ST EUERSENKUNGEN?
Der Staat schwimmt im Geld, die Politik will die Bürger entlasten. Wie das gehen könnte – und wer profitieren würde VON MARK SCHIERITZ
S
o viel Einigkeit war selten. Von der
Union über die FDP bis hin zu Links-
partei und Teilen der Grünen findet
eine Idee immer mehr Anhänger: Die
Steuern müssen runter! Sogar der
neue SPD-Chef Norbert Walter-Borjans hat
sich dafür ausgesprochen. Dabei hatte er bislang
verlangt, lieber die staatlichen Investitionen zu
erhöhen. Angesichts gewaltiger Überschüsse im
Haushalt halten viele Politiker jedoch beides für
möglich – investieren und Steuern senken. Doch
wie könnte eine Reform aussehen? Wer würde
profitieren? Und wie teuer würden niedrigere
Steuersätze wirklich für den Staat?
1.
Ist die Steuerbelastung in Deutschland im
internationalen Vergleich besonders hoch?
Auch wenn das Argument vonseiten der Union oft
vorgebracht wird: So pauschal formuliert ist es nicht
korrekt. Der Anteil der Steuern und Sozialabgaben
am Bruttoinlandsprodukt belief sich 2018 auf 38,2
Prozent. Die Industrieländerorganisation OECD
hat diesen Wert mit dem der anderen großen Wirt-
schaftsnationen verglichen: Deutschland befindet
sich an zwölfter Stelle. Vor den USA und Groß-
britannien, aber hinter Schweden, Frankreich und
den Niederlanden.
Richtig ist aber: Die Belastungen sind sehr
ungleich verteilt. Bei Singles zum Beispiel greift
der Staat kräftig zu. Alleinstehende Durch-
schnittsverdiener etwa müssen 49,5 Prozent ihres
Bruttoverdienstes – einschließlich der Sozialbei-
träge der Arbeitgeber – abführen. Das ist nach
Belgien der zweithöchste Wert weltweit. Dage-
gen werden Familien hierzulande dank Ehe-
gattensplitting und beitragsfreier Mitversiche-
rung von Familienangehörigen in der Kranken-
kasse geschont. Bei einem verheirateten Allein-
verdiener mit zwei Kindern und einem Brutto-
einkommen von 50.546 Euro – was einem zu
versteuernden Einkommen von etwa 40.000
Euro entspricht – belaufen sich die Abzüge nur
noch auf 34,4 Prozent. Davon entfällt der größte
Teil auf die Sozialabgaben, nicht auf die Steuern.
Die Einkommensteuerbelastung der Beispielfa-
milie liegt bei weniger als 15 Prozent.
2.
Bezahlen Arbeitnehmer mit niedrigem
Einkommen keine Steuern?
Im Zentrum der politischen Auseinandersetzung
stehen Vorschläge zur Entlastung von Haushalten
mit mittleren Einkommen. Das liegt daran, dass
das Existenzminimum von der Einkommensteuer
befreit ist: Bis zu einem Verdienst von 9408 Euro
liegt der Steuertarif bei null Prozent. Danach steigt
er allmählich bis auf 42 Prozent an. Für sehr hohe
Einkommen ab 270.500 Euro sind 45 Prozent fäl-
lig – die sogenannte Reichensteuer. Geringverdiener
zahlen also tatsächlich kaum Einkommensteuern.
Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirt-
schaftsforschung (DIW) hat sich die Sache genau-
er angesehen. Demnach trägt die untere Hälfte der
Haushalte nur knapp vier Prozent der Einkommen-
steuer, die oberen zehn Prozent dagegen 59 Prozent.
Das ist auch so gewollt. Deutschland hat ein pro-
gressives Steuersystem, und das bedeutet: Starke
Schultern tragen mehr als schwache. Die untere
Hälfte bezieht schließlich auch nur 24 Prozent des
gesamten Bruttoeinkommens, das oberste Zehntel
hingegen mehr als 30 Prozent.
Das Bild ändert sich aber, wenn auch die
Mehrwertsteuer, die Tabaksteuer, die Stromsteu-
er oder die Kraftfahrzeugsteuer in die Rechnung
einbezogen werden. Die untere Hälfte trägt rund
40 Prozent dieser indirekten Steuern, die nicht
an den Verdienst gekoppelt sind. Das oberste
Zehntel dagegen nur rund 20 Prozent. Gering-
verdiener zahlen sogar einen größeren Teil ihres
Einkommens in die Staatskasse ein als Gutver-
diener. Das Steuersystem wirkt also am unteren
Ende der Einkommensskala nicht progressiv,
sondern regressiv – es nimmt denen Geld weg,
die ohnehin nicht viel haben.
3.
Trifft der Spitzensteuersatz heute schon
Durchschnittsverdiener?
Das kommt darauf an, was man unter dem Begriff
Spitzensteuersatz versteht. Wer im Jahr 1980 fünf-
mal so viel verdiente wie der Durchschnitt, der
bezahlte den höchsten Tarif. Heute reicht es schon,
bloß das Doppelte des Durchschnittslohns zu ver-
dienen. Diesen Vergleich stellt die FDP gerne auf.
Er legt auf den ersten Blick nahe, dass der Staat bei
Normalverdienern heute mehr Geld abzweigt als
damals. Das ist auch ein Grund dafür, dass nun über
Steuersenkungen diskutiert wird. Allerdings: Der
Spitzensteuersatz im Jahr 1980 betrug 56 Prozent,
heute sind es nur 42 Prozent. Bei dieser Rechnung
werden also Äpfel mit Birnen verglichen. Aussage-
kräftiger ist, ab welchem Einkommen der heutige
Spitzensteuersatz von 42 Prozent in der Vergangen-
heit griff. Das hat Martin Beznoska vom Institut
der deutschen Wirtschaft in einer Studie unter-
sucht. Ergebnis: Etwa seit Mitte der Siebzigerjahre
wird dieser Satz vergleichsweise konstant vom
Doppelten des Durchschnittsverdienstes an fällig.
Heute entspricht das im Fall eines Singles einem zu
versteuernden Einkommen von 56.000 Euro (etwa
66.000 Euro brutto). Es wird dabei nur der Teil des
Einkommens mit 42 Prozent besteuert, der über
dieser Grenze liegt. Bei 56.001 Euro also ein Euro.
Wenn man trotzdem den Abstand zwischen
Spitzensteuersatz und Durchschnittseinkommen
vergrößern möchte, ergeben sich zwei Ansätze für
Reformen. Die Regierung könnte einen zusätzli-
chen, höheren Steuersatz für Gutverdiener ein-
führen, beispielsweise 44 Prozent ab einem Ein-
kommen von 70.000 Euro. Dieser neue Spitzen-
steuersatz würde dann wie früher erst ab einem
Mehrfachen des Durchschnittseinkommens fäl-
lig. Der Haken: Gutverdiener würden zusätzlich
belastet, und niemand bezahlt weniger Steuern.
Alternativ könnte der Bundestag beschließen,
dass der heutige Spitzensteuersatz zum Beispiel
nicht mehr ab 56.000 Euro, sondern vielleicht
erst ab 65.000 Euro greift. Dadurch würden alle
entlastet, die derzeit den Spitzensteuersatz ent-
richten. Das sind etwa 4,2 Millionen Steuerzah-
ler. Auch hier würde sich die Distanz zwischen
Durchschnittsverdienern und Spitzensteuersatz-
zahlern ausweiten – diesmal aber, indem ein Teil
der Steuerzahler entlastet wird.
Grob gesagt sind FDP und Union für die zwei-
te Variante. Die Freien Demokraten wollen, dass
der Spitzensteuersatz erst ab einem zu versteuernden
Einkommen von 90.000 Euro fällig wird. SPD,
Grüne und Linke dagegen sprechen sich für eine
Kombination der beiden Varianten aus: Sie sind dafür,
dass der derzeitige Spitzensteuersatz später greift, zu-
gleich wollen sie aber für Topverdiener eine zusätzliche
Tarifstufe in das Steuersystem einbauen.
4.
Wie teuer wird eine Entlastung der
Mittelschicht für den Staat?
Das hängt vor allem davon ab, wer genau entlastet
werden soll – und wie. Die Linke beispielsweise will
den steuerlichen Grundfreibetrag auf 12.600 Euro
anheben. Dann wäre also ein Einkommen bis zu
diesem Betrag von der Steuer befreit. Was dafür
spricht: Der Anteil der Steuern an der Wirtschaftsleis-
tung liegt bei knapp 24 Prozent. Das ist der höchste
Wert seit der Wiedervereinigung und damit ein Argu-
ment für eine solche Reform.
Kompliziert wird die Angelegenheit nun, weil das
Finanzamt allen Steuerzahlern den Grundfreibetrag
gutschreibt. Er wird vom Einkommen abgezogen und
verringert die Steuerschuld. Die Folge: Ein höherer
Grundfreibetrag entlastet nicht nur die Mittelschicht,
sondern auch Spitzenverdiener. Das macht die An-
gelegenheit teuer. Laut Finanzministerium kostet eine
Anhebung um 100 Euro je nach Ausgestaltung zwi-
schen 0,6 und 0,8 Mil liar den Euro. Vergleichsweise
einfach können die Bezieher niedriger und mittlerer
Einkommen laut Stefan Bach vom DIW entlastet
werden, indem die Mehrwertsteuer angepasst wird.
Eine Absenkung um einen Prozentpunkt würde
etwa elf Mil liar den Euro im Jahr kosten. Noch güns-
tiger wäre es, gezielt jene Waren und Dienstleistungen
von der Steuer zu befreien, die Geringverdiener be-
sonders häufig nachfragen: Nahrungsmittel etwa oder
Fahrten mit dem öffentlichen Nahverkehr. Auch eine
Entlastung bei den Sozialbeiträgen würde Arbeitneh-
mern mit niedrigem Einkommen helfen, denn für sie
sind Sozialabgaben häufig der größte Minusposten
auf der Gehaltsabrechnung.
In der Politik allerdings hat eine Mehrwertsteuer-
reform nicht sehr viele Anhänger. Das liegt daran, dass
es politisch sehr schwer ist, eine einmal vorgenom-
mene Absenkung wieder rückgängig zu machen, falls
das einmal nötig sein sollte. Schließlich wirken sich
Änderungen an den indirekten Steuern unmittelbar
auf die Preise aus – und die hat jeder vor Augen. Kom-
plizierte Operationen am Steuertarif hingegen fallen
nicht so sehr auf. Das erklärt, warum die Parteien sich
vor allem mit der Einkommensteuer befassen.
Steuereinnahmen in Prozent
der Wirtschaftsleistung
25
23
196 0 1970 198 0 199 0 2000 20102018
20
0 %
2018:
23,7
1960:
23,0
Brauchen wir
Steuern und Abgaben in Prozent
der Wirtschaftsleistung
ZEIT-GRAFIK/Quellen: BMF, DEW, IW, OECD
(Zahlen von 2018)
46,1 %
43,9
38,8
38,2
33,5
24,3
Frankreich
Schweden
Niederlande
Deutschland
UK
USA
1965
0
1
2
3
4
5
1975 1985 1995 2005 2015
Lesebeispiel: 2018 gri der Spitzensteuersatz
beim 1,9-Fachen des Durchschnittsverdienstes
Verhältnis des Durchschnittsverdienstes zum
Einsetzen des Spitzensteuersatzes von 42 %
2018:
1,90
1965:
4,95
zu versteuerndes
Einkommen
Einkommen
0 %
10
20
30
Einkommensteuern
Steuerbelastung übrige Steuern
Steuerbelastung in Abhängigkeit vom
Haushaltseinkommen
*Haushalts-Bruttoäquivalenzeinkommen (Zahlen von 2015)
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