24 WIRTSCHAFT 30. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6
Aral wollte seine Tankstellen als kleine Supermärkte neu erfinden. Doch die Kunden
kaufen weder Sushi noch Salate. Die Pächter schmeißen massenweise Lebensmittel in die Tonne,
manche fürchten die Pleite VON HENNING SUSSEBACH UND CLAAS TATJE
I
hr einziges Glück im Unglück sei, dass der
Weg zum Müll nicht weit ist, sagt die
Frau. Dass sie selten von jemandem gese-
hen werde, denn sie schämt sich. Nach
vorne, zur vierspurigen Straße hin, strahlt
ihre Tankstelle im bekannten Aral-Blau,
alles sieht nach glänzenden Geschäften
aus. Da sind neun saubere Tanksäulen. Regale
voller Energydrinks. Brummende Kühlschränke,
darin Eier, Milch, Käse und Wurst.
Die Mülltonnen stehen auf der Rückseite, ver-
steckt in einem schmalen Gang. »Hinten im Lager
ist eine Tür«, sagt sie, »da durch und direkt rechts.«
Jeden Abend huscht sie hinaus ins Dunkel und
schaut, ob irgendein Kunde sie beobachtet. Wenn
nicht, wirft sie weg, was sie tagsüber eigentlich
hätte verkaufen sollen: Laugenbrezeln, geschnitte-
nen Leberkäse und Salate. Belegte Baguettes, die
bei ihr Crossinos heißen, und Konserven, die so
lange in den Regalen standen, bis das Mindesthalt-
barkeitsdatum erreicht war. An schlechten Tagen
sind die Tonnen derart voll, dass die Deckel kaum
mehr schließen. Und es gibt viele schlechte Tage.
»Ich weiß, man hat nur ein Herz«, sagt die
Frau, »aber bei mir bluten zwei: mein privates und
mein kaufmännisches.«
Es war um den Jahreswechsel, während der
Wochen, in denen Händler ihre Bilanzen schrei-
ben, als eine Art Notruf die ZEIT erreichte. Meh-
rere Pächter von Aral-Tankstellen meldeten sich,
eine Gruppe Verzweifelter, unter ihnen auch die
Frau, die von sich sagt, dass bei ihr zwei Herzen
bluten. Wie ihre Kollegen möchte sie anonym
bleiben, soll einfach Frau Meier heißen, damit sie
für Aral nicht erkennbar wird. Denn der Konzern
hatte seine Geschäftspartner noch im Dezember in
einem internen Schreiben davor gewarnt, mit Jour-
nalisten zu sprechen. Er hatte sie angewiesen, bei
Medienanfragen »unmittelbar« die Zentrale zu in-
formieren und Reporter »höflich, aber bestimmt«
zu bitten, »das Tankstellengelände zu verlassen«.
Dass Pächter aus ganz Deutschland dennoch
Kontakt zur Redaktion der ZEIT aufnahmen, sie
zu Krisentreffen einluden, ihr vertrauliche Doku-
mente zuspielten, liegt daran, dass sich hinter der
Fassade des deutschen Marktführers für Tankstel-
len ein Drama abspielt. Ausgerechnet beim Ver-
such, die Zukunft des Geschäfts zu sichern, ist
dem Konzern ein gewaltiger Fehler unterlaufen.
Schon seit Jahrzehnten wird an Tankstellen
Geld nicht allein mit Sprit verdient, sondern auch
mit Autowäsche, Zigaretten, Snacks. Vor allem für
die Pächter ist das ein wichtiges Geschäft, weil für
sie beim Verkauf von Benzin und Diesel kaum
Provision übrigbleibt, pro Liter nur 1,1 Cent. So
klang es zunächst schlüssig, dass Aral vor vier Jah-
ren eine Kooperation mit der Lebensmittelkette
Rewe verkündete, um sich noch unabhängiger zu
machen vom Spritverkauf. Ob es damals bloß um
höhere Margen ging oder schon darum, sich auf
das Zeitalter der Elektromobilität vorzubereiten,
ließ Aral offen. »Die Zeit ist reif für die nächste
große Evolution im Shop-Geschäft«, teilte der
Aral-Vorstandsvorsitzende Patrick Wendeler 2016
in einer Pressemeldung mit. Nach und nach soll-
ten bis zu 1000 der rund 2300 Aral-Tankstellen
von Behelfskiosken zu kleinen Supermärkten aus-
gebaut werden. Das Sortiment wurde nicht nur
um Alltäglichkeiten erweitert, sondern auch um
Sushi, Nocellara-Oliven und Granatapfelsaft. Bis
heute kam an 550 Standorten zum Aral-Blau ein
»Rewe To Go«-Schriftzug auf grünem Grund. In
diesem Jahr sollen es noch einmal 120 mehr wer-
den. Das ist der Plan.
Doch das Konzept gehe nicht auf, melden zahl-
reiche Betreiber: Ihre Kunden sähen in einer Tank-
stelle nach wie vor allenfalls einen »Notkauf«, falls
zu Hause mal das Brot ausgegangen sei. Der ZEIT
liegen Bilanzen vor, denen zufolge massenhaft
Lebensmittel vernichtet werden und viele Pächter
die Pleite fürchten, weil Aral sie auf einem großen
Teil der Einkaufskosten sitzen lässt.
Bei Frau Meier beispielsweise ist es so: Ihre
Tankstelle steht am Rande einer mittelgroßen
Stadt, direkt an einer Straße mit viel Pendlerver-
kehr, nebenan ein Gewerbegebiet. Im Sommer
kommen auch Touristen auf der Durchreise vor-
bei. Das Umfeld ist weder arm noch reich, ein
Territorium normaler Ansprüche und üblicher
Einkaufsgewohnheiten. An diesem »08/15-Stand-
ort«, wie sie ihn selber nennt, hat Frau Meier ihrer
jüngsten Bilanz zufolge im vorigen Jahr etwas
mehr als 25.000 Euro mit dem Verkauf von Sprit
verdient – aber zugleich Lebensmittel im Ein-
kaufswert von mehr als 60.000 Euro in den Müll-
tonnen hinter ihrem Lager entsorgen müssen.
Lebensmittel, die sie auf Anraten von Aral gekauft
und selbst bezahlt hatte.
»Es ist eine Schande«, sagt sie.
Eine Schande, die sie exakt beziffern kann, Pro-
dukt für Produkt. Um die Identität von Frau Meier
zu schützen, nur einige gerundete Zahlen: Auf je eine
verkaufte Gulaschsuppe kamen in ihrer Tankstelle
im vergangenen Jahr rund zwanzig weggeworfene.
Gegenüber 100 verkauften Salatschalen lande-
ten 600 im Müll.
Den »Olivenmix Grün« hat Frau Meier insge-
samt keine zehnmal verkauft, aber über 80-mal
weggeworfen.
Vom »Knusperschnitzel« hat sie rund 170 ver-
kauft und fast 1000 zu den Mülltonnen getragen.
Die »Laugenecke« ist sie etwa 50-mal losgewor-
den, mehr als 1600 warf sie weg.
Im vergangenen Jahr hatte Frau Meier einen
Betriebsgewinn von 40.000 Euro. In den Zeiten
vor Rewe To Go lag er fast doppelt so hoch.
So geht das im ganzen Land. Es herrscht Un-
ruhe bei Tankstellenbetreibern in Dresden, Augs-
burg, Flensburg, Essen, Berlin, Jena. Ein Aral-
Pächter in einer deutschen Großstadt meldet Ab-
schreibungen von 4000 Euro pro Monat, fast
50.000 Euro im Jahr. Ein anderer teilt mit, er
habe im Vorjahr Nahrungsmittel im Wert von
40.000 Euro vernichtet. Die Zahlen ähneln sich
unabhängig vom Standort. Meist bewegen sie
sich zwischen 40.000 und 60.000 Euro. Rechnet
man dies auf die aktuell 550 Rewe-To-Go-Tank-
stellen hoch, kommt man auf eine ungeheuerli-
che Summe von Verschwendung: 22 bis 33 Mil-
lionen Euro.
D ie We g we r f- AG
Alles super? Der Konflikt zwischen Unternehmensführung und Pächtern eskaliert
Foto (Symbolbild): Euroluftbild/dpa Picture-Alliance
1,1
Cent je verkauftem Liter Treibstoff zahlt
Aral an seine Pächter
550
Tankstellenpächter von Aral betreiben
mittlerweile Rewe To Go-Shops
60.000
Euro beträgt der Einkaufswert der Lebensmittel,
die einzelne Pächter 2019 wegwarfen