gezögert, dann aber davon Abstand genommen. Dazu
haben Sie eine lange schriftliche Erklärung abgegeben,
dass man als Unternehmensführer zwischen Werten
und Interessen wie Arbeitsplätzen abwägen müsse.
Haben Sie das selbst geschrieben?
Kaeser: Das habe ich selbst geschrieben, irgendwann
nachts.
ZEIT: Sie führen darin aus, dass es eigentlich am
»mutigsten« gewesen wäre, hinzufahren. Und trotz-
dem hätten Sie sich für die »saubere« Variante ent-
schieden, zu Hause zu bleiben. Warum?
Kaeser: Nicht weil die Medien Druck ausgeübt haben,
ehrlich nicht. Der Grund war, dass just im Vorfeld der
Veranstaltung der oberste Gerichtshof in Riad eine Er-
klärung herausgegeben hat, in der der Vorfall bestätigt,
aber als Unfall infolge eines Faustkampfes bezeichnet
wurde. Der Verbleib der sterblichen Überreste sei aber
ungeklärt. Da war für mich klar, dass es nicht der Zeit-
punkt war, über zukünftige Investitionen zu sprechen,
wenn die Gegenwart verwirrend unklar ist: Kha shog gi
tot, aber es war angeblich ein Unfall. Bei zufälliger An-
wesenheit von zahlreichen Geheimdienstmitgliedern.
Die Leiche abgeholt von Unbekannten. Wäre die Bot-
schaft gewesen: »Es gab einen schrecklichen Mord. Wir
werden das aufklären und die Schuldigen bestrafen«,
hätte ich teilgenommen. Jedes Land verdient, dass man
ihm eine Chance und Zeit für die Aufklärung und
Strafverfolgung gibt.
ZEIT: Finden Sie grundsätzlich eine saubere Lösung
nützlicher als eine mutige?
Kaeser: Im Zweifelsfalle würde ich mich immer für
die mutige Lösung entscheiden. Wenn mir die Kapa-
zität reicht, sie auch durchzuziehen.
ZEIT: Was meinen Sie mit Kapazität?
Kaeser: Meine Kapazität, denn solche Dinge darf
man nicht delegieren! Ich würde das nie auf meine
Kommunikationsmitarbeiter abschieben. Das muss
man zur Chefsache machen, Gesicht zeigen, die Posi-
tion vertreten und damit letztlich Verantwortung
übernehmen.
ZEIT: Nach allen Konflikten, die wir jetzt rekon-
struiert haben, ist Australien, wohlwollend formuliert,
der unverständlichste.
Kaeser: Das glaube ich Ihnen. Denn auf Außenste-
hende wirkt das so.
ZEIT: Warum sind knapp 20 Millionen Euro Umsatz
mit Bahnsignaltechnik an einer Kohlemine, die bis
2080 riesige Mengen Kohle fördern wird und von
Umweltschützern bekämpft wird, so wichtig, dass Sie
einen solchen Reputationsschaden für Ihr Unterneh-
men in Kauf nehmen? Das versteht außerhalb Ihrer
Welt kein Mensch.
Kaeser: Weil ein Nebensatz total untergegangen ist:
Dieser Vertrag wurde ja unterschrieben mit einer un-
begrenzten Schadenshaftung bei einseitiger willkürli-
cher Kündigung.
ZEIT: Was hätte das in diesem Fall bedeutet?
Kaeser: In dem Vertrag selbst geht es um rund 18
Millionen Euro. Siemens macht pro Stunde 50 Millio-
nen Euro Geschäft, relativ gesehen also ein sehr kleiner
Auftrag. Ohne diese Haftungsklausel wäre sehr schnell
klar gewesen: Das machen wir nicht. Der entgangene
Gewinn wäre relativ gering, eine Mil lion oder zwei.
ZEIT: Zwei Millionen ist die Marge bei dem Projekt?
Kaeser: Nach Steuern noch weniger. Darum geht’s ja
auch nicht. Wir haben diesen Vertrag unterschrieben
mit einer unbegrenzten Haftung. Das heißt, wenn wir
einseitig ohne wichtigen Grund daraus aussteigen, ist
das vorsätzlicher Vertragsbruch. In diesem Fall ist es
üblich, die Haftung nicht zu deckeln – das hat auch
nichts mit uns zu tun.
ZEIT: Haben Sie mit dem indischen Unternehmen
Adani darüber gesprochen, ob die Sie aus dem Vertrag
entlassen?
Kaeser: Wir haben mit dem Unternehmen darüber
gesprochen, selbst auf höchster Ebene.
ZEIT: Und das ist juristisch belastbar mit der Ge-
samthaftung?
Kaeser: Ja, sicher, deshalb hat das ja unter anderem so
lange gedauert. Wäre es nur um den Vertragsgegen-
stand, die 18 Millionen, gegangen, wären wir zu einer
anderen Entscheidung gekommen. Wegen eines sol-
chen Themas in das Zentrum der globalen Umwelt-
aktivismus-Debatte zu geraten ist unsäglich. Das wird
uns auch nicht gerecht. Wir hatten das Thema vor der
Unterzeichnung nie formal im Vorstand behandelt.
Wir haben uns am 12. Januar 2020 in einer außeror-
dentlichen Sitzung des Vorstandes mit der Angelegen-
heit befasst und eine Entscheidung getroffen. Mit
dem Thema war es uns sehr ernst.
ZEIT: Was heißt »formal«? War das Thema ander-
weitig besprochen worden?
Kaeser: Es gab auf verschiedenen Ebenen informelle
Diskussionen dazu.
ZEIT: Formal erst fünf, sechs Wochen nach Vertrags-
unterschrift am 10. Dezember? Das ist sehr spät ...
Kaeser: Das ist Teil des Dilemmas. Mitte Dezember
kamen schon diese E-Mails von Umweltschützern an.
Tausende. Ich dachte mir noch, was ist das denn? Und
ich merkte, wir haben ein Problem, instinktiv.
ZEIT: Und wieder haben Sie als CEO getweetet,
sinngemäß: Ich wusste das nicht, ich nehme die Be-
denken sehr ernst, ich schaue mir die Sache an. Ha-
ben Sie damit die Bredouille für Ihr Unternehmen
nicht erst richtig sichtbar gemacht – und falsche Er-
wartungen geweckt?
Kaeser: Nein, das ist eben Dialog mit Stake hol dern.
Es war mir instinktiv klar, dass ich das Thema auf-
fangen muss. Natürlich gab es ein paar Leute, die
sagten, wir hätten das einfach ignorieren müssen.
Dann wäre das nicht so hochgekommen. Ich halte das
für völlig naiv, und damit bin ich auf der Welt nicht
allein. Das zeigten mir Gespräche mit Top-CEOs, die
ähnliche Themen hatten oder haben. Wer sich in ei-
ner aktivistischen Debatte wegduckt, der macht die
Angelegenheit noch viel schlimmer. Besonders wenn
es um sensible Themen wie Umwelt oder Gesundheit
geht. Das ist nicht mein Verständnis von Führung
oder »Leadership«, wie man heutzutage gern sagt.
ZEIT: Es gab ja vor der Unterschrift bei Adani einen
Nachhaltigkeitsausschuss bei Siemens, in dem das
Projekt geprüft wurde.
Kaeser: Schon viel früher.
ZEIT: Wenn Sie dem vorgestanden hätten, hätten Sie
die Problematik erkannt?
Kaeser: Also, im amerikanischen Rechtssystem würde
jetzt der Anwalt des Beklagten aufstehen und sagen:
Leading question. Einspruch, Euer Ehren.
ZEIT: Wir sind ja nicht im amerikanischen Rechts-
system.
Kaeser: Ich weiß. Aber wir sind in einem System, wo
die Antwort jetzt nicht mehr relevant ist, wir suchen
nämlich nicht nach Schuldigen, sondern nach Lösun-
gen, wie wir mit dem Problem um gehen. Außerdem
hat sich die Organisation formal korrekt verhalten.
Wir suchen nach Wegen, wie wir mit den neuen
Trends unserer Zeit künftig umgehen: die Gesell-
schaft als Stake hol der. Darauf kommt es doch an. Ich
verstehe schon, dass man von außen jetzt am liebsten
zuschauen würde, wie wir Schwarzer Peter spielen.
Aber wir haben Wichtigeres zu tun.
ZEIT: Das heißt, Ihr ganzer Nachhaltigkeitsausschuss
hat nichts gebracht?
Kaeser: Der Nachhaltigkeitsausschuss, wie er ur-
sprünglich angelegt war, kümmert sich um die Strate-
gie, nicht um einzelne Aufträge. Warum, glauben Sie
denn, habe ich gesagt, dass wir jetzt einen unabhängi-
gen Umweltausschuss brauchen? Meinen Sie, das war
ein PR-Gag? Wirklich nicht. Gerade die Natur unserer
Geschäfte im Energiesektor hat viel mit fossilen Ener-
gien zu tun. Hier benötigen wir eine klare und gut
durchdachte Position. Das Geschäftsmodell Umwelt-
aktivismus, also zu protestieren, ohne an einer Lösung
mitzuarbeiten, auch gegen Projekte, an denen wir nur
indirekt beteiligt sind, wird uns dort eng begleiten. Das
hat das Beispiel Australien gezeigt.
ZEIT: Was war denn am Ende für Ihre Entscheidung,
die Signaltechnik doch zu liefern, ausschlaggebend?
Kaeser: Über die Haftungsfrage haben wir schon
gesprochen. Dazu kam die Frage nach der Verläss-
lichkeit des Unternehmens gegenüber seinen Kun-
den nach dem Abschluss rechtmäßiger Verträge: Ist
die Verlässlichkeit nicht ein wich-
tiges Markenmerkmal des Unter-
nehmens?
ZEIT: Das ist das Argument, das
am schwersten zu verstehen ist.
Kaeser: Weshalb denn?
ZEIT: Dass wegen dieser 18 Mil-
lionen Euro die Glaubwürdigkeit
des ganzen Konzerns auf dem Spiel
steht, ist am schwersten zu vermit-
teln, wenn man den Reputations-
schaden sieht, der dagegensteht.
Und das für ein Projekt, das dem
Klima so sehr schadet!
Kaeser: Wir haben in der Vor-
standssitzung einstimmig entschie-
den, dass Vertragstreue ein wichti-
ges Gut ist. Wäre es mein eigenes
Unternehmen gewesen, wäre die
Entscheidung vielleicht anders aus-
gefallen. Aber ich bin eben auch
Angestellter des Unternehmens
und muss seine Interessen vertreten.
ZEIT: Kommen Sie mit dieser
Entscheidung auch jetzt noch zu-
recht?
Kaeser: Das ist so eine Entschei-
dung, mit der man eigentlich emo-
tional schwer zurechtkommt.
Wenn Jugendliche sagen: »Das
kannst du einfach nicht machen.
60 Jahre lang wird da noch Kohle
abgebaut werden« – das lässt mich
nicht kalt. Formal haben wir rich-
tig gehandelt, keiner hat irgend-
welche Unterschriftsregeln verletzt.
Gesetze und Regulierung sind auf
unserer Seite.
ZEIT: Wie kamen Sie denn auf
die Idee, sich mit der Klimaakti-
vistin Luisa Neubauer zu treffen
und ihr einen Sitz im Aufsichtsrat
anzubieten?
Kaeser: Frau Neubauer hat uns
über Twitter aufgefordert, mit ihr
zu reden. Und parallel hatten wir
ebenfalls die Idee für ein Treffen.
Wir haben zu diesem Zeitpunkt immer noch gehofft,
aus dem Vertrag zu kommen oder die Haftung redu-
zieren zu können. Wir haben mit Frau Neubauer tele-
foniert und gesagt, wir treffen uns. Was war die Moti-
vation? Ein PR-Gag sicherlich nicht. Angst vor Akti-
visten? Garantiert nicht. Neugierde? Ehrlich gesagt:
nicht wirklich.
ZEIT: Warum nicht?
Kaeser: Ich muss nicht mit allen Leuten ein Selfie ha-
ben. Aber sie vertritt eine Jugendbewegung. Das ist
Legitimation genug. Ich finde es gut, wenn sich die
Jugend für ihre Zukunft engagiert. Das Treffen kam
dann schnell zustande, in unserem Berliner Werk für
Gasturbinen. Ich habe gesagt, wenn Sie Lust haben,
dann zeige ich Ihnen auch mal die Fabrik. 5000 Men-
schen, die Gaskraftwerke, Gasturbinen bauen, es ist
schon auch irgendwie mal interessant, das reale Fabrik-
leben zu sehen. Okay, das kam dann nicht zustande.
Wir hatten ein anderthalbstündiges Gespräch. Ich habe
ihr erklärt, wo wir stehen, und wollte auch sicherstellen,
dass sie tatsächlich den Sachverhalt kennt.
ZEIT: Wie haben Sie denn dieses Gespräch in Erin-
nerung?
Kaeser: Ich fand das Gespräch angenehm.
ZEIT: Wie haben Sie die Redeanteile wahrgenommen?
Kaeser: Insgesamt ausgeglichen. Am Anfang habe ich
das Projekt erklärt. Ich habe gefragt: Kennen Sie das
Projekt im Detail? – Nein. Kennen wir nicht. Aber wir
sind dagegen. Dann habe ich ihr erklärt, was die Sig-
naltechnik ist. Und dann hatten wir schon eine Vier-
telstunde, in der es mehr in eine Richtung ging, um
sicherzustellen, dass wir beide zu diesem Projekt genug
wissen, um zu diskutieren. Und dann hat sie von sich
aus schon deutlich gemacht, was die Forderungen
sind. Sie hat mir auch ein paar Hinweise gegeben, die
teilweise konträr waren zu dem, was wir als sach gerecht
zu wissen dachten. Etwa, dass angeblich die indigene
Bevölkerung der Mine gar nicht zugestimmt habe.
Wir haben das aufgenommen, aber bisher leider nie-
manden gefunden, der das offiziell bestätigt. Unsere
Nachforschungen bestätigen, dass es von der indige-
nen Bevölkerung eine Entscheidung von 294 zu eins
für die Mine gab.
ZEIT: Wie kam es dann zu der Idee, ihr einen Posten
anzubieten? War die spontan?
Kaeser: Ich habe gesagt, dass ich ihr Engagement gut
finde und den Anspruch der Jugend auf eine gute Zu-
kunft unterstütze. Die Dia gno se der Klimakrise ist
auch konsensfähig, aber aus der Dia gno se heraus ent-
steht ja keine Veränderung. Die Frage ist doch: Was
machen wir denn jetzt? Die Energiegewinnung der
Welt basiert zum Großteil auf fossilen Energieträgern.
Aber wir müssen woandershin. Und wir sind nicht auf
einer grünen Wiese, wo wir eine neue Welt bauen,
sondern wir haben heute bestehende Strukturen. Und
da merkte ich schon, das war nicht ihre Welt. Ich sag-
te, Frau Neubauer, dann haben wir ein Problem.
Wenn wir diesen Konflikt von Alt zu Jung, von
Industrie- zu Entwicklungsland, von Konzernunter-
nehmen zu Protestbewegung auch noch eskalieren,
dann hilft doch das eigentlich der Welt nicht weiter.
Es war ganz interessant, sie hatte da eine gewisse – wie
soll ich das sagen – Empathie, Einsicht. Aber es ist
eben im Fridays-for-Future-Drehbuch nicht vorgese-
hen. Dann sagte ich zu ihr: Wenn Sie Lust haben, an
der Lösung und in einem Kontrollgremium für Um-
weltfragen mitzuarbeiten, sind Sie herzlich eingeladen.
ZEIT: Das war also spontan!
Kaeser: Sagen wir so, es war nicht von langer Hand
geplant. Ich kannte sie ja vorher nicht. Aber wer von
einer reinen Protestbewegung zur Lösungsbewegung
will, der hatte damit eine große Chance bekommen.
ZEIT: Und wie wurde aus dem Angebot, in den
Nachhaltigkeitsausschuss zu gehen, die Offerte für die
Funktion im Aufsichtsrat?
Kaeser: Das weiß ich auch nicht mehr so genau.
ZEIT: Da ging es aber wild durch ein an der! Unmittel-
bar nach Ihrem Gespräch mit Frau
Neubauer meldeten Zeitungen, Sie
hätten ihr den Sitz im Aufsichtsrat
angeboten, in Ihrem offiziellen
State ment hieß es Aufsichtsgremi-
um. Dann sagte ein Siemens-Spre-
cher, das sei noch im Fluss.
Kaeser: Ich habe bewusst Auf-
sichtsgremium gesagt. Dann wurde
daraus Aufsichtsrat, und die Auf-
merksamkeit ist dadurch erheblich
gestiegen. Wir vermuten, dass die
Konfusion daher kommt, dass ich
auf die Nachfrage eines Journalis-
ten, ob Kontrollgremium oder Auf-
sichtsratsmandat, gesagt habe, das
könne sie sich aussuchen. Tatsäch-
lich war uns immer klar, dass ein
Aufsichtsratsmandat nicht gehen
würde. Dort wäre die Unabhängig-
keit qua Funktion verloren.
ZEIT: Waren Sie enttäuscht, dass
sie abgesagt hat?
Kaeser: Ich habe es erwartet. Denn
damit hätte sie nicht mehr dieses
deutsche Greta-Gesicht sein kön-
nen. Ich bin trotzdem davon über-
zeugt, dass die Klimaschützer einen
Platz am Tisch bekommen sollten.
Damit sie Einblicke in komplexe
Sachverhalte erhalten und wir zu
Lösungen finden. Ich bleibe bei
meiner Einschätzung: Nur zu sagen
»Ich bin dagegen« bringt uns der
Lösung nicht näher.
ZEIT: Viele Investoren sagen, dass
die Australien-Sache sich in eine
allgemeine Wahrnehmung einfügt:
nämlich dass Sie sich selbst zu sehr
zum Thema machen. Ein Beispiel
war ein Tweet als Anspielung auf
den Tesla- und Raumfahrtunter-
nehmer Elon Musk, der zu Irrita-
tionen geführt hat. Dazu muss
man wissen, dass Sie von deutschen
Zeitungen wegen der Tonalität Ih-
rer Einlassungen kritisiert worden
waren. Sie selbst twitterten dann: »Amüsante Mei-
nungsbildung in unserem Land: Wenn ein deutscher
Vorstandschef proaktiv sein Unternehmen auf die
Zukunft ausrichtet, gilt er als ›pathetisch‹ oder ›phi-
losophisch‹. Wenn ein kiffender Kollege in den USA
von Peterchens Mondfahrt spricht, ist er ein bestaun-
ter Visionär.«
Kaeser: Stimmt doch, oder? Und wer sagt, dass das
viele Investoren sagen? Ich rede ständig mit den wirk-
lich wichtigen und großen Fonds. Da höre ich ganz
andere Si gna le.
ZEIT: Musk ist ein wichtiger Kunde, warum haben
Sie das gemacht? Zumal Ihr designierter Nachfolger
Roland Busch Musk zuvor selbst schon einen Visio-
när genannt hatte, was gleich als Si gnal von Ihnen
gegen ihn gedeutet wurde.
Kaeser: Ich spüre hier intern sehr viel Anspannung
wegen dieser Nachfolgedebatten. Und sehr viel Freu-
de der Medien an der Sensationslust: Vielleicht will
der Kae ser jetzt doch ewig bleiben. Dabei war einer
meiner wichtigsten Agendapunkte eine geordnete
Nachfolgeplanung.
ZEIT: Wir hatten nach dem Tweet gefragt!
Kaeser: Den Tweet hätte man nicht machen sollen.
Vor allem war es nicht notwendig. Ich habe Elon
Musk, den ich seit mindestens 15 Jahren kenne und
mit dem mich gute gemeinsame Freunde verbinden,
auch gar nicht namentlich genannt. Aber natürlich
gab es da schon gewisse Ähnlichkeiten. Stellen Sie sich
mal vor, ich würde mir bei einem Presse-Call oder bei
einem Analysten-Call ein bisschen was aufladen ...
(Kae ser fasst sich an die Nase)
ZEIT: Elon Musk hat vor laufender Kamera nie
gekokst, sondern Marihuana geraucht und twittert als
Tesla-Chef auch gern mal börsenrelevante Themen ...
Kaeser: Stellen Sie sich mal vor, ich oder ein anderer
Dax-Chef würde so was machen!
ZEIT: Wenn Sie es vorhaben, hätten wir das gern ex-
klusiv!
Kaeser: Stellen Sie sich das mal vor: Die Analysten
würden mir zu unbequem, und ich würde schreiben,
dass wir Siemens von der Börse nehmen – Finanzie-
rung garantiert. Das deutsche Recht wäre hier sehr
spröde, und die Medien würden sicherlich vor Aner-
kennung nicht gerade strotzen.
ZEIT: Hören Sie im Januar 2021 definitiv auf als
Vorstandschef?
Kaeser: Mit der Abspaltung und dem Börsengang der
neuen Siemens Energy AG ist ein wesentlicher Mei-
lenstein erreicht. Das Siemens von heute wird es dann
nicht mehr geben und damit auch nicht mehr den
Arbeitsinhalt des heutigen Vorstandsvorsitzenden. In
Zukunft gibt es drei starke Siemens-Unternehmen:
die Gesundheitstechnik, die Energietechnik und das,
was wir als das »industrielle Siemens« bezeichnen. Alle
drei Unternehmen können im Dax sein und die
Transformation aktiv und aus einer Position der Stär-
ke selbst gestalten. Deshalb schaffe ich diesen Job in
seiner jetzigen Form, schaffe ich mich eigentlich ab.
ZEIT: Warum weichen Sie bei diesem Thema so oft
auf den Konjunktiv aus und beantworten nicht ein-
fach die Frage, ob Sie weitermachen wollen?
Kaeser: Das ist eine Entscheidung des Aufsichtsrates,
nicht nur meine allein. Und die Entscheidung ist
noch nicht getroffen, deshalb bietet sich der Kon-
junktiv an. Es gibt dazu aber eine klare Roadmap.
ZEIT: Dürfen Ihre Nachfolger in dem dann geteilten
Unternehmen weiter keine Angst vor gesellschaftli-
cher Einmischung haben?
Kaeser: Viele dieser Themen werden mehr in der
Energiesparte zu finden sein, bei Strom und Klima.
Im digitalen Industriegeschäft wird es eine andere
Debatte geben. Wenn das Internet die industrielle
Welt erreicht, dann wird das zunächst weltweit Mil-
lionen Jobs kosten oder sie verändern. Das ist einfach
ein Riesenthema, dann kommt zu dem, was wir heute
schon haben, noch die Gefahr des Wohlstandsverlusts
dazu. Das könnte die Menschen weiter auf die Straße
treiben, die Militanz und die Spaltung der Gesell-
schaft weiter verstärken. Wir sehen das ja heute schon.
In einigen Ländern gibt es nur noch Nationalisten
oder Sozialisten. Die Mitte ist schon verschwunden.
ZEIT: Auch hier in Deutschland ist die Mitte ja schon
sehr defensiv.
Kaeser: Aber es gibt sie noch. Die Grünen werden sich
als weitere starke Volkspartei eta blie ren, wenn es ihnen
gelingt, ihren Anspruch auf eine sozialökologische
Marktwirtschaft auszufüllen. Die anderen werden es
schwer haben, sich als große Volksparteien zu behaup-
ten. Wenn es den Grünen wirklich gelingt, mit der
sozialökologischen Marktwirtschaft zu überzeugen,
und wenn es gleichzeitig ein Bewusstsein dafür gibt,
dass die Basis der Veränderung der Status quo ist, dann
könnte das für viele attraktiv sein.
ZEIT: Was meinen Sie damit konkret?
Kaeser: Wir leben heute in einer vernetzten Welt, die
keine erratischen Eingriffe ohne Schaden verträgt.
Wenn die Wirtschaft nicht mehr funktioniert und die
Landwirtschaft auch nicht mehr, dann haben wir ein
großes Problem. Aber wenn es gelingt, dass wir sagen:
»Wir führen eine CO₂-Bepreisung so ein, dass es eine
Verhaltensänderung gibt«, wenn die Wirtschaft ge-
zwungen wird, etwas zu tun, dann wird sie es über die
Innovationskraft leisten können. Voraussetzung ist
aber ein verlässlicher politischer Handlungsrahmen.
Im Konsumentenbereich brauchen wir ebenso eine
Verhaltensänderung. Auch über die Bepreisung, so-
dass man eben mit den Emissionen behutsamer um-
geht, weil es sonst im Geldbeutel wehtut. Das ist na-
türlich politisch megasensibel, aber bei klugen Aus-
gleichsmechanismen auch demokratisch mehrheits-
fähig, weil: Konsument gleich Wähler. Klar!
ZEIT: Wäre es im Sinne einer starken politischen
Mitte nicht gut, wenn andere Wirtschaftsführer sich
auch mal so offen äußern würden?
Kaeser: Meine Herren, jetzt haben wir fast drei Stun-
den darüber gesprochen, wie man sich beabsichtigt
oder unbeabsichtigt exponiert, zum Opfer von irgend-
welchen Interessen wird und mit welchen Konsequen-
zen man zu rechnen hat. Jetzt stellen Sie sich bitte mal
einen CEO vor, der einen Großteil seiner – oder ihrer
- Karriere noch vor sich hat. Der vielleicht Kinder im
schulpflichtigen Alter hat. Das ist nicht so einfach.
Andere sind im Konsumentengeschäft: Auch Rechts-
extreme fahren Auto oder kaufen Turnschuhe oder
brauchen Versicherungen. Es ist ein Unterschied, ob
Sie Privat- oder Industriekunden haben. Das ist schon
ein wichtiges Thema. Und das andere ist: Man muss
irgendwie auch selbst wissen, wie man die Interessen-
lagen und die Werte mit ein an der verbindet. Am Ende
des Tages ist man nichts anderes als ein Angestellter
des Unternehmens. Ich glaube auf jeden Fall, es ist
wichtig, dass die Unternehmenslenker begreifen, dass
die Gesellschaft sich als vierter Stake hol der eta bliert
hat. Das ist nicht eine Modeerscheinung, sondern ei-
gentlich erst der Beginn einer multilateralen Stake hol-
der- Ge mein schaft.
ZEIT: Multilaterale Stake hol der- Ge mein schaft?
Kaeser: Ja! Bisher hatten wir die Mitarbeiter, die Kun-
den und die Aktionäre. Die Gesellschaft als wichtiger
Stake hol der gewinnt aber immer mehr an Bedeutung,
etwa durch soziale Medien, die aktivistische Beteili-
gung an der Diskussion um unsere Zukunft und unse-
ren Lebensraum. Die Gesellschaft wird immer wichti-
ger, und deshalb ist es ja auch so absurd, was uns da
mit diesem Australien-Projekt passiert. Wir bei Sie-
mens retten Leben, arbeiten daran, den Krebs zu be-
siegen, schaffen bessere Arbeitsbedingungen. Wir hel-
fen massiv, bei unseren Kunden die Emissionen zu re-
duzieren. Das waren 640 Millionen Tonnen CO₂-
Reduktion weltweit allein im letzten Jahr! Stellen Sie
sich das einmal vor: Das sind 80 Prozent des deutschen
Haushalts an CO₂-Emissionen! Wir waren das erste
Großunternehmen, das bereits vor fünf Jahren Klima-
neutralität für 2030 angekündigt hat – und sie auch
erreichen wird. Und dann passiert das mit diesem
Miniprojekt in Australien. Und die Stimmung kippt -
das ist einfach undenkbar. Aber so ist die neue Welt.
Das Gespräch führten
Giovanni di Lorenzo und Roman Pletter
Meinen Sie, das war... Fortsetzung von Seite 21
Foto: Shutterstock; Screenshot: Joe Kaeser/Twitter (u.)
Dieses Bild twitterte Kaeser
zum Gedenktag
der Auschwitzbefreiung
Eine Klimaaktivistin
protestiert vor einem Siemens-
Standort in Australien
»Das ist so eine
Entscheidung, mit
der man eigentlich
emotional schwer
zurechtkommt«
Über das Geschäft mit
der umstrittenen Adani-Miene
Zur Haltung der Fridays-for-
Future-Aktivisten
»Ich bleibe
bei meiner
Einschätzung: Nur
zu sagen ›Ich bin
dagegen‹ bringt uns
der Lösung
nicht näher«
22 WIRTSCHAFT 30. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6