- JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6 WIRTSCHAFT 29
Fotos: Sebastian Wells/Ostkreuz
Im »Viereck des Todes«
Über Jahrzehnte verschmutzten giftige Industrieabfälle den Osten Siziliens. Seit Langem wehren sich die Bewohner – nun finden sie erstmals Gehör VON FABIO LO VERSO
D
er Pfarrer wählt einen dras-
tischen Namen für die Ge-
gend, in der er lebt. Er
spricht vom »Viereck des
Todes« und meint damit
die Umgebung der Städte
Augusta, Syrakus, Melilli
und Priolo, die an der Ostküste Siziliens liegen.
Don Palmiro Prisuttos Kirche steht im Zen-
trum des 35.000-Einwohner-Ortes Augusta, ein
Lichtstrahl im Hauptschiff trifft auf sein blitz-
sauberes weißes T-Shirt. Weiße T-Shirts seien das
offizielle Symbol der von ihm geführten Protest-
bewegung gegen die »tödliche Verschmutzung«,
sagt er. Boden, Luft und Wasser seien verseucht:
mit Asbest, Arsen, Blei, Benzol, Quecksilber und
anderen gesundheitsgefährdenden Stoffen. Nach
Jahrzehnten intensiver Belastungen durch die In-
dustrie und zahlreichen Fällen von illegaler Müll-
entsorgung sei die Umwelt in der Region am
Ende – und viele Menschen krank.
Seit etwa 70 Jahren ist die Gegend um Syrakus
ein Zentrum der italienischen Chemie- und Erd-
ölindustrie. Die erste Erdölraffinerie entstand dort
1949, heute sind insgesamt zehn Industrieanlagen
aktiv: zwei Raffinerien, zwei Chemiefabriken, ein
Zementwerk, zwei Industriegasanlagen und drei
Kraftwerke. Deren Geschichte ist reich an Skan-
dalen, doch erst jetzt beginnt die Politik, die Pro-
bleme wirklich zur Kenntnis zu nehmen.
Mitte November kam der parteilose italienische
Umweltminister Sergio Costa zu Besuch – solch
hochrangige Besucher hatten sich hier lange nicht
blicken lassen. Costa versprach, dem »Teufelskreis«
ein Ende zu bereiten, der die Bevölkerung zwinge,
mit der Gefahr zu leben.
Er hatte wohl auch kaum eine andere Wahl.
Wenige Wochen zuvor hatte das Krebsregister
der Provinz Syrakus eine Studie veröffentlicht,
der zufolge wohl nur die Umweltverschmut-
zungen erklären konnten, »warum es im indus-
triellen Viereck zu einem Anstieg der Fälle
kommt, während auf nationaler Ebene die
Mortalität zurückgeht«. Anselmo Madeddu, der
Gesundheitsdirektor des Krebsregisters, warnte:
»Die Krankheit verbreitet sich nunmehr von der
Industriezone auf das umliegende Gebiet.«
Diese Erkenntnisse decken sich mit denen des
Forschungsprojekts Sentieri, das im Auftrag des
italienischen Gesundheitsministeriums verschmutz-
te Gebiete im ganzen Land untersucht. Dabei
wurde festgestellt, dass Todesfälle durch Lungen-
und Darmkrebs in der Gegend »exzessiv« zu-
nähmen, ebenso Atemwegserkrankungen und
Erkrankungen des Verdauungsapparats.
An jedem Monatsende verliest der Pfarrer
bei der Predigt die Namen neuer Krebstoter
Für viele der etwa 180.000 Menschen, die im
Viereck des Todes leben, kommt die neue poli-
tische Aufmerksamkeit jedoch sehr spät. »Wenn
ich an Krebs sterben sollte, wäre das vorsätzliche
Tötung!«, donnert Pater Prisutto in seiner Kir-
che. Er hat genügend Gründe, zu glauben, dass
die Krankheit eines Tages auch über ihn herein-
brechen wird. Der Krebs hat schließlich schon
viele Bewohner der Region dahingerafft. »Im
Viereck hat jeder inzwischen einen Angehörigen,
der an Krebs gestorben ist«, sagt er. Sein Bruder
sei ihm zum Opfer gefallen, auch eine seiner
beiden Schwestern, während die andere derzeit
um ihr Leben kämpfe.
Mit ernster Miene und eingezogenen Schultern
deutet Pater Prisutto auf eine große Tafel am Ein-
gang seiner Kirche. Lange Listen mit Namen und
Daten hängen dort, es sind fast Tausend. Darüber
ein Schild mit der Aufschrift »Platz der Märtyrer
des Krebses«. Seit fünf Jahren, an jedem 28. eines
Monats, verliest der Pfarrer während seiner Predigt
die Namen der neu verstorbenen Personen, ihr
Alter und die Art des Krebses. »Um die Opfer nicht
zu vergessen und das Bewusstsein der Bewohner zu
wecken, die die Augen vor dem Sichausbreiten der
Krankheit lieber verschließen«, erklärt er.
Denn auch wenn es überraschen mag – der
Schicksalsglaube hat die Oberhand im Viereck
des Todes. »Besser an Krebs sterben als verhun-
gern« ist ein zynischer Slogan der Bewohner, die
um ihre Arbeit fürchten. Die Resignation sei die
Folge einer »permanenten Erpressung am Ar-
beitsplatz, in einer von Arbeitslosigkeit betroffe-
nen Gesellschaft«, sagt Giusi Nané, Rechtsan-
wältin in Syrakus und Mitglied des Komitees
»Stop Veleni«. So wie fast jede Familie einen
Krebstoten beklage, zähle sie oft auch einen Fa-
brikangestellten, sagt die Juristin.
Die Giftstoffe sind überall. Auf der Halbinsel
Magnisi in der Nähe von Priolo wurden vor Jahr-
zehnten chemischen Schlacken aus einem der
nahe gelegenen Werke abgelagert. Die Abfälle
wurden damals unter Plastikplanen zurückgelas-
sen, die von Pfosten gehalten wurden. Regen
und Sonne haben die Abdeckung längst ver-
wittern lassen. »Der Wind verteilt die Staub-
teilchen in der Luft«, sagt Pippo Giaquinta vom
lokalen Büro der Umweltorganisation Legam-
bien te. Mit dem Finger deutet er auf einen
Strand in weniger als 500 Meter Entfernung, an
dem zwei kleine Mädchen vergnügt in Wasser-
nähe Sand sieben.
Was tun mit den Altlasten von Unternehmen,
die schon lange nicht mehr existieren?
Im Wasser ist es noch schlimmer. Schon 2003
wies die Biologin Mara Nicotra, die damals an der
Universität von Catania arbeitete, in den Mee-
ressedimenten eine Quecksilberkonzentration von
mehr als 22 Milligramm pro Kilo nach. Die ita-
lienische Umweltbehörde Ispra ermittelte sogar
einen dreimal so hohen Wert – dabei liegt die
maximal tolerable Konzentration bei gerade mal
einem Milligramm. Schätzungen gehen davon
aus, dass zwischen 1958 und 1980 bis zu 500
Tonnen Quecksilber ins Meer gelangt sein könn-
ten. Das wäre »eine größere Menge als die, die in
der Bucht von Minamata angespült worden war,
das waren schätzungsweise ungefähr 400 Ton-
nen«, sagt Nicotra. Bis in die Sechzigerjahre hi-
nein waren in der japanischen Küstenstadt mehr
als zweitausend Menschen gestorben, nachdem
sie mit Quecksilber vergiftete Fische gegessen
hatten. Der Skandal führte zur Verabschiedung
der Minamata-Konvention durch die Vereinten
Nationen, um die Gefahren des Schwermetalls
einzudämmen.
Als eine wesentliche Quelle der Verschmutzung
galt stets das damalige Chemiewerk von Monte-
dison. Das Unternehmen existiert allerdings schon
lange nicht mehr, das Werk gehört mittlerweile dem
italienischen Energie- und Erdölkonzern ENI. Auf
Nachfrage beruft sich ENI heute darauf, dass die
italienische Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsver-
fahren in der Sache schon 2007 eingestellt habe.
»Die damals verfügbaren technischen Daten schlos-
sen eine Haftung des Unternehmens für die in der
Bucht von Augusta festgestellte Kontamination
aus«, teilt die Pressestelle mit und weist jede Ver-
antwortung für die Quecksilbereinträge von sich.
Der Staatsanwalt, der das Verfahren damals
einstellte, heißt Maurizio Musco. Doch Musco
wurde im Frühjahr 2019 durch den Consiglio
Superiore della Magistratura (CSM) – ein Selbst-
verwaltungsorgan der italienischen Justiz – vom
Dienst als Staatsanwalt suspendiert. Pressebe-
richten zufolge soll er seit Langem eine enge per-
sönliche Freundschaft zu einem hochrangigen
ENI-Juristen gehabt und mit diesem auch ge-
schäftlich verbunden gewesen sein. Hat ihn das
in seiner Entscheidung möglicherweise beein-
flusst? »Was für eine unsinnige Behauptung!«,
sagte Musco damals, wies den Vorwurf zurück
und ging juristisch gegen die Suspendierung des
CSM vor. Eine Entscheidung darüber steht aller-
dings noch aus.
Was das alles für die Menschen in Syrakus und
Umgebung bedeutet? Eigentlich müsste die ge-
samte Gegend komplett saniert werden, sagt
Gesundheitsdirektor Madeddu vom Krebsregister.
Doch die Industrie will davon nicht mehr viel wissen.
»Seit 2000 hat die Branche bereits fast vier Milliarden
Euro in den Umweltschutz in Sizilien investiert«, sagt
Diego Bivona, der Vorsitzende des örtlichen Arbeit-
geberverbands Confindustria Siracusa und damit so
etwas wie die Stimme der petrochemischen Industrie.
Weiter würden seine Mitgliedsunternehmen nicht
gehen. Das viele Geld habe dazu gedient, »60 Prozent
der verseuchten Anlagen, die sich auf privatem Ter-
rain der Industrie befinden, zu sanieren«. Demgegen-
über beklagt er, dass die öffentliche Hand für die
Bereiche, für die sie selbst verantwortlich ist, »nichts
getan« habe.
Immerhin traut sich nun auch die Politik, ihr
Wort gegen die Industrie zu erheben. Im Mai
2019 forderte der Präsident der Region Sizilien,
Nello Musumeci, die Fabriken im Todesviereck zu
einer »industriellen Umkehr« auf. Er legte einen
Plan zur Luftreinhaltung vor, gegen den sich In-
dustrievertreter vor dem Verwaltungsgericht Palermo
allerdings wehren. Die Stadtverwaltungen Augus-
ta und Syrakus unterstützen Musumeci in dem
Verfahren. Seit auch der italienische Umwelt-
minister Ende 2019 so klare Worte fand, schöpfen
die Menschen etwas Hoffnung. »Es bleibt zu hof-
fen, dass diese Initiativen nicht Neuauflagen der
bisherigen Theaterstücke sind«, sagt Umweltakti-
vist Giaquinta.
Übersetzt aus dem Französischen von Andrea Bazzato
Erdölraffinerie bei Priolo (links),
Szenen aus der Hafenstadt Augusta
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