Der Standard - 21.03.2020

(Ron) #1

6 |SA./SO.,21./22.MÄRZ2020DAgenda ERSTANDARDWOCHENENDE


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reitag, der 13. März


  1. Kurz nach 14
    Uhr tritt Sebastian
    KurzansRednerpult
    im Bundeskanzler-
    amt. An seiner Seite,
    wie in den Tagen zu-
    vor und danach so oft, Gesund-
    heitsminister Rudolf Anschober
    sowie Innenminister Karl Neham-
    mer. Der Kanzler rückt seine
    Unterlagen zurecht, holt tief Luft
    undbeginnt:„SehrgeehrteDamen
    und Herren, liebe Österreicherin-
    nen und Österreicher.“ Kurz er-
    klärt, dass das Tiroler Paznauntal
    und St. Anton am Arlberg auf-
    grund der besonderen Betroffen-
    heit durch das Coronavirus „ab so-
    fort isoliert werden“.
    In der Tiroler Wintersportidylle
    500 Kilometer westlich von Wien
    setzt ab diesem Zeitpunkt Chaos
    ein. „Um 14.10 Uhr habe ich eine
    Nachricht von einem Freund aus
    Wien erhalten: ,Ihr seid’s unter
    Quarantäne?!‘“, erzählt ein Hote-
    lier aus St. Anton, wie er den Tag
    erlebt hat. Bevor er realisieren
    konnte, was hier gerade passierte,
    stürmten die ersten Gäste in die
    Lobby. „Die kamen in Skischuhen
    direkt von der Piste und waren in
    Panik.“ Alle wollten weg, so
    schnell wie möglich. „Wieso er-


fahren wir sowas aus dem Fernse-
hen?“, klagt der Hotelier in Rich-
tung der Politiker.
Bis zum Auftritt des Kanzlers
hatte man die Tiroler im Glauben
gelassen, dass sie die laufende
Wintersaison erst am Sonntag,
den 15.März,beenden sollten. Die
geordnete Abreise von Gästen wie
Mitarbeitern sollte so sicherge-
stellt werden. Davon konnte nun
keine Rede mehr sein. „Keiner hat-
te nähere Informationen, daher
wollten plötzlichalle weg“, so der
Hotelier. In St. Anton verbreitete
sich rasend schnell das Gerücht,
dass jeder, der bleibe,mindestens
zwei Wochen festsitzen werde.

Raufereien und Schreiduelle
Der Railjet, der den 67-jährigen
Lech-Urlauber Lukas F. von St.
Anton aus um 15.03 Uhr nach
Wien hätte bringen sollen, hielt
nicht mehr im Quarantänegebiet.
Hunderte versuchten daraufhin,
mit Bussen oder Taxis die „Seu-
chenzone“ hinter dem Ortsschild
zu verlassen. F. hatte genug von
den Raufereien und Schreiduel-
len am Busbahnhof, wollte die
Nacht über bleiben. Man nehme
aber niemanden auf, den man
zweiWochenlanggratisdurchfüt-
tern und beherbergen müsse, be-

schreibt er die Abweisung durch
einen Hotelier. Schließlich fuhren
abends doch noch einige Busse
über die Dörfer bis nach Landeck.
Abstand zu halten war im vollbe-
setzten Fahrzeug aber undenkbar.
Im Nachhinein gesehen hätte
sich dieses Chaos vermeiden las-
sen. Im Nachhinein gesehen weiß
man immer mehr. Mit diesem
Mantra kontern die Tiroler Behör-
den, Seilbahner und Hoteliers
derzeit jegliche Kritik. Doch auch
wenn die Verantwortlichen seit
Wochen unter Dauerstress stehen,
muss ihr Handeln schon jetzt hin-
terfragt werden.
Denn es waren keine vereinzel-
ten Fehlentscheidungen, die Tirol
neben dem chinesischen Wuhan,
dem Iran und der norditalieni-
schen Lombardei zum weltweiten
Corona-Hotspot machten. Die Re-
konstruktion der Ereignisse deu-
tet auf ein Systemversagen hin.
Erst wurde unter den Tisch ge-
kehrt, obwohl die Fakten längst
klar waren. Und dann zog offen-
bar jemand panisch die Reißleine.
Die beiden ersten offiziellen Co-
rona-Fälle in Tirol wurden am
Dienstag, den 25. Februar, be-
kannt, ein aus Italien stammendes
Pärchen. Sie arbeitet als Rezeptio-
nistin im Innsbrucker Hotel Euro-

pa. Zu diesem Zeitpunkt hatte das
Virus die Welt bereits voll im
Griff. Dennoch handelten die Be-
hörden nur zögerlich. Als Polizei
aufmarschierte, um das Hotel
unter Quarantäne zu stellen, war-
teten davor bereits Journalisten.
Die Szene, als während einer TV-
Liveschaltung im Hintergrund ein
Mann völlig unbehelligt durch die
Polizeiabsperrung des Hotels spa-
zierte, hat heute, im Nachhinein
gesehen, Symbolcharakter.

Fragwürdige Einschätzungen
Schon im Zuge dieser beiden
ersten TirolerFälle traf diezustän-
dige Landessanitätsdirektion ers-
te Fehleinschätzungen zur Ge-
fährlichkeit des Virus. Als be-
kannt wurde, dass die infizierten
Italiener kurz zuvor eine Iglupar-
ty auf der Innsbrucker Nordkette
besucht hatten, beschwichtigte
man die Bevölkerung mit der Aus-
sage: „Eine Ansteckung mit dem
Coronavirus für die weiteren
Fahrgäste (derNordketten-Bahn,
Anm.)ist ausmedizinischer Sicht
sehr unwahrscheinlich.“
Landessanitätsdirektor Franz
Katzgraber stand auch später im
Mittelpunkt. Am 5. März, nach-
dem Island den Wintersportort
Ischgl bereits als Risikogebiet de-

Tirols Wintersporthochburgen Ischgl und St. Anton am Arlberggerieten europaweit in


Verruf,weil sich dort hunderteUrlauber mit dem Coronavirusinfiziert hatten. Die


Behörden hätten demPartytreiben zu langetatenlos zugesehen, lautetder Vorwurf.Undals


siereagierten, traf das die Regionvöllig unvorbereitet. Eine Spurensuche inKaterstimmung.


RECHERCHE:Steffen Arora, Birgit Baumann, Laurin Lorenz, Anne Rentzsch, Fabian Sommavilla

Après-Ski mit


bösem Erwachen


Agenda:Coronavirus-Krise


Seit über einem Jahrzehnt
ist Ischgl der Hotspot des
Après-Ski-Vergnügens. Nun
wurde es zur No-Go-Area.
Foto: Lois Hechenblaikner

klariert hatte, weil eine Gruppe
von 14 Urlaubern infiziert aus
dem Skiurlaub zurückgekommen
war, behauptete Katzgraber unter
Verweis auf eine Privatperson als
Quelle, dass es aus „medizini-
scher Sicht wenig wahrscheinlich
sei, dass es in Tirol zu einer An-
steckung(derUrlauber,Anm.)ge-
kommen ist“.
An diesem 5. März erhielt jener
Hotelier aus St. Anton, der ein-
gangs die tumultartigen Szenen
nach Inkrafttreten der Quarantäne
beschrieben hat, einen Anruf aus
Island. Eine Gruppe von acht Per-
sonen hatte für Mitte März bei ihm
gebucht. Weil sie aber die Reise-
warnung ihrer Regierung erhalten
hatten, erkundigten sich die Gäs-
te bei dem Wirt, wie die Lage vor
Ort sei. Am 5. März gab es in Ti-
rol offiziell drei bestätigte Corona-
fälle, in Island mindestens 14, die
auf Tirol zurückzuführen waren.
Der Hotelier war von der Anfra-
ge seiner isländischen Gäste über-
rascht. Er fragte trotzdem nach,
ohne Ergebnis: „Bei uns gab es zu
diesem Zeitpunkt keine Warnun-
gen. Ich habe ihnen gesagt, sie
können ruhig kommen.“ Die
Gruppe kam und reiste am 12.
März wieder ab. Am vergangenen
Wochenende meldeten sie sich

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