Die Zeit - 30.01.2020

(Tina Sui) #1

  1. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6 WIRTSCHAFT 23


D


2019:


863


2011:


534


477


2004:


320


285


2000:


492


311


0

Boeing

Airbus

380


Airbus

100

200

300

400

500

600

Auslieferungen von Airbus- und
Boeing-Flugzeugen seit 2000

ZEIT-GRAFIK: Doreen Borsutzki/
Quellen: Airbus, Boeing

Boeing

Stolz am Boden


Es rächt sich, dass bei dem amerikanischen Flugzeughersteller Boeing


in den vergangenen Jahren zu viel gespart wurde VON DOMINIC GATES


as war ein turbulenter Start für den neuen Chef.
Dave Calhoun hatte Mitte Januar gerade sein
Amt als neuer Boeing-CEO angetreten, da muss-
te er schon schlechte Nachrichten verkünden. Es
könne noch bis zum Sommer dauern, so Cal-
houn, ehe die Maschinen vom Typ 737 Max
wieder abheben dürfen. So lange könne man
auch keinen der Jets an Fluggesellschaften aus-
liefern. Und das bedeutet: weitere Mil liar den-
kosten. An diesem Mittwoch (nach Redaktions-
schluss) musste er die Zahlen des Jahres 2019
den Investoren erklären.
Doch für das Unternehmen steht mehr auf
dem Spiel: sein guter Name.
Boeing, einst der stolzeste Flugzeugbauer der
Welt, berühmt für seine Ingenieurkultur, hat in
den vergangenen Jahren wohl offenbar zu viel ge-
spart. Nicht mehr die Ingenieure hatten das Sa-
gen, sondern die Controller. Diesen Eindruck
kann gewinnen, wer sich das Debakel um die
737 Max genauer anschaut.
Nur wenige Tage bevor Calhoun offiziell
Chef wurde, schien dieser Eindruck einmal mehr
bestätigt zu werden. Da veröffentlichte Boeing
eine Fülle interner Dokumente, dank derer eini-
ges zu erfahren war über die Kultur in dem Un-
ternehmen. Darunter befindet sich auch eine
E-Mail, die ein Vertreter der indonesischen Flug-
gesellschaft Lion Air im Juni 2017 an Boeing ge-
schickt hatte. Es ging ihm um die Pilotenausbil-
dung für die neue 737 Max. Er schlug Boeing
vor, eine 24-stündige theoretische Schulung so-
wie eine dreistündige Sitzung in einem Flug-
simu la tor vorzunehmen. Die Antwort kam um-
gehend. Mark Forkner, technischer Chefpilot
des Max-Programms bei Boeing, schrieb: Dies
würde »Ihrer Fluggesellschaft eine schwierige
und unnötige Belastung« aufbürden. Da Lion-
Air-Piloten bereits das Vorgängermodell 737 von
Boeing flögen, gebe es »absolut keinen Grund
(...), einen Max-Simulator anzufordern«.
Im folgenden Jahr stürzte eine 737 Max von
Lion Air in Indonesien ab, 189 Menschen starben.
Mehrere Monate später stürzte eine Maschine der
Ethiopian Air lines desselben Typs ab.


Manager schauten weg und
ignorierten wichtige Hinweise


Als Lion-Air-Flug 610 am 29. Oktober 2018 ab-
stürzte, war die Maschine erst Wochen zuvor aus
dem Endmontagewerk bei Seattle ausgeliefert wor-
den. Boeing suchte den Fehler und wies in einem
Bulletin an die Fluggesellschaften auf einen Sensor-
ausfall hin, der fälschlicherweise eine neue Flugsteue-
rungssoftware in der Max ausgelöst hatte – bekannt
als Maneuvering Characteristics Augmentation
System (MCAS). Dieses Trimmsystem hatte den
Bug des Flugzeugs wiederholt nach unten gedrückt.
Boeing kündigte schnell ein Software-Update
an und instruierte die Piloten unterdessen, wie
sie gegebenenfalls bei einem solchen Vorfall zu
reagieren hätten: Wenn der Pilot mehrere Trenn-
schalter betätige, werde das MCAS deaktiviert.
Die US-amerikanische Flugsicherheitsbehörde
FAA und Aufseher auf der ganzen Welt gaben
sich damit zufrieden.
Dann kam der 10. März 2019. Da stürzte
Ethiopian-Airlines-Flug 302 nach einer ähn-
lichen MCAS-Fehlfunktion ab, 157 Menschen
starben. Die äthiopischen Piloten hatten die
Trennschalter wie empfohlen betätigt. Aber die
Kräfte am Heck waren so stark, dass sie die Nase
des Jets manuell nicht wieder hochziehen konn-
ten. Tage später wurde die 737 Max mit einem
weltweiten Startverbot belegt.
Damit war das Ansehen von Boeing schwer
beschädigt. Immer mehr Details kamen raus.
Etwa darüber, wie es bei der Zulassung des Flug-
zeugtyps zuging. So ergaben Untersuchungen,
dass einige Manager des Unternehmens »unan-
gemessenen Druck« auf wichtige Mitarbeiter
ausgeübt hätten – und zwar auf Ingenieure, die


offiziell die Sicherheitsbehörde FAA in den Bü-
ros des Herstellers unterstützten –, um den Zeit-
plan für die Zulassung der Max einzuhalten.
Und auch innerhalb der FAA gab es Druck. Dort
drängten Vorgesetzte Mitarbeiter dazu, die Zu-
lassung für die Max bald abzuschließen.
Ein Boeing-Ingenieur, Curtis Ewbank, reich-
te sogar intern Beschwerde ein: Leitende Mana-
ger des Max-Programms, so Ewbank, hätten
Vorschläge zur Verbesserung der Systemsicher-
heit abgelehnt. Dazu habe auch eine Maßnahme
gehört, mit der die Abstürze womöglich hätten
verhindert werden können. Die Verbesserungen
wurden abgelehnt, so Ewbank, weil die Flug-
gesellschaften möglichst wenige Veränderungen
an der Max gegenüber dem Vorgängermodell
wollten, um Ausbildungskosten zu sparen.

Milliardenverluste sind entstanden,
weil die Maschinen nicht starten dürfen

Inzwischen ist das ganze Ausmaß der Misswirt-
schaft bekannt. Der abschließende Untersu-
chungsbericht des Unternehmens förderte gra-
vierende Mängel zutage. Und eine Gewissheit: Es
war das MCAS, das zu den beiden Abstürzen
führte. Altgediente Boeing-Veteranen und Luft-
fahrtexperten verstehen nicht, wie offensichtliche
eklatante Fehler an dem Trimmsystem von den
Ingenieuren übersehen werden konnten. Unver-
ständlich ist, warum dieses Flugkontrollsystem,
das stark genug ist, um ein Flugzeug zum Absturz
zu bringen, von nur einem einzigen externen
Sensor abhing, der möglicherweise falsch einge-
stellt war oder durch einen Vogelschlag außer
Betrieb gesetzt werden konnte. Ein nicht zu ver-
zeihender Mangel an Redundanz, dem wichtigsten
Sicherheitsprinzip in der Luftfahrt.
Peter Lemme, ehemaliger Boeing-Flugsteue-
rungsingenieur, sagt, er sei »schockiert« über
diese Enthüllung. Dass ein so mächtiges auto-
matisiertes System wie das MCAS »von etwas so
Einfachem wie einem Sensorfehler ausgelöst
wurde, ist erschütternd«, sagt er. »Ich schäme
mich, dass das passiert ist. Es bedeutet, dass je-
mand seine Arbeit nicht gemacht hat.«
Bjorn Fehrm, Analyst bei der Luftfahrtbera-
tung Leeham, der Luft- und Raumfahrtingenieur
ist und Kampfpilot der schwedischen Luftwaffe
war, nennt das MCAS-Design »eine schlampige
Anwendung, fast schon kriminell«.
Insofern wundert es, dass Max-Chefpilot
Fork ner und andere Boeing-Mitarbeiter den
Aufsichtsbehörden MCAS als eine geringfügige
Ergänzung zu einem bestehenden System prä-
sentiert hatten – und nicht als das, was es tatsäch-
lich war: etwas wesentlich Neues, dessen Einsatz
die Piloten hätten trainieren müssen.
Das Management aber war derart entschlossen,
die Kosten für die Pilotenausbildung zu drücken,
dass es sich bei der Bestellung von 150 Max-Jets
durch den US-Erstkunden South west Air lines im
Jahr 2011 vertraglich verpflichtete, eine Mil lion
Dollar pro Flugzeug zu erstatten, sollte die FAA eine
Simulatorschulung der Piloten vorschreiben. Kann
eine Air line Maschinen anbieten, für die Piloten
nicht extra geschult werden müssen, ist das ein
weiteres Kaufargument: Der Einsatz der Jets ist für
den Käufer dann billiger.
Der Fokus auf Sparen kam Boeing teuer. Im
Dezember 2019 wurde die Produktion der 737 Max
vorerst gestoppt. Das Unternehmen hatte die Kos-
ten für das Startverbot einschließlich der Entschä-
digungszahlungen an Zulieferer und Kunden in den
ersten drei Quartalen des Jahres 2019 auf mehr als
neun Mil liar den Dollar geschätzt. Bis Jahresende
dürfte das noch mehr werden.
Dabei wollte Boeing den Abstand zum euro-
päischen Konkurrenten Airbus weiter vergrößern.
Die Max war spät gestartet, holte aber gegenüber
dem Airbus A320neo auf. Und in der Kategorie der
Großraumflugzeuge, in der Boeing traditionell
erfolgreicher war, wollte man 2019 die neue 777X

in die Luft bringen und mit der 797 ein völlig neues
»New Midmarket Air plane« (NMA) einführen.
Aber es kam anders. Airbus lieferte im vergangenen
Jahr 863 Flugzeuge aus, Boeing nur 380 (siehe Grafik).
Im gleichen Jahr verbuchte Airbus Bestellungen für
768 Flugzeuge, Boeing hingegen hatte mehr Stornie-
rungen als Neuaufträge zu verzeichnen. Damit nicht
genug. So gelang es Airbus, für das größte Modell
seiner A320neo-Familie, die A321neo, eine neue Ver-
sion mit zusätzlichen Treibstofftanks auf den Markt
zu bringen. Dadurch hat die Maschine eine deutlich
höhere Reichweite – und Airbus besetzte damit genau
den Mittelstreckenmarkt, den Boeing mit seinem
NMA im Blick hatte.
Boeing hingegen kämpft mit seinen Problemen
und ist durch die Krise zu gelähmt, um jetzt eine
797 zur Produktionsreife zu bringen. Das NMA ist
einstweilen nur eine Idee. Und bei der 777X hat
Boeing lange mit Problemen bei der Motorenent-
wicklung gekämpft. Zum Testflug ist sie gerade erst
gestartet. Neun Monate später als erwartet.
Wenig will bei Boeing gerade gelingen, so scheint
es zumindest. In den vergangenen 20 Jahren kon-
zentrierten sich die Manager in der Zentrale in Chi-

cago darauf, die Renditen zu steigern, und sie ver-
suchten zu sparen, wo es ging. Während dieser Zeit
wurden viele Tätigkeiten an externe Unternehmen
ausgelagert. Altgediente Ingenieure wurden entlas-
sen, wodurch viel Wissen verloren gegangen ist. So
sieht es zumindest Stan Sorscher. Er ist inzwischen
in Rente, davor war er Ingenieur bei Boeing und
Analyst der Ingenieurgewerkschaft. Er sagt, Boeing
habe die Ingenieurkultur des Unternehmens immer
durch die Teams, die alle zehn Jahre zum Bau neuer
Flugzeuge zusammengestellt wurden, von einer Ge-
neration an die nächste weitergegeben. »Wir haben
jetzt zwei Jahrzehnte lang Mitarbeiter gehabt, denen
die Erfahrung fehlt, ein gutes, leistungsstarkes Ent-
wicklungsprogramm zu durchlaufen«, sagt er.
Dadurch hat man viel Geld gespart. Aber die
Folgen waren fatal. Im Jahr 2013 durfte die zu wei-
ten Teilen außerhalb des Unternehmens entwickelte
787 Dream liner drei Monate lang nicht starten –
ihre Batterien begannen im Flug zu schwelen. Die
letzten beiden großen Flugzeugentwicklungen – die
787 und die 737 Max – mussten also wegen Sicher-
heitsproblemen am Boden bleiben. Für einen Flug-
zeughersteller eine einzigartige Blamage.

Der neue Chef Calhoun steht vor einer gewalti-
gen Herausforderung. An seinem ersten Tag ver-
sprach er, »unsere Sicherheitskultur zu stärken, die
Transparenz zu verbessern und das Vertrauen wie-
derherzustellen«. Doch nicht alle sind sich sicher,
dass er der Richtige dafür ist. Calhoun sitzt seit
mehr als zehn Jahren im Boeing-Vorstand. Davor
war er bei General Electric, einem Unternehmen,
das eine ähnliche Strategie verfolgte wie Boeing in
den vergangenen Jahren. Zuletzt war er in leitender
Position bei der Private-Equity-Gesellschaft Black-
stone. Sein Spe zial ge biet: das Sanieren von Unter-
nehmen.
Schon bald muss er Behörden, Fluggesellschaf-
ten und Passagiere davon überzeugen, dass die Max
sicher ist – und dafür sorgen, dass sie abhebt.
Gelingt ihm das, hätte er schon viel erreicht. Und es
wäre doch nur ein Anfang.

Dominic Gates ist Reporter der »Seattle Times«
und berichtet seit Jahren über Boeing.
Übersetzt wurde sein Artikel von Michael Adrian

A http://www.zeit.deeaudio

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