachim gewesen sein musste. Der stritt
alles ab, bis Dagmar drohte, die Bilder der
Überwachungskamera am Geldautomaten ein
zusehen. Anstatt sich zu entschuldigen, schrie
Joachim sie an: Wie man so blöd sein könne,
einen so teuren Kredit aufzunehmen. Diese
Szene, sagt Dagmar heute, war der Anfang
vom Ende ihrer Ehe. Von da an hatten sie ge
trennte Schlafzimmer. Sie achtete darauf, ihm
im Haus so wenig wie möglich zu begegnen,
und schloss die Badezimmertür hinter sich ab.
Dagmar und Joachim lernten sich 1981
auf einer Betriebsfeier kennen. Sie tanzten.
Wir heiraten, sagte Joachim noch im selben
Jahr, und weil sie nicht Nein sagen wollte,
blieb ihr nur das Ja. Frisch vermählt fuhren sie
in den Harz, das hatte er entschieden. So wie
er von da an so gut wie alles entschied.
- welche Farbe ihr Haus bekommt
- welche Möbel angeschafft werden
- dass sie einen Wohnwagen brauchen
- auf welchem Campingplatz er steht
- dass sie noch ein Haus kaufen und noch eins
- was im Fernsehen geschaut wird
Es sei bequem gewesen, sagt Dagmar heute,
von Liebe sagt sie nichts. Ein bisschen klingt es
nach einer arrangierten Ehe, nur dass sie nicht
von den Eltern eingefädelt worden war.
Was der Mann will, das wird gemacht, sagt
Dagmar, so ein Typ sei der Joachim. Ging es
nach seinem Kopf, sei alles in Ordnung gewe
sen. Wenn nicht, habe er entweder getobt oder
die Realität ignoriert. Als die Bank die Rest
schuld für den Hauskauf wiederhaben wollte,
zerriss er die Briefe. Als der Gerichtsvollzieher
vor der Tür stand, schrie er ihn an. Er zeigte
jetzt die Kehrseite dessen, was Dagmar anfangs
imponiert hatte, seine Durchsetzungskraft,
seinen Mut. Die alte Dorfschule beispiels
weise, die er kurzerhand kaufte, ein Riesen
ding, gegen das ihr Sechs eck haus plötzlich
klein wirkte. Der Ausbau des Dorfschule war
das letzte Großprojekt, das er mit seinem Bau
unternehmen stemmte. Hier lebte das Ehe
paar bis zur Scheidung gemeinsam.
Im Flur ihrer neuen Wohnung hat Dagmar
Bilder ihrer Tochter und ihres Enkels auf
gehängt. Auf die Bitte, ein Foto von sich und
ihrem Mann herauszusuchen, schaut sie über
rascht. Sie glaube, sagt sie unsicher, sie habe
keins. Sie holt dennoch einen Karton, stellt ihn
auf den Küchentisch, hebt den Deckel: Haus
bau, Haus, Garten, Enkelsohn, Wohnzimmer,
Familienfeier. Da, ein Hochzeitsbild in Schwarz
Weiß, ach nein, das sind der Bruder und die
Schwägerin. Dann ein Bild von Joachim:
braune Haare, Seitenscheitel, Jogginganzug, ein
schlanker Mann. Er wirkt in sich gekehrt. Ein
gemeinsames Foto findet Dagmar nicht, nicht
auf die Schnelle jedenfalls, und man spürt, dass
sie nicht weiterwühlen möchte. Deckel drauf.
Zurückzublicken birgt die Gefahr, die letz
ten 40 Jahre infrage zu stellen. Ihr Leben
könnte ihr plötzlich falsch vorkommen, weil
sie es am falschen Mann ausgerichtet hat.
Warum ist sie so lange geblieben? - Sie arbeitete viel.
- Sie fürchtete den Stress.
- Sie war wenig zu Hause.
- Sie verdrängte.
- Sie stumpfte ab.
- Sie hoffte auf Besserung.
Er sei allerdings, das müsse sie sagen, ein
guter Vater gewesen. Trotz allem. Gleich nach
der Hochzeit hat er die Tochter adoptiert, die
Dagmar zuvor mit einem anderen Mann be
kommen hatte. Später hat er ihr ein Haus
gekauft, es renoviert und ihr überschrieben.
Dagmar würde gerne Frieden machen mit
der Vergangenheit. Das Problem ist, dass er sie
nicht lässt. Steht er am Wohnzimmerfenster,
kann er ihr in die Küche schauen. Begegnet sie
ihm auf der Straße, vermeidet sie es, ihn an
zuschauen. Ein Gespräch mit Joachim könne
harmlos anfangen und innerhalb weniger
Sätze eskalieren. Deshalb lässt sie sich auf
nichts mehr ein. Aber die Nähe erdrückt sie.
Am liebsten würde sie nach der Scheidung
auch seinen Auszug aus der alten Dorfschule
erstreiten. Ein paar Dörfer weiter besitzen die
beiden ein Mehrfamilienhaus, dort könne er ja
einziehen. »Er und seine Kois sollen weg.« Dass
sie das hohe Alter ohne Partner erleben werde,
störe sie nicht, im Gegenteil. »Jeden Tag Streit,
so will man doch nicht seine letzten Jahre ver
bringen.« Nach vier Jahrzehnten Ehe weiß sie:
Es gibt Schlimmeres als das Alleinsein.
Vor ein paar Wochen hat Dagmar zum ers
ten Mal ihr kirschrotes Kostüm getragen. Auf
einem runden Geburtstag in der Familie. Als
sie am Abend nach ihrer Rückkehr das Auto
parkte und in der Dunkelheit ausstieg, schaute
sie kurz rüber zu ihrem alten Haus. Dann
drehte sie sich um. Sie schloss die Tür auf, be
trat die Stille ihres neuen Zuhauses und genoss
den Gedanken, dass sie von Dauer sein würde.
Diese Geschichte ist Teil eines Schwerpunkts zu
Patchworkfamilien auf ZEIT ONLINE. Weitere
Texte finden Sie in den kommenden Tagen hier:
zeit.de/patchwork
ENTDECKEN
- FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10 65
Wäre die Trennung wenigstens leise über die Bühne gegangen. Aber es wurde unangenehm
Ihr reicht’s
Fünf Autos, drei Hunde, drei Umzüge. 39 Jahre Ehe.
Jetzt die Scheidung. Es sei Zeit gewesen, sagt sie VON ALEXANDER KREX
Foto: Bettina Theuerkauf für DIE ZEIT