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s war bereits erwartet worden. Nach
Fehlalarmen in Frankfurt und Berlin
ist das Coronavirus aus dem chinesi-
schen Wuhan am Dienstag erstmals in
Deutschland nachgewiesen worden.
Ein 33-jähriger Mann aus dem Land-
kreis Starnberg, Mitarbeiter eines in-
ternational tätigen Automobilzulieferers, hatte sich bei
einer aus China angereisten Kollegin angesteckt. Und
diese vermutlich bei ihren Eltern – die aus der Region
Wuhan stammen. Sofort trat die »Task Force Infektio-
logie« des Landesamts für Gesundheit und Lebens-
mittelsicherheit auf den Plan. Der Patient sei isoliert
und in einem klinisch guten Zustand, meldete die
Behörde. Am Dienstagabend wurden drei weitere In-
fektionen bekannt, die nach Auskunft des bayerischen
Gesundheitsministeriums in einem engen Zusammen-
hang mit dem ersten gemeldeten Fall stehen.
Die demonstrative Ruhe der Pressekonferenz in
München steht im Kontrast zu den Panikkäufen von
Atemmasken in den Apotheken der Landeshauptstadt,
die die lokale Abendzeitung am Dienstag meldete. Besser
zur Aufregung, die das Virus in den sozialen Medien
erzeugt, passen die drastischen Maßnahmen der Behör-
den in China. Dort sind mindestens dreizehn Groß-
städte abgeriegelt worden. Mehr als 45 Millionen Men-
schen unterliegen staatlich verordneten Reisebeschrän-
kungen. In Peking ist die Verbotene Stadt, in Shanghai
das Disneyland geschlossen. Teile der Chinesischen
Mauer sind gesperrt und die Schulferien verlängert wor-
den. Ist das sinnvolle Seuchenpolitik, oder schüren die
massiven Eingriffe die aufkeimende Panik erst?
Das Coronavirus 2019-nCoV ist – das zeigen erste
Daten – klinisch vermutlich harmloser als seine berüch-
tigten Vorgänger Sars und Mers. Für die chinesische
Führung aber ist es ein hochpolitisches Phänomen. Und
für das deutsche Gesundheitssystem ein womöglich ent-
scheidender Stresstest.
Repression, Überwachung, Zensur, so stellt sich das
Land unter Staats- und Parteichef Xi Jinping dar. Pro-
teste in Hongkong, Protestwahlen in Taiwan, Hundert-
tausende Uiguren in Lagern gefangen, Chinas autoritärer
Staatskapitalismus hat nur noch wenig mit dem Alter-
nativmodell zu tun, das mit seinem rasanten Wachstum
und seinem strategischen Denken den Westen das Fürch-
ten lehrte. Käme nun Systemversagen beim Kampf gegen
das Virus hinzu, Chinas Ruf wäre gänzlich ruiniert.
Als zum Jahreswechsel bekannt wurde, dass in der
chinesischen Stadt Wuhan ein neues Coronavirus bei
Menschen eine schwere Lungenent-
zündung auslöst, meldeten die Be-
hörden zunächst noch beruhigend, der
Erreger werde nicht von Mensch zu
Mensch übertragen. Bald wussten es
die Experten besser. Bei Redaktions-
schluss in der Nacht zum Mittwoch
stand die offizielle Zählung in China
bei 4610 Infizierten. 83 Patienten in
17 weiteren Ländern waren betroffen
- vier in Deutschland. 106 Menschen
waren gestorben, alle in China, viele
von ihnen vorerkrankt, alt oder ge-
schwächt, die meisten aus der Provinz
Hubei mit ihrer Hauptstadt Wuhan.
Die Führung in Peking steht nun
vor einer doppelten Herausforderung:
Sie muss nicht nur der eigenen Bevöl-
kerung das Gefühl von Sicherheit ge-
ben, sie muss auch vor der Weltöffent-
lichkeit den Eindruck vermitteln, die
Lage im Griff zu haben – und zwar
besser als beim verheerenden Sars-Ausbruch 2003. Da-
mals leugnete und vertuschte die Kommunistische Partei
wochenlang das Ausmaß der viralen Bedrohung. Heute
lobt Tedros Ghebreyesus, Generaldirektor der Weltge-
sundheitsorganisation WHO, das Land für seine Trans-
parenz, den offenen Umgang mit Daten und die ent-
schlossenen Gegenmaßnahmen.
In das Lob stimmen nicht alle ein. Im Kampf gegen
2019-nCoV zeigt sich das Bild eines Staates, der vor
drakonischen Maßnahmen nicht zurückschreckt – und
Transparenz auch als Mittel sozialer Kontrolle einsetzt.
Per SMS informieren Gesundheitsbehörden ganze
Wohnblöcke, oft Hunderte Familien, über Infektions-
fälle in der Nachbarschaft – mit offener Nennung von
Namen, Adressen und Wohnungsnummern nebst be-
handelnder Klinik. Per Telefonanruf folgt dann die
keinen Widerspruch duldende Aufforderung, die Woh-
nung in den nächsten vier Tagen nicht zu verlassen. Der
Staat zeigt demonstrative Entschlos-
senheit. Während in unserer föderalen
Demokratie beim Thema Gesund-
heitsvorsorge und Seuchenbekämp-
fung unterschiedlichste Ämter und
Behörden um Zuständigkeiten und
Verantwortlichkeiten rangeln, errichtet
die Volksrepublik in wenigen Tagen in
Wuhan ein neues Krankenhaus mit
1000 Betten, das schon am 3. Februar
eröffnen soll. Vorarbeiten für eine
zweite Klinik mit 1300 Betten haben
bereits begonnen.
In Deutschland haben schon die
jährlich wiederkehrenden Grippewel-
len mehrfach zu Spannungen zwischen
den Behörden geführt, etwa als es um
die Beschaffung von Medikamenten
oder Impfstoffen ging. Hat Deutsch-
land aus seinen Fehlern etwas gelernt?
Ein Risiko für Bayerns Bürger be-
stehe nicht, vermeldete zackig das zu-
ständige Landesamt für Gesundheit und Lebensmittel-
sicherheit. Auch 400 Kilometer weiter nördlich, in Frank-
furt am Main, ist man sich sicher, dass diesmal alles
rundläuft. Das Flughafendrehkreuz war schon einmal
Einfallstor für ein Coronavirus. Im März 2003 befand
sich ein Arzt aus Singapur im Anflug auf Frankfurt, als
er vermutete, er könnte sich mit dem Sars-Erreger infi-
ziert haben. Damals waren Holger Rabenau vom Institut
für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum
Frankfurt und sein Kollege, der Infektiologe Timo Wolf,
an dem Fall beteiligt. Beide sind noch heute im Amt.
»2003 hatten wir keine Diagnostik«, sagt Rabenau. »Wir
mussten sie erst aufbauen, ohne zu wissen, wie gefährlich
das Virus ist und wie wir damit umgehen müssen.«
Diesmal gab es schon Mitte Januar, gerade 16 Tage nach
der ersten offiziellen Meldung des neuen Erregers, einen
verlässlichen Test, entwickelt an der Berliner Charité.
Und noch etwas habe sich in den 17 Jahren verändert,
sagt Timo Wolf: »Es gibt internationale Netzwerke, über
die zum Beispiel amerikanische Forscher Kontakt zu
Krankenhäusern in Wuhan halten.« Chinesische Wissen-
schaftler seien Teil der globalen Forscher-Community.
Der Austausch schafft Vertrauen. »Wir fühlen uns ziem-
lich gut vorbereitet«, sagt Holger Rabenau.
Deutschland hat aus den wiederkehrenden Krisen-
situationen offenbar Lehren gezogen im Kampf gegen
aggressive neue Viren. Seit 2014 stehen die Seuchen-
experten miteinander über Stakob in Verbindung, den
beim Robert-Koch-Institut (RKI) angesiedelten Ständi-
gen Arbeitskreis der Kompetenz- und Behandlungszen-
tren für Krankheiten durch hochpathogene Erreger. An
ihm sind sieben deutsche Metropolen beteiligt.
Noch ist der mögliche Verlauf der Epidemie un-
klar: Solange nur einzelne erkrankte Reisende in
Deutschland landen, ist die Verbreitung des Virus ver-
mutlich schnell gestoppt. Was aber, wenn 2019-nCoV
viele Menschen infiziert, die zunächst kaum Sympto-
me zeigen, und sich der Erreger so unbemerkt über
das ganze Land verbreitet? Seit 2005 soll in einem
solchen Krisenfall ein nationaler Pandemieplan hel-
fen, der regelmäßig überarbeitet wird, zuletzt 2016.
Schon vor Tagen hat das Robert Koch-Institut (RKI)
Pläne veröffentlicht, was Ärzte und Gesundheitsämter
im Falle eines Coronavirus-Falles tun sollen. »Ich bin
mir sicher, dass die Antwort flächendeckend klappt«,
sagt Lars Schaade, Vizepräsident des RKI. »Die Zu-
ständigkeiten sind sehr klar geregelt.«
Besonders wichtig dürfte es sein, positiv getestete
Fälle früh zu melden. Die Meldefristen bei Ausbrüchen
WISSEN
TITELTHEMA: DAS NEUE CORONAVIRUS
Der Stresstest
Das neue Coronavirus 2019-nCoV verunsichert Menschen weltweit. Ist Deutschland gut vorbereitet?
VON HARRO ALBRECHT UND JAKOB SIMMANK
Fortsetzung auf S.32
Dimensionen eines
Ausbruchs
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Wirtschaft (Seite 33)
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Unsichtbarer
Fei nd
Leere Autobahnen in Wuhan, Coronavirus im Elektronenmikroskop
Fotos (Ausschnitte): imago/ZUMA Press; Centre For Infections/Public Health England/Science Photo Library (r.)
- JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6 31