Handelsblatt - 11.03.2020

(singke) #1
Coronakrise

Ökonomen legen Rettungsplan vor


S


echs führende deutsche Ökonomen wollen
an diesem Mittwoch einen 15 Seiten umfas-
senden Plan mit Maßnahmen präsentieren,
der einen Konjunkturabsturz aufgrund der Coro-
na-Krise verhindern soll. Das Papier mit dem Titel
„Wirtschaftliche Implikationen der Corona-Krise
und wirtschaftspolitische Maßnahmen“ liegt dem
Handelsblatt vor. Darin sprechen sich die Ökono-
men dafür aus, dass die Bundesregierung ange-
sichts des drohenden Abschwungs den schulden-
freien Haushalt aufgibt. Von einem Festhalten an
der schwarzen Null sei „dringend abzuraten,“ heißt
es in dem Papier. „Wenn erforderlich, muss zur Be-
hebung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Co-
rona-Krise vom Prinzip der schwarzen Null abge-
wichen werden und es sind die Spielräume zu nut-
zen, die die Schuldenbremse bietet.“ Die im
Grundgesetz verankerte Schuldenregel erlaubt in
außergewöhnlichen Notsituationen ein erhöhtes
Defizit.
Die sechs Ökonomen sind Ifo-Präsident Clemens
Fuest, der frühere Wirtschaftsweise Peter Bofinger,
der Direktor des Instituts der deutschen Wirt-
schaft, Michael Hüther, Sebastian Dullien vom ge-
werkschafstnahen IMK sowie Jens Südekum von
der Uni Düsseldorf. Sie erwarten starke wirtschaft-
liche Auswirkungen durch die Corona-Krise. Die
Schwierigkeit sei, dass es sowohl einen Nachfrage-
wie auch einen Angebotsschock gebe. So haben
Unternehmen Produktionsprobleme, da sie Zulie-
ferteile aus China nicht bekommen. Es spreche vie-
les dafür, dass „der deutschen Volkswirtschaft der
Höhepunkt dieser Produktionsausfälle noch bevor-
steht“, schreiben die Ökonomen. Aufgrund der
zeitlichen Verzögerung durch die Transportwege
dürften sich die Auswirkungen „Mitte März mit vol-
ler Wucht zeigen“. Gleichzeitig gebe es auch eine
schwächere Nachfrage. China und andere Staaten
würden weniger Produkte aus Deutschland or-
dern. Und im Inland leidet die Tourismus- und Ver-
anstaltungsbranche.
Für die Experten steht fest, dass Deutschland als
offene Volkswirtschaft „stärker als andere Länder
von den wirtschaftlichen Auswirkungen des Coro-
na-Virus gefährdet“ sei. Die Ökonomen begrüßten
die von der Großen Koalition angekündigten groß-
zügigeren Regeln zur Kurzarbeit. Sie halten diese
Maßnahmen aber nicht für ausreichend.
„Die oberste Priorität bei allen (wirtschafts)poli-
tischen Maßnahmen muss darin bestehen, die
Funktionalität des Gesundheitssystems und der
medizinischen Versorgung sicherzustellen“, heißt
es in dem Papier. So sei es denkbar, dass Medizi-
ner, die bereits im Ruhestand sind, vorübergehend
wieder zu beschäftigen. Auch Urlaubssperren sei-

en eine Möglichkeit. Im Falle von Schließungen
von Kitas und Schulen sollten spezielle Betreu-
ungsangebote für Kinder von medizinischem Per-
sonal geschaffen werden. Exportbeschränkungen
für Produkte wie Atemmasken halten die Ökono-
men hingegen für bedenklich. Auch die Schließung
von Grenzen lehnen sie ab.
Die Ökonomen schlagen auch eine Reihe an
Maßnahmen vor, mit denen die Bundesregierung
einer Wirtschaftskrise entgegenwirken könnte. So
sollte es Liquiditätshilfen für Unternehmen geben.
Die hatte auch die Große Koalition in Aussicht ge-
stellt. Dazu sollen unter anderem die Liquiditäts-
hilfen der staatlichen KfW-Bank genutzt werden.
Deren Volumen müsste vermutlich erhöht werden.
Als schnell umsetzbare Maßnahme sei zudem an
eine „generelle Stundung fälliger Steuerzahlun-
gen“ zu denken.
Neben den Liquiditätshilfen brauche es aber
auch Solvenzhilfen für Unternehmen, denen die
Erträge wegbrechen. Dazu sei eine „temporäre He-
rabsetzung der Einkommen- und Körperschaft-
steuer“ denkbar. Die Ökonomen sprechen sich klar
für eine Vorziehen der für Anfang 2021 geplanten
Teilabschaffung des Solidaritätszuschlages auf Juli
aus. Das hatte auch die SPD gefordert. „Dies kann
zu relativ geringen fiskalischen Kosten das Vertrau-
en in die Handlungsfähigkeit der Politik und in ei-
ne rasche wirtschaftliche Belebung nach dem Ab-
flauen der Krise stärken“, heißt es. Auch eine vorü-
bergehende Senkung der Mehrwertsteuer wird im
Papier diskutiert, allerdings mit dem Hinweis ver-
sehen, dass die Maßnahmen nicht zielgenau sei
und für den Staat vergleichsweise kostspielig.
Als Ultima Ratio wird in dem Papier ein Ret-
tungsfonds für Unternehmen diskutiert. „Wenn es
nicht gelingen sollte, die Ausbreitung der wirt-
schaftlichen Schockwellen einzudämmen, so dass
es in größerem Stil zu Unternehmensinsolvenzen
käme, wäre als Ultima Ratio an Maßnahmen zu
denken, bei denen sich der Staat mit Eigenkapital
an Unternehmen beteiligt“, heißt es. Allerdings
wäre so eine Maßnahmen aufwendig und wettbe-
werbspolitisch bedenklich.
Wirtschaftsminister Peter Altmaier hatte am
Dienstag zusammen mit seinen für Gesundheit
und Arbeit zuständigen Kollegen Jens Spahn und
Hubertus Heil gesagt, er werde „zu jedem Zeit-
punkt die nötigen Maßnahmen ergreifen“, damit
es nicht zu einer ernsten gesundheitlichen und
wirtschaftlichen Corona-Krise komme. „Wir wol-
len, dass kein Unternehmen wegen Corona insol-
vent gehen muss.“ Um Tatkraft zu demonstrieren,
hat das Bundeskabinett am Dienstag – einen Tag
vor seiner regulären Sitzung – den Entwurf des Ge-
setzes zur Ausweitung der Kurzarbeit verabschie-
det. Neben einem Ausbau der Weiterbildungsför-
derung sieht das Gesetz eine Verordnungsermäch-
tigung vor, mit der die Bundesregierung – zunächst
befristet bis zum Jahresende – die Kurzarbeit stär-
ker fördern kann.
Viele Firmen sind aber auch in Sorge, dass sie
durch die Corona-Krise in Zahlungsschwierigkei-
ten geraten könnten. Bei der Hotline seines Minis-
teriums gingen täglich mehr als 100 Anrufe besorg-
ter Unternehmer ein, die sich vor allem nach kurz-
fristigen Liquiditätshilfen erkundigten, sagte
Altmaier. Vor allem Dienstleister, bisher die Kon-
junkturstütze, leiden unter Absage von Veranstal-
tungen. Messebauer bitten um Hilfsgelder.
Nach dreistündigen Beratungen mit seinen Län-
derkollegen versprach Altmaier, die Förderkredit-
und Bürgschaftsprogramme der KfW notfalls auf-
zustocken und sie mit denen der Länder-Förder-
banken eng abzustimmen. Noch diese Woche will
Altmaier mit Finanzminister Olaf Scholz (SPD)
auch über Steuerstundungen für notleidende Fir-
men beraten, kündigte er an. M. Greive, J. Hilde-
brand D. Riedel, F. Specht

> Leitartikel Seite 12

Conte sagte, zusammengefasst habe sein Dekret
das Motto: „Ich bleibe zu Hause“. Das bedeutet
auch, dass landesweit alle Bars und Restaurants ab
18 Uhr schließen müssen, dass Versammlungen
auch im Freien verboten sind, dass Sportveranstal-
tungen abgesagt werden und die erste italienische
Fußballliga, die Serie A, ab sofort gestoppt ist. Schu-
len und Universitäten bleiben bis zum 3. April ge-
schlossen — danach beginnen die Osterferien. Es gibt
keine Gottesdienste, Trauungen, Taufen und Beerdi-
gungen. Der Vatikan schloss nach den Museen am
Dienstag auch den Petersplatz und den Petersdom.
Für alle Menschen gilt ein Sicherheitsabstand von ei-
nem Meter.


Italiener zeigen Verständnis


Die ersten Reaktionen der Italiener sind zustim-
mend. Es sei Leichtsinn, heute noch zu behaupten,
das Coronavirus sei nicht viel mehr als eine leichte
Erkältung, heißt es in einem Zeitungskommentar.
„Der Staat hat seinen Anteil geleistet mit den dras-
tischsten Maßnahmen, die je eine Demokratie ergrif-
fen hat“, schreibt „La Repubblica“. „Jetzt ist es an
uns Bürgern, unseren Teil zu leisten, indem wir jede
Selbstdisziplin und jeden Bürgersinn einsetzen, zu
dem wir fähig sind.“
Die Regierung und die Banken helfen Hausbesit-
zern. Hypothekenzahlungen würden landesweit aus-
gesetzt, sagte Wirtschaftsstaatssekretärin Laura Cas-
telli dem Radiosender Radio Anch‘io. Am Montag
hatte der italienische Bankenverband ABI erklärt,
dass kleine Unternehmen und Haushalte, die unter
den wirtschaftlichen Auswirkung des Coronavirus
leiden, ihre Zahlungen aussetzen könnten.
Am Mittwoch soll das Regierungsdekret zu den Fi-
nanzhilfen für Unternehmen und Familien durch
das Parlament gehen. Die Hilfen haben zur Folge,
dass Italien das mit Brüssel vereinbarte Defizitziel
reißen wird. Die Rede ist nun von von 2,5 bis 2,
Prozent. Bisher will Italien 7,5 Milliarden Euro ausge-
ben. Längst gilt die Summe als zu gering.
Italien setzt jetzt auf Hilfe aus Europa. Conte
sprach mit EU-Kommissionspräsident Ursula von
der Leyen - per Videokonferenz. Auch Brüssel ist be-
troffen. EU-Parlamentspräsident David Sassoli ist
freiwillig in Quarantäne gegangen. Im Europaparla-
ment gilt ein Besucherverbot. In der EU-Kommissi-
on, in Ratskreisen und bei der Nato haben sich Mit-
arbeiter infiziert.
In Italien sagte Conte seinen Landsleuten noch, er
habe sich testen lassen und sei negativ.
Mitarbeit: Eva Fischer, Sandra Louven, Hans-Peter
Siebenhaar



Porträt Conte: Seite 47



ddp images/Insidefoto

Wir müssen


jetzt unsere


Gewohnheiten


ändern, jeder


muss auf


etwas


verzichten


zum Wohl


Italiens.


Guiseppe Conte
Premierminister

Länder machen dicht
Ausgewählte Staaten mit Einreise- bzw. Reisebeschränkungen

China: Bei Einreise aus einem Risikogebiet gilt u. a. für Peking u. Schanghai eine 14-tägige Quarantänepflicht. Als solche stufen die Städte
derzeit Iran, Italien, Japan u. Südkorea ein. Es muss damit gerechnet werden, dass lokale Behörden oder Wohnblockverwaltungen auch
Einreisende aus anderen Staaten zur Einhaltung der Quarantäne verpflichten. In Einzelfällen betraf das auch Einreisende aus Deutschland.


  1. Aussteigekarten bei Flügen; 2) Verstärkte Kontrollen, Empfehlung einer 14-tägigen Aktivitätsbeschränkung; 3) Reisebeschränkung innerhalb Italiens; 4) Häusliche
    Quarantäne empfohlen; 5) Beschränkung der Stadtverwaltung Moskau; 6) Aus Kalifornien, New York und Washington HANDELSBLATT • Quelle: Auswärtiges Amt


Einreiseverbot oder Quarantänepflicht Meldepflicht oder Ähnliches/vereinzelte Quarantänepflicht Keine Beschränkung

Deutschland

Zielland:
1) 1) 1)

4) 4) 4)

1)

1) 1) 1) 1) 1) 1) 1) 1)

5) 5) 5) 5) 5)
6)

5) 5)

2)

5)

Frankreich 2)
Italien 3)

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MITTWOCH, 11. MÄRZ 2020, NR. 50
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