E
s gibt historische Voraussa-
gen, die nicht einfach falsch
sind, sondern sich im Laufe
der Zeit als immer unzutref-
fender erweisen. Überwäl-
tigt von den Ereignissen des
Wunderjahres 1989, prophe-
zeite der Politikwissenschaftler und Histori-
ker Francis Fukuyama, nach dem Ende des
Kalten Krieges werde weltweit das Zeitalter
der liberalen Demokratie, der Marktwirt-
schaft und des Rechtsstaats anbrechen. Fa-
schismus und Kommunismus seien Gespens-
ter der Vergangenheit, der Nationalismus
überlebe nur an den Rändern der westlichen
Welt, aber auch dort sei der Übergang zur
Demokratie unaufhaltsam.
VON WOLF LEPENIES
Ein Jahr später entfachte der freigesetzte
Nationalismus der ehemaligen jugoslawi-
schen Teilrepubliken den Balkankrieg. Im
Rückblick auf die drei Jahrzehnte, die seit
1989 vergangen sind, diagnostizierten der
amerikanische Politikwissenschaftler Ste-
phen Holmes und der bulgarische Publizist
Ivan Krastev zuletzt eine tiefe, vielleicht töd-
liche Krise der liberalen Demokratie. Der Ti-
tel ihres Buches klang wie eine Widerlegung
der These Fukuyamas: „Das Licht, das er-
losch“.
Das Ende des 20. und der Beginn des 21.
Jahrhunderts werden weltweit vom Erstar-
ken des aggressiven Nationalstaats geprägt.
Im mächtigsten Land der Erde ist auf den
„Globalisten“ Barack Obama ein auftrump-
fender Nationalist gefolgt: Mit dem Verspre-
chen „Wir kümmern uns zur Abwechslung
um uns selbst, Leute!“ begeistert Donald
Trump seine Anhänger und verstärkt die
Chancen zu seiner Wiederwahl: „Ihr wisst,
was ein Globalist ist, nicht wahr? Ein Globa-
list ist ein Mensch, der möchte, dass es der
ganzen Welt gut geht, und dem, offen gesagt,
unser Land ziemlich egal ist ... Und wisst ihr
was? Wir können das nicht dulden ... Wisst
ihr, was ich bin? Ich bin ein Nationalist,
okay? Benutzt dieses Wort! Benutzt dieses
Wort!“
Die amerikanische Historikerin Jill Lepore
nimmt Trump das Wort aus dem Mund. Auf
die aggressive „America first“-Politik des
Präsidenten antwortet sie nicht mit einem
Plädoyer für den Universalismus, sondern
mit einem „Manifest für eine bessere Nati-
on“. Jill Lepore lehrt und forscht an der Har-
vard University, sie ist Mitglied in der Redak-
tion des „New Yorker“. Mit „These Truths“
(„Diese Wahrheiten“) hat sie 2019 einen
Bestseller veröffentlicht, eine Geschichte
der Vereinigten Staaten, in der sie ihre His-
torikerkollegen dafür kritisiert, dass sie seit
Langem die Nationalgeschichte als Gegen-
stand ihrer Forschung aufgegeben haben
(vgl. WELT vom 13.1.2020).
Die Vereinigten Staaten von Amerika ent-
standen aus dem Zusammenschluss von
dreizehn ehemals britischen Kolonien, die so
verschieden waren, dass sie es unangemes-
sen fanden, ihre Vereinigung als „Nation“ zu
definieren. In den Gründungsdokumenten
der USA spielt das Wort „Nation“ keine Rol-
le. Wir müssen uns, schreibt Jill Lepore, „die
Vereinigten Staaten nicht als Nationalstaat,
sondern als etwas Merkwürdigeres denken:
als eine Staatsnation, eine äußerst seltene
Angelegenheit“.
In ihrem „Manifest“ erinnert sie daran,
wie es innerhalb dieser „merkwürdigen“
amerikanischen Staatsnation zur Herausbil-
dung des Nationalismus kam – und wie im
Laufe der Geschichte die demokratischen
Versprechen der amerikanischen Gründer-
zeit mehrfach gebrochen und dann mühsam
erneuert wurden. Hannah Arendt, deren
Werke unter den vielen Literaturhinweisen,
die Lepore anführt, erstaunlicherweise kei-
nen Platz finden, hatte für diese Entwicklung
die passende Metapher gefunden: „Die Ehe,
die Nationalstaat und Demokratie miteinan-
der eingingen, sah – wie viele Ehen – am An-
fang, zu Ende des 18. Jahrhunderts, noch
recht vielversprechend aus, sie hat dann
doch, wie wir wissen, ein recht trübes Ende
genommen.“
Der Patriotismus der Gründerväter war
nicht nationalistisch eingeengt, die Vereinig-
ten Staaten sollten vielmehr zu einem „Asyl
für die Menschheit werden“. Die Amerikaner
waren stolz auf ihr universalistisches Credo,
sie sahen sich als die modernen Römer, die
allen freien Bewohnern des Imperiums, auch
den Fremden, das Bürgerrecht verliehen. Ba-
rack Obama war stolz auf die USA, die im 19.
Jahrhundert ein „assimilierende Volk“ ge-
nannt wurden: „Ich habe Brüder, Schwes-
tern, Nichten, Neffen, Onkel und Cousinen
jeder Rasse und Hautfarbe, sie sind über drei
Kontinente verstreut, und ich werde, solange
ich lebe, niemals vergessen, dass meine Ge-
schichte in keinem anderen Land der Erde
möglich wäre.“
Jill Lepore zählt auf, wie früh und wie oft
das ursprüngliche universalistische Verspre-
chen der amerikanischen Gründergenerati-
on gebrochen wurde. Der Naturalization Act
von 1790 beispielsweise beschränkte 14 Jahre
nach Gründung der Vereinigten Staaten die
Einbürgerung auf „freie weiße Personen“:
„Eine Nation, die die meisten Völker der
Welt für nicht einbürgerungsfähig erklärt
und sich selbst zugleich als Asyl darstellt,
wird von einem Widerspruch geprägt.“ Die-
sen Widerspruch zeigt das „Manifest für eine
bessere Nation“ auf – und mahnt zur Wie-
derbelebung des ursprünglichen amerikani-
schen Universalismus.
Jill Lepores Nacherzählung des Konflikts
zwischen Universalismus und Nationalismus
ist manches Mal eine mühsame Lektüre, be-
wegt sich von einem Historikerzitat zum
nächsten, gleicht einer kommentierten Bi-
bliographie. Das „Manifest“ ist gut gemeint,
dem Plädoyer, zu den ursprünglichen, uni-
versalistischen Idealen der amerikanischen
Gründerzeit zurückzukehren, kann sich nie-
mand verschließen, der die Politik Donald
Trumps für zutiefst unamerikanisch hält.
Der „Neue Amerikanismus“ aber, den Jill Le-
pore am Schluss ihres Essays propagiert, ist
eine Enzyklopädie aller denkbaren guten Ab-
sichten, er umschließt ein „Engagement für
Gleichheit, Staatsbürgerschaft und Bürger-
rechte“ ebenso wie eine „Hingabe an Gleich-
heit und Freiheit“, das „Engagement für na-
tionalen Wohlstand“ und, natürlich, ein „un-
erschütterliches Eintreten für eine nachhal-
tig bewirtschaftete Umwelt“.
Dieses „Manifest für eine bessere Nation“
macht deutlich, dass Amerikas Problem ge-
genwärtig nicht nur der Autoritarismus Do-
nald Trumps ist. Fast noch dramatischer er-
scheint das Fehlen einer politischen Alterna-
tive, welche die Amerikaner dazu bringen
könnte, im nächsten Jahr Donald Trump ab-
zuwählen. Die Demokratische Partei taumelt
von Desaster zu Desaster, ihrem politischen
Personal fehlt jedes Charisma. Ein „Manifest
für eine bessere Nation“ müsste in dieser Si-
tuation nicht nur das „gute Amerika“ be-
schwören, es müsste Vorschläge zum wirksa-
men politischen Handeln machen.
Wie ein politisch wirksames „Manifest für
eine bessere Nation“ aussehen kann, hat vor
23 Jahren der Philosoph Richard Rorty
(1931–2007) in seinem leidenschaftlichen
Plädoyer für einen erneuerten amerikani-
schen Patriotismus gezeigt. In seinem Buch
„Achieving Our Country“ („Stolz auf unser
Land“) knüpfte Rorty an den Patriotismus
eines Walt Whitman und eines John Dewey
an. Aber er beschränkte sich nicht darauf, die
Ideale der Vergangenheit zu beschwören, er
lieferte eine schonungslose politische Analy-
se der Gegenwart, deren Zielscheiben die
amerikanische Linke und die Demokratische
Partei waren. Rorty sagte voraus, dass die
Identitätspolitik der Demokraten und linker
Gutmenschen, die über dem Engagement für
kulturelle Minderheiten die Sorge um das
wirtschaftliche Los des Durchschnittsameri-
kaners vernachlässigten, zu einem Verfall
der amerikanischen Demokratie führen wer-
de. Liest man Rortys Charakteristik des
„strong man“, der dann die amerikanische
Politik bestimmen werde, steht einem Do-
nald Trump vor Augen (vgl. WELT vom
7.11.2016).
„Die Nation irrt sich oft“, schreibt Jill Le-
pore, „aber solange Protest möglich ist, kann
das immer korrigiert werden.“ Richard Rorty
zog in „Achieving Our Country“ einen ähn-
lichen Schluss: „Nichts, was eine Nation ge-
tan hat, sollte eine konstitutionelle Demo-
kratie daran hindern, ihre Selbstachtung
wiederzugewinnen.“ Am Ende der ersten
Amtszeit Donald Trumps müsste ein „Mani-
fest für eine bessere Nation“ die politischen
Strategien zumindest andeuten, mit denen
ein immer autoritärer werdendes, die Gewal-
tenteilung zynisch außer Kraft setzendes
Präsidialregime wieder durch die von der
amerikanischen Verfassung gewollte konsti-
tutionelle Demokratie ersetzt werden kann.
Jill Lepore: Dieses Amerika.Manifest für
eine bessere Nation. Aus dem Englischen
von Werner Roller. C. H. Beck, 158 S., 14,95 €.
FÜR EIN BESSERES
AMERIKAAMERIKAAMERIKAAMERIKA
Gibt es Alternativen zu Donald Trump? Jill Lepore diskutiert
den Konflikt zwischen Nationalismus und Universalismus
32
07.03.20 Samstag,7.März2020DWBE-HP
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32 DIE LITERARISCHE WELT DIE WELT SAMSTAG,7.MÄRZ2020
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ine „Geschichte Deutschlands
von 1990 bis heute“ zu schreiben,
wie es Edgar Wolfrum unter-
nommen hat, ist für Historiker
keine beneidenswerte Aufgabe.
Sind sie doch in ihrem eigentlichen Element,
wenn sie mit Abstand auf weitgehend abge-
schlossene Epochen blicken und von dort
lange historische Linien bis in die Gegenwart
ziehen können. Wolfrums Buch aber, so
heißt es in der Einleitung, „untersucht und
schildert etwas, das die deutsche Geschichte
von 1949 bis 1990 in diesem Ausmaß nicht ge-
kannt hatte: große Veränderungen, Suchbe-
wegungen, die sich aus der neuen Stärke in
einer unübersichtlicher gewordenen Welt er-
gaben – Wandlungen“.
VON RICHARD HERZINGER
Das Buch beschreibt also eine geschichtli-
che Periode, die noch mitten im Fluss ist und
deren Verlauf unablässig neue, offene Fragen
aufwirft, ohne dass sich einigermaßen ver-
lässliche Antworten abzeichnen würden. Im
dreißigsten Jahr nach seiner Vereinigung
scheint Deutschland hin- und hergerissen
zwischen Selbstzufriedenheit und tiefer Ver-
unsicherung. Noch immer ist es eines der
stabilsten, freiesten und wohlhabendsten de-
mokratischen Länder, doch die Einschläge,
die nagendes Unbehagen und Ängste vor
Niedergang und Chaos schüren, kommen
immer näher, und das in zunehmender Ge-
schwindigkeit. Innerhalb weniger Wochen
sah sich die Republik zuletzt mit drei Ereig-
nissen konfrontiert, die sie in ihrem Selbst-
verständnis tief erschüttert hat: In Thürin-
gen verstießen mit der CDU und der FDP
zwei bundesdeutsche Traditionsparteien –
ob aus Vorsatz oder Fahrlässigkeit, bleibt un-
klar – gegen den Grundkonsens, dass sich
Demokraten auf keine Zusammenarbeit mit
Rechtsextremisten einlassen dürfen.
Mit dem Terroranschlag von Hanau setzte
sich kurz danach eine Serie von Mordtaten
mit rechtsextremistischem Hintergrund
fort, die letzte Zweifel darüber beseitigt ha-
ben sollten, dass der endemische, internatio-
nal vernetzte Terrorismus von Rechtsaußen
auch bei uns angekommen ist. Und dass die
Türkei das Flüchtlingsabkommen mit der
EU, das Europa vor einem „neuen 2015“
schützen sollte, faktisch aufkündigte, löste
hierzulande Panik vor Destabilisierung aus.
Alle drei Erschütterungen sind auch Folge
abwartender Untätigkeit und fehlender Fä-
higkeit oder Bereitschaft, auf eindeutige
Warnsignale angemessen zu reagieren.
So sehr das Erschrecken über die anhalten-
den Wahlerfolge der AfD zunahm – die etab-
lierte Politik fand keine adäquate Strategie zu
ihrer Bekämpfung und hat ihre heimtücki-
sche Raffinesse unterschätzt. Auch rächt sich
jetzt, dass der rechtsextremistische Terroris-
mus lange Zeit nicht ausreichend ernst ge-
nommen und zu wenig zu seiner Bekämpfung
unternommen wurde. Und dass früher oder
später neue große Zahlen von – vorwiegend
syrischen und afghanischen – Flüchtlingen
nach Europa drängen würden, hätte jedem
klar sein müssen, der vor den Vorgängen in
Syrien und Afghanistan nicht vollständig die
AAAugen verschloss. Tatenlos sahen Deutscheugen verschloss. Tatenlos sahen Deutsche
und Europäer zu, wie Putins Russland mit
seinem Vasallen Assad und dem Iran die Zi-
vilbevölkerung Idlibs in die Flucht bombte.
Dass die Türkei die Last der Aufnahme einer
weiteren Million flüchtender Menschen nicht
mehr alleine tragen will, wird hierzulande als
„Erpressung“ durch den Autokraten Erdogan
wahrgenommen. Man kann darin aber auch
die vorhersehbare Folge hartnäckiger Ver-
drängung sehen.
Wolfrums Buch wurde vor diesen jüngsten
Ereignissen fertiggestellt, doch der merk-
würdige Zwiespalt, in dem sich die Republik
heute präsentiert, ist das Leitmotiv seiner
Untersuchung. Das reicht bis zu paradoxen
Umfrageergebnissen, wonach die persönli-
che Zufriedenheit der Deutschen in Ost und
West stetig gewachsen ist, während ihre Ein-
schätzung des Zustands von Staat und Ge-
sellschaft immer weiter ins Negative ten-
diert. Wolfrum führt derlei Verwirrung auf
drei Täuschungen zurück, denen die Deut-
schen nach 1989/90 erlegen seien.
„Der äußeren Einheit würde rasch die in-
nere Einheit folgen“, habe die erste gelautet.
Demokratie und Bürgerrechte, so die zweite
Täuschung, „schienen kraftvoll und un-
schlagbar, autoritäre Systeme der Vergan-
genheit anzugehören“. Und drittens hätten
sich viele Deutsche einreden lassen, die Ge-
schichte „sei an ihr Ende gelangt, der liberale
Kapitalismus habe weltweit gesiegt und es
würde sich eine lange friedliche Ära, ein neu-
es goldenes Zeitalter fortwährender Glück-
seligkeit ausbreiten“.
Deutschland befindet sich demnach noch
immer in einer Art Schockstarre angesichts
der Tatsache, dass diesem vermeintlichen
Idyll keine Dauer beschert war. Den neuen
Herausforderungen und der globalen Füh-
rungsrolle, die Deutschland mit der Epo-
chenwende von 1989/90 zufiel, habe sich der
„Aufsteiger“ und „zaudernde Riese“ noch
nicht gewachsen gezeigt, meint Wolfrum:
„Deutschland blieb ein Land, das zwar zu
den Motoren der globalen Ökonomie und zu
den tragenden Säulen der westlichen Welt
zählte, welches jedoch die daraus resultie-
rende Rolle beharrlich verweigerte.“
Diagnosen wie diese hört und liest man
seit Jahren, von diversen Bundespräsidenten
über die amtierende Verteidigungsministe-
rin bis zu zahlreichen Strategieexperten rei-
chen die Appelle, das Land müsse global
mehr Verantwortung übernehmen. Doch in
der Praxis geschieht wenig. Wolfrum be-
nennt einmal mehr diesen Zustand, fügt dem
Bekannten aber keine neuen Einsichten hin-
zu. In dem Kapitel über „die populistische
Revolte“ zeichnet er die Genese des rechts-
nationalen Diskurses vom Auftauchen der
„Neuen Rechten“ Anfang der 1990er-Jahre
bis zu ihrer heutigen Fähigkeit nach, in ho-
hem Maße die Agenda der öffentlichen De-
batten zu bestimmen. Die davon ausgehende
Gefahr wird von Wolfrum benannt, doch das
Fazit, das er daraus zieht, wirkt so konven-
tionell wie hilflos: „Es wird darum gehen,
dass die 85 Prozent, die die AfD nicht ge-
wählt haben, den Rechtspopulismus ächten
und zeigen, dass die in Reaktion auf die Zer-
störung der Weimarer Republik begründete
‚wehrhafte Demokratie‘ der Bundesrepublik
kein Papiertiger ist.“
So umfassend und pointiert Wolfrum die
einschneidendsten Ereignisse seit 1990 nach-
erzählt, so sehr vermisst man an der einen
oder anderen Stelle die Anstrengung, die de-
skriptive Ebene zu verlassen und den tiefe-
ren Triebkräften dieser Entwicklung nachzu-
spüren. Gewiss sind Historiker keine Pro-
pheten, aber einen etwas mutigeren Versuch
einer Analyse, woher die unübersichtlich wi-
derstrebenden Kräfte kommen, und einer
Prognose, wohin sie Deutschland treiben
könnten, hätte man sich schon gewünscht.
Ungeachtet aller Erschütterungen und un-
gelöster Rätsel, die die aktuellen Konflikte
im Lande dem Betrachter aufgeben, bleibt
Wolfrum vorsichtig optimistisch und hält an
seinem Diktum von der „geglückten Demo-
kratie“ fest, wie er seine 2006 erschienene
Geschichte der „alten“ Bundesrepublik beti-
telt hatte. Bestärkt wird er darin nicht zu-
letzt durch die Erneuerung der deutschen
Erinnerungskultur, die entgegen allen Be-
fürchtungen eines Rückfalls ins National-
apologetische seit 1990 weiter befestigt und
entwickelt wurde. „Vergangenheitsbewälti-
gung“ in Deutschland bleibe“, so Wolfrum,
„ein ständiger Prozess und ein Lebenselixier
für die Demokratie, die so ihren Triumph
über die Diktatur tagtäglich erneuern kann
und muss.“
Doch wie stabil die Institutionen und
Grundsätze der deutschen Demokratie tat-
sächlich sind, bleibt ungewiss. Was wäre,
wenn die im Vergleich zu anderen westlichen
Ländern hierzulande immer noch intakten
Verhältnisse uns selbst täuschen? Gerade
weil Deutschland seit dem Ende der unmit-
telbaren Nachkriegszeit nur Stabilität und
weitgehende Sicherheit kannte – auf perver-
tierte Weise vermittelte auch das DDR-Re-
gime „seinen Menschen“ das Gefühl, vor
dem Bösen draußen in der Welt zuverlässig
abgeschirmt zu sein –, könnte der Einbruch
existenzieller Herausforderungen und Ge-
fahren zu noch heftigeren irrationalen Ge-
genreaktionen führen, als dies in anderen,
krisenerprobteren Demokratien der Fall ist.
Alarmismus ist gewiss nicht angebracht,
doch die ständige Selbstberuhigung, von
Weimarer Verhältnissen seien wir noch weit
entfernt, kann auch in eine Falle führen: Die
der entwaffnenden Selbstsuggestion, alles
werde schon nicht so schlimm kommen.
Edgar Wolfrum: Der Aufsteiger.Eine
Geschichte Deutschlands von 1990 bis
heute. Klett-Cotta, 368 S., 24 €.
Gegen ein zauderndes Deutschland
Der Historiker Edgar Wolfrum skizziert die Selbsttäuschungen, denen die Republik seit der Einheit erliegt
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