Die Zeit - 27.02.2020

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REISE


66 27. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10


D


er Schnee knirscht so
natürlich unter den
Skiern, wie Meeres­
wellen ans Ufer klat­
schen: mit großem
Selbstbewusstsein,
aber ohne Narzissmus


  • im festen Wissen,
    dass es seine Aufgabe und sein Recht ist, zu
    knirschen. Über den Bergen hängen müde
    Wolken, und irgendwo in der Ferne ist eine
    Skipiste zu erkennen. Wenn ich genau hin­
    sehe, kann ich schwarze Punkte ausmachen,
    die sich im Zickzack die Piste hinabbewegen.
    Menschen, weit weg; wären sie näher, würden
    sie womöglich reden wollen, interagieren.
    Nicht so der Schnee. Der Schnee hat kein In­
    teresse an mir. Er ist so freundlich, mich sein
    zu lassen. Er erlaubt mir, auf meinen Lang­
    laufskiern über ihn hinwegzugleiten, wenn er
    auch manchmal leise zu protestieren scheint.
    Er weht mir dann ins Gesicht, gibt plötzlich
    nach, ist tückisch vereist.
    Ich habe seit beinahe zwanzig Jahren nicht
    mehr auf Skiern gestanden. In St. Petersburg,
    wo ich aufgewachsen bin, kam der Schnee
    meist im November, in großen Flocken, die
    taten sich zu Haufen und Hügeln zusammen
    und blieben meistens bis März. Der Schnee
    wich unwillig, verwandelte sich nur ungern in
    dunklen Matsch, den die Busse und Autos
    den Menschen bis in die Gesichter spritzten,
    bäumte sich mithilfe des Ostseewindes noch
    einmal in Verwehungen auf, versuchte, die
    nach oben strebenden Schneeglöckchen zu
    überdecken. Mit Langlaufskiern lief ich an
    manchen Tagen zur Schule, weil die Bürger­
    steige nicht geräumt waren und entlang der
    mehrspurigen Straßen genug Schnee lag. Vor
    allem aber waren die Wochenenden und die
    Winterferien dafür vorgesehen: durch den
    Schnee zu gleiten. Manchmal im Stadtpark,
    wo es von anderen Langläufern wimmelte.
    Manchmal fuhr mein Vater mit uns aus der
    Stadt hinaus in den Wald. Maschinen, die
    linealgerade Loipen zogen, gab es nicht. So
    etwas hätten wir uns damals in der Sowjet­
    union nicht vorstellen können. Wozu, hätten
    wir gefragt, irgendjemand lief immer als Ers­
    ter, im Wald folgte ich den Spuren meines
    Vaters, schweigend, fraglos durch die Stille,
    und fühlte mich ein bisschen wie Kolumbus,
    so groß sind die kindlichen Gefühle. Schnee­
    weiße Erinnerungen, wie milchglasverwaschen
    durch die Distanz, die Zeit.
    Der Schnee lässt aber keine Stille zu, merke
    ich heute: Er knirscht. Er spricht, murmelt,
    brummt, knarzt, schmatzt. Manchmal sehe
    ich Tränen: Gestern hat es geregnet, kleine
    traurige Löcher haben sich in den Schnee
    gebohrt. Er ist hier mit all seinen Launen zu
    Hause: Saalfelden­Leogang ist eine der be­
    rühmtesten Langlauf­Regionen Österreichs.
    Hier trainieren mit Blick auf die kargen Felsen
    des Steinernen Meeres und die Kitzbühler
    Alpen einheimische Profisportler auf einer
    WM­Loipe, das weite Talbecken zieht sich
    unter beeindruckend bizarren Gipfeln gefühlt
    in eine endlose Länge.
    Als wir aus Russland nach Deutschland zo­
    gen, wunderte ich mich, dass ich gefragt wurde,
    ob ich Ski fahren kann, so schwer fiel mir die
    Vorstellung, dass manche das nicht konnten.
    Dann die Erkenntnis: Die Fragenden meinten
    Alpin­Ski, was auch die Gespräche über irgend­
    welche Lifte erklärte, die ich erst nicht einord­
    nen konnte. Noch später verstand ich: Was für
    mich Fortbewegungsart und Spaß gewesen war,
    galt als peinlich, etwas für Rentnerinnen und
    Rentner. Also ließ ich es sein. Jahrelang, aus
    denen zwei Jahrzehnte wurden. Ich war nach
    München gezogen, da wurde im Winter viel von
    Schneeverhältnissen geredet, aber nie war damit
    gemeint, wonach sich meine Nostalgie sehnte:
    nach Schnee, der einfach nur ist.
    Jetzt werde ich das erste Mal nach fast
    zwanzig Jahren wieder langlaufen gehen und
    stelle fest: Die Skier sind erstaunlich leicht, die
    Schuhe fast wie Turnschuhe, und weil man
    sich beim Langlaufen so viel bewegt, trage ich
    nur eine leichte, winddichte Jacke. Wenn ich
    neben mir die Menschen auf dem Weg zur
    Piste sehe mit ihrer dicken, bunt leuchtenden
    Ausrüstung, die sich in den Skischuhen ein
    wenig wie Bären bewegen, dann fühle ich
    mich kurz, als hätte ich was vergessen.
    Hoffentlich ist es so wie mit dem Fahrrad­
    fahren, denke ich, hoffentlich habe ich nichts
    verlernt in all der Zeit, die Stöcke und Skier
    im Gleichtakt, aber nicht parallel, hoffentlich
    habe ich noch die notwendige Koordination,
    und Kondition übrigens auch. Ich sehe eine
    Langläuferin, die skatet, gleichmäßig, schnell,
    als hätte sie gar keine Mühe mit diesen gro­
    ßen, zackigen Schritten. Dann stehe ich
    schon selbst auf diesen Dingern, die sich mit
    mehr Selbstverständlichkeit in den Schnee
    pressen, als ich an den Tag legen kann. Die
    Stöcke ramme ich in den Schnee, als seien sie
    da, um mich zu halten, dann stoße ich mich
    ab in die erste Loipe. Die Skier gleiten, ich
    gleite, gleite wie ein Kind, das soeben Rad­
    fahren gelernt hat, euphorisch, dass das geht:
    dass ich gleite, immer schneller, die erste
    Kurve, der erste, leichte Abhang, der wahr­
    scheinlich noch nicht einmal den Namen ver­
    dient, aber ich nehme wie automatisch die
    Stöcke nach hinten, gehe in die Knie, den
    Rücken gebeugt, und unten, wobei auch das
    wahrscheinlich das falsche Wort ist, unten
    stelle ich mich wieder auf, strecke mich, die
    Atemluft dampft stolz aus dem Mund, glück­
    lich. Um mich herum Weiß, um mich herum
    unruhiger Schnee, den der Wind treibt. Um


mich herum nichts, aber dieses sonderbare,
verdächtig pathetische Gefühl, das mir sagt:
Um mich herum die ganze Welt, Natur, Frei­
heit, alles, die großen Worte, gegen die mein
Hirn sich wehrt, so gleite ich einfach.
Unter all dem Weiß und dem Wind kann
ich die Loipe kaum erkennen, auch die Berge
ringsum sind nur zu erahnen, an Menschen
erinnern bloß die zwei geradlinigen, verweh­
ten Striche vor mir, die ins Nichts führen, am
Meer würde man sagen: »in den Horizont«.
Weil ich ja in Deutschland gelernt habe, dass
Langlauf ein Sport ist, und ich dazu neige,
Sportarten nicht zu beherrschen, lasse ich mir,
um auf Nummer sicher zu gehen, von einer
Profisportlerin in einem Auffrischungskurs
zeigen, wie das mit dem Langlaufen geht. An­
drea Grossegger, Biathletin, ist die einzige Frau,
die jemals für Österreich eine Medaille bei den
Biathlon­Weltmeisterschaften gewann. Sie läuft
Langlauf­Ski seit ihrem elften Lebensjahr, ihre
ersten Skier waren aus Holz und hängen nun in
ihrem Shop bei Saalfelden, wo sie Langlauf­Ski­
ausrüstung verkauft und verleiht und Kurse gibt.
Immer häufiger, teilweise mehrmals am Tag. Es
kommen alte, junge, mittelalte Menschen, sagt
sie, immer öfter auch junge Familien, die um­
weltbewusster und kostengünstiger Wintersport
betreiben wollen, als man das beim Abfahrts­
Skifahren tut.
Für eine Stunde Nachhilfe fahre ich mit An­
drea Grossegger zu einer Loipe, die gerade, in
Kurven, hoch und hinunter führt, an der wir
also die wichtigsten Techniken des klassischen
Langlaufs üben können. Ich stoße mich mit
beiden Stöcken gleichzeitig ab, sause in der
Loipe und neben der Loipe hinunter, quäle mich
wieder hoch. Die Techniken bekommen plötz­
lich Namen, das hatten sie in meiner Kindheit
nicht, da waren sie irgendwie Automatismus.
Ab jetzt ist es nur noch Training, ich passe auf,
die Stöcke permanent in Bewegung zu halten,
achte auf die Rückenhaltung, ärgere mich über
mangelnde Kondition.
Vor ein paar Tagen hat ein 80­Jähriger sich
eine komplette neue Ausrüstung bei ihr zuge­
legt, erzählt Andrea Grossegger, das Langlaufen
halte ihn am Leben, hat er erklärt. »Das Schöne
ist, man kann einfach mal für eine Stunde lang­
laufen gehen«, sagt Andrea Grossegger auf der
Rückfahrt Richtung Laden. »Man muss nir­
gendwo anstehen, nichts vorbereiten. Ist wie
joggen, einfach vor die Haustür gehen.« Einfach
vor die Haustür, das geht hier, wo 150 Kilo­
meter gespurte Loipen verlaufen; das geht in
Deutschland nur selten. Der zeitliche Aufwand
aber stimmt: Nach zwei Stunden spüre ich, dass
ich jeden Muskel im Körper bewegt habe, wäh­
rend ich keine Kälte spüre und auch nicht, wie
die Zeit vergeht.
Später traue ich mich, die gespurten Wege
zu verlassen, biege am Loipen­umrandeten
Ritzensee einfach ab in den Wald. Der See liegt
idyllisch und ist glitzernd vereist, der Wind
wirbelt Schneewehen auf, die wie Nebelschwa­
den durchs Tal ziehen. Im Wald hält der Schnee
Winterschlaf: Er macht es sich auf Tannen­
zweigen bequem, rollt sich zwischen die Blau­
beersträucher, breitet Decken auf liegenden
Baumstämmen aus. Ich gleite leise hindurch,
will den Schlaf nicht stören. Ich ziehe meine
eigenen Loipen, niemand mehr, der vor mir
herläuft. Endlich fühlt es sich mal wieder gut
an, dieses Erwachsengewordensein, auch das
Alleinsein. Rehspuren, querfeldein, kleine, bei­
nahe herzförmige Hufe. Wenn ich nach oben
in die hohen Tannen blicke, dann wiegen sie
sich synchron, wie in einer Choreografie. Wenn
der Schnee dann hinunterfällt von den Ästen,
achtet er darauf, den Wind zu übertönen.
Durch die Weite gleite ich ohne Ziel, ohne
Zeit, ohne einen Gipfel erreichen zu wollen. Der
Schnee erzählt, und die Gedanken verlassen den
Kopf von selbst, was sie bei mir höchst selten
tun oder nie. Die Bewegung fordert das Hirn,
obwohl sie gleichmäßig ist, die Stöcke nah am
Körper, die Stöcke locker in den Händen, nicht
zu weit in den Schnee, und immer in Bewegung
bleiben. Das Hirn koordiniert, es hört auf zu
brummen, endlich ist mein Gehirn mal still.
Also gebe ich Gas, stoße mich mit beiden Stö­
cken gleichzeitig ab, das kitzelt im Bauch, wäh­
rend ich schneller werde. Dabei sieht Langlaufen
von außen immer so aus, als passierte da innen
nichts, als wäre das nur was für die, die nichts
vom Leben wollen oder nicht mehr als »Gleich­
gewicht finden«, als »Ausdauer«, als »gesunde
Bewegung«. Ich will, normalerweise, nichts
davon. Ich ärgere mich normalerweise, wenn
ich das Wort »Achtsamkeit« höre, weil mich
bereits sein Klang ungeduldig macht, ich habe
in meinem ganzen Leben nur eine Stunde Yoga
ausgehalten (fast bis zum Schluss) und werde
aggressiv bei diesen laaangsamen, in sich ruhen­
den Stimmen, die einem nahelegen, alles um
sich wahrzunehmen, die Geräusche, Gerüche,
die Atemzüge zu spüren, ich möchte dann im­
mer schreien, wozu?
Nun ist da aber der Wald, da sind die
Tannen, die manchmal in Familien zusam­
menstehen, und manchmal lassen sie Birken
in ihre Mitte. Der Wald riecht nicht nach
Wald, merke ich, ohne darüber nachzu­
denken, er riecht nach Schnee. Der Schnee
in meinen Haaren, in meinem Gesicht, auf
der Zunge. Mein Herz klopft, es klopft ruhig,
obwohl ich angeblich gerade Sport treibe,
und mein Kopf denkt, das ist es, wovon die
alle sprechen, die Achtsamkeit, Ruhe, was
auch immer sie sagen, hier ist es, in diesem
verschneiten Wald, durch den ich gleite und
in dem ich, obwohl ich gegen meinen Willen
erwachsen geworden bin, heute wieder
Kolum bus sein darf.

Als Kind fuhr LENA GORELIK manchmal mit Langlaufskiern zur Schule.
Dann lernte sie: Langlauf ist peinlich. Jetzt erobert sie sich die Loipe zurück

Schlittschuh
Wer Schlittschuh laufen möchte,
wie es in Bilderbüchern
abgebildet ist, kann das auf dem
vereisten Ritzensee tun. Nahe dem
Ufer liegt auch der Nordic Park,
wo man sich als Erwachsener im
Biathlon versuchen kann.
saalfelden­leogang.com

Schlitten
Nachts auf einem Schlitten den
Berg hinuntersausen: Das geht
dank Flutlicht sowohl auf der
Naturrodelbahn am Biberg als
auch am Asitz. Und wer zu faul
für den Aufstieg ist, fährt
entweder mit der Gondel oder
mit einem Shuttle hinauf

Schneeschuh
Schneeschuhwandern ist in der
Region zu einer Art Trendsport
geworden. Querfeldein durch den
Wald oder mit Blick auf die
schroffen Felsen des Steinernen
Meeres kann man tagsüber oder
abends (mit Stirnlampe) losstapfen.
alpinskischule.at

STATT LANGLAUF


Um mich herum nichts,


aber dieses sonderbare Gefühl,


das mir sagt: Um mich


herum die ganze Welt, Natur,


Freiheit, alles, die großen


Worte ... So gleite ich dahin


Die Autorin unterwegs im verschneiten Wald am Rande von Saalfelden-Leogang

Foto: Verena Kathrein für DIE ZEIT
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