Handelsblatt - 11.03.2020

(singke) #1

Russland


Putin gibt sich weitere Amtszeit


Der Kremlchef hat eine


Verfassungsänderung


abgesegnet, die es ihm


erlaubt, noch einmal


anzutreten.


André Ballin Moskau


R


usslands Präsident Wladimir
Putin hat sich quasi im letz-
ten Moment ein Hintertür-
chen in die neue Verfassung einge-
baut, um weiter regieren zu können.
Am Dienstag trat er überraschend in
der Duma, dem russischen Unter-
haus, auf. Dort berieten die Abgeord-
neten in der zweiten und entschei-
denden Lesung über die von Putin
initiierte Verfassungsänderung.
Nur wenige Stunden zuvor hatte
der Kreml die erste Frau im Weltall,
Walentina Tereschkowa, vorge-
schickt, die inzwischen Duma-Abge-
ordnete für die Regierungspartei „Ei-
niges Russland“ ist. Sie machte zwei
Vorschläge, um Putin weiter an der
Macht zu halten. Variante eins: Die
Begrenzung auf zwei Amtszeiten
wird völlig aus der Verfassung gestri-
chen. Variante zwei: Die Amtszeiten
von Putin werden mit der neuen Ver-
fassung annulliert, und er hat wie al-
le anderen Bürger das Recht, erneut


anzutreten. In seiner Rede vor der
Duma lehnte Putin zunächst die Ab-
schaffung der Amtszeitbegrenzung
ab. Dies sei in Zeiten politischer Un-
ruhen und wirtschaftlicher Turbulen-
zen vielleicht nötig, da in ihnen „Sta-
bilität“ wichtiger sei als demokrati-
sche Freiheiten.
Doch die Verfassungsänderungen
sollten für mindestens „30 oder 50
Jahre“ gelten. „Langfristig braucht
die Bevölkerung Garantien, dass die
Obrigkeit ausgewechselt werden
kann“, sagte Putin. Darum lehne er
die Streichung der Amtszeitbegren-
zung ab. Doch was er künftigen
Amtsinhabern verwehrt, nimmt Pu-
tin für sich in Anspruch. Denn den
Vorschlag Tereschkowas, seine
eigene Amtszeit zu annullieren, da-
mit er 2024 wieder antreten könne,
nahm Putin an. „Im Prinzip wäre die-
se Variante möglich“, sagte er. Es
müsste nur das Verfassungsgericht
prüfen, ob eine solche Klausel nicht
dem Geist der Verfassung widerspre-
che.
Zudem müsste das Volk bei dem
für den 22. April angesetzten Refe-
rendum zustimmen. Das Datum fällt
mit dem 150. Geburtstag von Wladi-
mir Lenin zusammen, der in Russ-
land vor 100 Jahren die „Diktatur des
Proletariats“ errichtet hatte.

Zuletzt bestritt Putin in öffentlichen
Auftritten stets sein Interesse an einer
Verlängerung seiner Regierungszeit.
Seine Verfassungsänderungen dien-
ten einzig und allein der besseren Re-
gierbarkeit Russlands und hätten
nichts mit dem Wunsch zu tun, seine
Regierungszeit zu verlängern. Schon
vor der letzten Wahl 2018 antwortete
er auf die Frage, ob er 2030 als Präsi-
dent zurückkommen wolle: „Das ist
ein bisschen lächerlich. Soll ich etwa
noch mit 100 Jahren hier sitzen?“
Nun hat er sich zumindest die
Möglichkeit eröffnet, bis zum Alter
von 83 Jahren an der Macht zu blei-

ben, denn durch die Annullierung
seiner Amtszeiten könnte er theore-
tisch nicht nur 2024, sondern auch
2030 antreten. Dass das Verfassungs-
gericht sein Veto gegen die Änderung
einlegt, ist praktisch ausgeschlossen.
Bereits seit 2003 leitet Waleri Sorkin
das Gericht. Er hat sich in der Zeit als
loyal gegenüber dem Kreml erwie-
sen. Unter anderem segnete die Be-
hörde unter seiner Führung die Ab-
schaffung der Gouverneurswahlen
und die Nichtzulassung von Alexej
Nawalny bei der Präsidentenwahl
2018 ab. Zudem erlaubte das Verfas-
sungsgericht Russland, Urteile des
Europäischen Gerichts für Men-
schenrechte nicht zu erfüllen, sollten
diese der Verfassung widersprechen.
Das betrifft auch die Auseinanderset-
zung um das Yukos-Erbe.
Auch die Zustimmung zur Verfas-
sungsänderung beim Referendum
gilt als gewiss. Um die Bürger zur Zu-
stimmung zu bewegen, wurden in
die neue Verfassung Forderungen hi-
neingeschrieben, die die nationalis-
tisch-konservative Mehrheit befriedi-
gen sollen. Dazu zählen die Erwäh-
nung Gottes, die Festschreibung der
Ehe als Bund zwischen Mann und
Frau, das Verbot, die Rolle Russlands
im Zweiten Weltkrieg herabzuwürdi-
gen oder Territorien abzutreten.

Wladimir Putin in der
Duma: Große Sorge
um die Regierbarkeit
Russlands.

dpa














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MITTWOCH, 11. MÄRZ 2020, NR. 50
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