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mke Wübbenhorst hat keinen eigenen
Kühlschrank mehr, kein Bett, keinen Tisch,
keinen Stuhl, nicht einmal eine Wohnung.
Sie hat eine Begleiterin, die Baila heißt, und
ein Auto, in dem die Dalmatiner-Hündin
einen festen Platz hat, ein flauschiges
Hunde bett hinten im Wagen. Dieser Ort ist
für Baila reserviert, alles andere ist vorübergehend
und verhandelbar geworden. Das Leben der 31-jäh-
rigen Imke Wübbenhorst passt jetzt in eine Reiseta-
sche, die auf dem Rücksitz des Autos liegt. Ob sich
ihr Wunsch einmal erfüllen wird: hauptberufliche
Trainerin einer Fußballmannschaft? Sie zieht durchs
Land, von Praktikum zu Praktikum, und hofft da-
rauf. Sie sagt: »Ohne Fußball wäre mein Leben leer.«
Imke Wübbenhorst war die erste Frau in der fünften
Männer-Fußballliga, als sie den BV Cloppenburg in
Niedersachsen trainierte. So weit hatte es zuvor keine
Frau im deutschen Männerfußball gebracht. In Zei-
tungen wurde sie als Sensation gefeiert. Aber die Sache
ging nicht gut aus, und Wübbenhorst beendete im Mai
vergangenen Jahres den Job. Ein halbes Jahr lang war
sie Trainerin in der Oberliga, dann war es aus. Nun
muss sie lernen, mit wenig Geld auszukommen.
Von ihrer Stelle als Sport- und Biologielehrerin am
Gymnasium der Stadt Bad Zwischenahn hat sie sich
beurlauben lassen, weil sie unbedingt wieder Trainerin
werden will. Sie hat an der Sportschule Hennef in der
Nähe von Bonn einen Trainerlehrgang angefangen,
die Ausbildung kostet sie fast 15.000 Euro Gebühr und
läuft noch bis April. Mit ihrer Trainer-A-Lizenz darf
sie zwar auch heute im Männerfußball arbeiten, aber
nur bis zur vierten Liga. Will sie es in eine höhere Spiel-
klasse schaffen, braucht sie dafür unbedingt die Aus-
bildung zum Fußballlehrer. Im Männerfußball will sie
sich durchsetzen, weil dort etwas zu haben ist, das ihr
viel bedeutet: gesellschaftliche Anerkennung und ge-
nug Geld zum Leben. Dann könnte sie sich ganz auf
den Fußball konzentrieren. »Ich würde auch in der
vierten Liga anfangen«, sagt sie.
Im Augenblick finanziert sie ihr Leben mit einem
Stipendium des europäischen Fußballverbandes Uefa,
12.000 Euro im Jahr, und sie übernachtet oft bei
Freunden, die für sie auch kochen. Miete kann sie sich
nicht mehr leisten. Vieles kann sie sich nicht mehr
leisten. Sie hat ihre Wohnung in Cloppenburg auf-
gegeben und alle Möbel verkauft. Hin und wieder fragt
sie sich: »Muss ich demnächst kellnern gehen?«
Imke Wübbenhorst ist 16 Jahre alt, als sie aus ihrer
Heimatstadt Aurich wegzieht, um beim Hamburger
Sport-Verein zu spielen. Sie macht schnell auf sich auf-
merksam, Hamburger Journalisten wählen sie zum
»Sporttalent des Jahres«. Mit der Nationalmannschaft
der U19 wird sie zweimal Europameisterin, wechselt
nach Huelva in Spanien, danach zum BV Cloppen-
burg. Im Jahr 2016 wird sie Trainerin des Frauenteams.
Die sportliche Leiterin, Tanja Schulte, sagt über Imke
Wübbenhorst: »Sie kann Leute begeistern. Und sie
wollte weiterkommen. Deswegen war der Wechsel zum
Herrenfußball der logische Schritt. Es war ihr klar, dass
sie ein Himmelfahrtskommando übernahm.«
Im Dezember des Jahres 2018 steckt der Verein,
wieder einmal, in einer schweren Krise. Der Vorstand
ist kein Vorstand mehr, sondern ein gerichtlich be-
stellter Notvorstand. Jeder redet mit, und jeder redet
hinein. Der Trainer ist gegangen, die Mannschaft steht
auf dem letzten Tabellenplatz, ein wichtiger Sponsor
ist abgesprungen. Gehälter werden nur noch unregel-
mäßig gezahlt, die Spiele ziehen nur noch 200 bis 300
Zuschauer an, und die Kasse ist fast leer. Die besten
Spieler werden aufgefordert, sich einen anderen Verein
zu suchen, damit der BV Cloppenburg auch noch die
wenigen Hundert Euro spart, die dort ein Fußballer
im Monat verdient. So ist die Lage, als Imke Wübben-
horst Trainerin der Männer werden will. Schon vorher
hat sie es bei anderen Vereinen probiert.
»Sie sind ja eine Frau«, habe das Vorstandsmitglied
eines Clubs ihr geantwortet. »So weit sind wir noch
nicht.« Absage. »Du bist ein hübsches Mädchen. Was
willst du hier?« Absage. »Ich würde dich ja einstellen,
aber die anderen im Vorstand würden ihr Amt nieder-
legen, wenn ich das tue.« Absage. »Bei uns spielen
Muslime und auch Leute aus unteren Schichten. Die
rasten aus, wenn du einen von denen nicht aufstellst.
Die sagen dann zu dir: ›Du Fotze.‹ Das wollen wir
nicht.« Absage. Ein Mann jedoch setzt sich für Imke
Wübbenhorst ein, Herbert Schröder, der damalige
Notvorstand des BV Cloppenburg, ein Rentner. »Die
Imke kennen wir. Die nehmen wir.« So habe er sich
damals ausgedrückt, sagt Schröder heute. »Der Fuß-
ball hat einige Machos. Das ist mir aber egal. Imke ist
die Beste. Ich weiß, dass es Widerstände gibt, aber
Imke hat ein breites Kreuz.«
Als die Trainerin Wübbenhorst das erste Mal vor
der Mannschaft steht, bittet sie die Spieler, sie sollen
sie Imke nennen, »Coach« oder »Trainer«. Noch vor
dem ersten Spiel wirft der bisherige Co-Trainer hin,
weil er – wie er heute sagt – »selber Trainer werden
wollte und nicht unter einer Frau arbeiten will. Ich
mache doch nicht den Karussellbremser. Ich bin old-
school.« Das kümmert Imke Wübbenhorst nicht, weil
sie den Respekt der meisten anderen spürt. Man kann
fragen, wen man will – Spieler, den Betreuer des Teams,
den Physiotherapeuten: Sie alle loben Wübbenhorst
noch immer in höchsten Tönen.
Für eine Aufwandsentschädigung von monatlich
450 Euro fährt sie vier- bis fünfmal in der Woche vom
Gymnasium in Bad Zwischenahn zum Training in
Cloppenburg, eine Autostunde hin, eine Autostunde
zurück. Der Verein hat nicht einmal Geld für Kreide,
und so läuft die Trainerin vor Spielen über den Platz
und stellt Hütchen auf, damit die Fußballer die Be-
grenzungen des Feldes erkennen.
Als sich die sportliche Lage nicht bessert, geht auf
der Tribüne des Fußballstadions das Raunen und
Grummeln los. Die Mannschaft hat ein Unentschieden
gegen einen viel stärkeren Gegner erzielt, aber das fällt
für die Kritiker nicht ins Gewicht, weil der Club oft
verliert. Viele Spieler mögen die Trainerin, auch weil
sie sich durchzusetzen weiß. Nimmt sich einer be-
sonders wichtig, sagt sie manchmal: »Hör auf, hier
herumzupimmeln.« Begeht einer viele Fouls, stellt sie
ihn unter vier Augen zur Rede. Einige Spieler nennen
sie »den besten Trainer, den wir je hatten«. Der Mann-
schaftsbetreuer sagt: »Die Jungs haben wieder Spaß am
Fußball.« Aber die Zustände im Verein sind so chao-
tisch, dass Imke Wübbenhorst kein Wunder gelingt.
Die Mannschaft gewinnt in der ganzen Saison nur
einmal und spielt gegen den Abstieg in die Landesliga
Foto: Roman Pawlowski für DIE ZEIT Weser-Ems. Im kleinen Kreis soll ein Vereinsfunk-
Die mit der Schwanzlänge
Imke Wübbenhorst will Profi-Trainerin im Männerfußball werden. Gegen Sexismus wehrt sie sich mit schlagfertigen Sprüchen – ihren Job
in der Oberliga war sie nach einem halben Jahr trotzdem los. Jetzt will sie es erst recht wissen VON STEFAN WILLEKE
DIE ERSTE ... FUSSBALLTRAINERIN DER MÄNNER-OBERLIGA
tionär bereits einen folgenreichen Satz ausgesprochen
haben, der die Trainerin erreicht und den er später nie
gesagt haben will: »Imke Wübbenhorst ist die dümmste
Entscheidung in der hundertjährigen Vereinsgeschich-
te.« Offiziell werden solche Äußerungen nie, weil sich
keiner der Männer im Verein traut, sich zur Gegner-
schaft zu bekennen. Nie sagt einer zu ihr: »Wir wollen
dich nicht.« Immer heißt es: »Du bist super, Imke.«
Aber am Rande von Fußballspielen entgeht Imke
Wübbenhorsts Eltern nicht, dass Funktionäre des Ver-
eins über die Trainerin lästern. »Imke rannte gegen
Mauern«, sagt heute Tanja Schulte, die sportliche
Leiterin im Verein. »Aber über diese Widerstände
wurde immer nur hinter vorgehaltener Hand gespro-
chen. Charakterlich ist das natürlich eine Katastrophe.«
Die Fans der Mannschaft hätten sie nicht anders
behandelt als einen männlichen Trainer, sagt Imke
Wübbenhorst. »Mit dem Umgangston auf dem Platz
bin ich aufgewachsen. Mein Vater hat Fußball gespielt,
meine Mutter, mein Bruder auch.« Von Spielern geg-
nerischer Mannschaften hörte sie als Jugendliche oft
den Satz: »Die können nichts, die haben ein Mädchen
dabei.« Das widerlegte sie auf dem Platz. Heute sagt
sie: »Ob ich Autorität habe oder nicht, das liegt an
meinen Fähigkeiten, nicht daran, ob ich ein Mann oder
eine Frau bin. Ich halte mich nicht für besonders sen-
sibel.« Als ein Journalist wissen will, was der Unter-
schied zwischen Spielern und Spielerinnen sei, sagt sie:
»Es gibt keinen, nur Frauen duschen länger.«
Vor einem Spiel fragt ein Zuschauer die Trainerin:
»Imke, lässt du dir jetzt ab und zu einen Kolben schme-
cken?« – »Nicht nur einen, mehrere Kolben«, habe sie
entgegnet. Das ist ihre Art, dumme Frotzeleien abzu-
wehren. Darin hat sie es zu einer gewissen Meisterschaft
gebracht. Ihre Gefühle kann sie gut verbergen. Es liegt
ihr nicht, sich als verletzlich darzustellen.
Als ein Geschäftsmann aus Cloppenburg sie in
einer WhatsApp-Nachricht fragt, ob sie sich eine
Warnsirene auf den Kopf setze, bevor sie die Männer-
umkleide betrete, antwortet sie, versehen mit Smileys:
»Ich bin Profi. Ich stelle nach Schwanzlänge auf.« Ein
Journalist berichtet darüber, danach wird der ironische
Satz überall zitiert. Reporter aus England, Brasilien
und den USA melden sich bei ihr. Der Spruch mit der
Schwanzlänge, das ist von nun an ihr Markenzeichen.
In Wahrheit gibt es in der Umkleide kein Problem
mit ihr. Imke Wübbenhorst öffnet die Tür einen Spalt
und ruft hinein: »Kann ich reinkommen? Seid ihr
umgezogen?« Das ist es auch schon, und keiner der
Jungs beschwert sich darüber. Die Mannschaft ist ex-
trem jung, nur wenige Spieler sind älter als 22 Jahre.
Sie sehnen sich nach Erfolg. Das verbindet sie mit
Imke Wübbenhorst, die sich im Trainerjob unbedingt
beweisen will. Nur Journalisten stellen ihr immer
wieder eine Frage, die Imke Wübbenhorst mehr und
mehr auf die Nerven geht – die Frauenfrage. Keine
symbolische Erhöhung kann hoch genug sein, der
Tagesspiegel nennt das Stadion in Cloppenburg schon
»das Epizentrum einer kickenden Emanzipationsbe-
wegung«. Imke Wübbenhorst lehnt Anfragen von
Fernsehsendern ab, als ihr der Rummel zu viel wird.
Sie sagt: »Ich bin keine Feministin. Über Frauenfragen
im Fußball habe ich bislang nie nachdenken müssen.«
Wer sich schließlich von wem trennt, der Verein
von Imke Wübbenhorst oder sie vom Verein, ist eine
Frage der Interpretation. Sie tut dem Vorstand einen
Gefallen, als sie der Entlassung zuvorkommt und von
sich aus geht. Man einigt sich auf die gütliche Formu-
lierung, dass Imke Wübbenhorst einen Trainerlehrgang
in Hennef beginnen wolle, der ihr für den BV Clop-
penburg zu wenig Zeit lasse. So muss niemand aus-
sprechen, was viele wissen: Das Misstrauen hat gesiegt.
Noch immer hat sie ein Ziel vor Augen, das sie sich
nicht ausreden lässt. Fußballtrainerin. »Jage ich etwas
hinterher, das die Gesellschaft nicht akzeptiert?«, fragt
sie sich manchmal. Aber die Zweifel haben bei ihr
keine großen Überlebenschancen, weil sie an ihren
Träumen festhält. »Ich kann neu anfangen. Ich bin
überhaupt nicht gebunden«, sagt sie, »ich habe keinen
Mann und keine Kinder. Um als Trainerin genommen
zu werden, muss ich überqualifiziert sein.«
Mit ihrer Hündin Baila verbringt sie viel Zeit in der
Sportschule, und sie fährt mit ihr zu einem dreiwöchi-
gen Praktikum bei Julian Nagelsmann, dem Trainer
des Bundesligavereins RB Leipzig. In einem Rhetorik-
seminar lernt sie, dass sie in der Öffentlichkeit auf po-
litische Äußerungen verzichten und auf einfältige
Reporterfragen mit intelligenten Gegenfragen reagieren
soll. An einem festlichen Abend in Nürnberg verleiht
ihr die Akademie für Fußball-Kultur den Preis für den
besten Spruch des Jahres, den mit der Schwanzlänge.
Weil sie sparen muss, kauft sie sich keine Kleidung
mehr, keine Schuhe. Mit einem Mal spürt sie, wie
teuer es sein kann, im Biomarkt einzukaufen. Imke
Wübbenhorst freut sich über Beträge, über die sie sich
als Beamtin kaum Gedanken gemacht hat – die Rück-
zahlung ihrer Wohnungskaution, eine Steuererstat-
tung. Ihr Vater, ein leitender Beamter in einer Landes-
behörde, unterstützt sie mit 800 Euro im Monat. Gern
würde er sie vor der ungewissen Zukunft bewahren.
Er sagt: »Der Männerfußball ist ein Haifischbecken.«
An einem frostigen Wintertag sitzt Imke Wübben-
horst in einem Zimmer des Fußballvereins VfB Lübeck
und arbeitet an ihrem Laptop. Mit dem Trainer ist sie
befreundet, er teilt eine Weile das Büro mit ihr. Eine
flackernde Neonleuchte, das Ticken einer Wanduhr.
Imke Wübbenhorst denkt viel über die Abschlussarbeit
an der Sportschule nach – ihre Philosophie des Fuß-
balls. Ein amerikanischer Trainer habe mal gesagt: » It’s
very hard for someone to be too much of a jerk when he’s
around a bunch of good people.« Jemand, der von guten
Menschen umgeben ist, tut sich schwer, ein Idiot zu
sein. So blicke auch sie auf die Welt. Eine familiäre
Atmosphäre fördere den Erfolg. Fühle sich jemand im
Verein wohl, widerstehe er vielleicht dem besser be-
zahlten Angebot eines Konkurrenten. »Wenn ich von
Spielern Respekt gegenüber anderen verlange, muss
ich selbst Respekt zeigen. Ich muss auch den Busfahrer
grüßen«, sagt sie. »Und die Jungs müssen sich auch mal
austoben dürfen. Man muss sie bei Laune halten.«
In Cloppenburg versucht das jetzt jemand anders.
Im Verein geht es noch chaotischer als früher zu, Angst
vor der Auflösung der Mannschaft macht sich breit,
aber das ist wieder eine Angelegenheit der Altgedien-
ten. Der neue Trainer ist ein Mann. Es sieht so aus, als
sei Imke Wübbenhorst dort nicht nur die erste Frau
gewesen, sondern auch weiterhin die einzige.
Z E I T-GRAFIK/Quelle: Fifa
Der Vergleich
400 Mio.
Dollar betrug das
Preisgeld
der Männer-WM
2018
30 Mio.
Dollar betrug das Preisgeld
der Frauen-WM 2019
Nächste Woche in dieser Serie: Marion Kiechle, die
erste Gynäkologieprofessorin in Deutschland
Imke Wübbenhorst
2006 und 2007
U19-Europameisterin als
Spielerin
2016
Trainerin der Frauenmann-
schaft beim BV Cloppenburg
2018
Trainerin der Männer, ein
halbes Jahr später ist Schluss
2019
Beginn des Trainerlehrgangs
an der Sportschule Hennef
30 WIRTSCHAFT 30. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6