Simone: Barbara Hans war damals
schon stellvertretende Chefredakteu-
rin bei SPIEGEL ONLINE. Warum war
es trotzdem so ein Schritt?
Susanne: Das war Anfang 2015, eini-
ge Jahre vor der Zusammenlegung
der Heft- mit der Onlineredaktion.
Das Heft hatte damals eine fast
70-jährige Geschichte. Die Ressort-
leiter, mit denen ich es zu tun hatte,
kannten das nicht, eine Frau über sich
in der Hierarchie. Ich habe gewarnt:
Ist das Haus schon so weit? Bin ich
als Erste der richtige Typ?
Tobias: Du hast dich gefragt, ob die
erste Frau in der Position nicht eher
eine sein sollte, die auf klischeehaft
männliche Art führt?
Susanne: Genau. Aber ich bin, wie
ich bin, das habe ich sofort gesagt.
Wenn man sich verstellt, kostet es un-
nötig Kraft.
Tobias: Bist du mit dem Ziel in die
Chefredaktion gegangen, die Sache
der Frauen voranzubringen?
Susanne: Natürlich, aber wir waren
zu viert, drei Männer, eine Frau, wir
alle wollten das. Es ging auch darum,
die Themen, die aus den Ressorts
kamen, daraufhin zu prüfen, ob auch
Frauen prominent vorkommen.
Simone: Ich habe eine Zeit lang die
Hausmitteilung betreut, ich wollte
darin die Arbeit von Frauen sicht-
barer machen. Ich musste die Kolle-
ginnen zum Teil überreden, von ihren
Recherchen zu berichten.
Tobias: Hast du gezögert, als dir eine
Führungsfunktion angeboten wurde,
Simone?
Simone: Nein. Im Haus hatte sich
schon viel verändert, auch dank
SPIEGEL ONLINE. Dort war es
selbstverständlicher, Führungsposi-
tionen gleichberechtigt zu besetzen.
Tobias: Weil das Team von SPIEGEL
ONLINE jünger war?
Simone: Auch. Aber die Seite begann
ja quasi als Start-up, mit flachen Hie-
rarchien, ohne festgefahrene Tradi-
tionen. Für uns als fusionierte Redak-
tion heißt das: Die ehemaligen Mit-
arbeiter des Heftes und der Website
haben unterschiedliche Geschichten
im Gepäck. Auch der Blick auf die
#MeToo-Debatte ist ein anderer. Viel-
leicht liegt das an dem direkten Draht,
den wir im Digitalen zu jüngeren Le-
serinnen und Lesern haben.
Tobias: Die Frau als Chefin – ist das
heute noch ein Tabu?
Simone: Es ist kein Thema, dass sie
Chefin ist. Aber wie sie als Chefin
agiert. Gelesen werden viele Entschei-
dungen nicht als Entscheidung eines
Chefs, sondern als die einer Frau. Zum
Teil zu Recht, denn natürlich will ich
als Chefin manches anders machen.
Susanne: Ich gucke ehrlicherweise ein
bisschen strenger auf weibliche Chefs.
Das ist ungerecht, aber die feministi-
sche Reflexion, die Frauen hinter sich
haben, muss zu etwas führen. Es kann
nicht nur darum gehen, Karriere zu
machen. Es geht auch um einen ethi-
schen Anspruch an Führung.
Simone: Das Konkurrenzdenken
unter Frauen ist oft stark ausgeprägt.
Das liegt daran, dass es lange Zeit
höchstens eine Frau auf eine heraus-
gehobene Position schaffen konnte.
Wenn die besetzt war, war kein Platz
für eine weitere Frau. Dieses Denken
müssen wir überwinden.
Tobias: Würdet ihr einem Mann Ego-
ismen und Ellbogen weniger übel
nehmen, weil ihr sie bei ihm sowieso
erwartet?
Susanne: Wir sollten Egoismen und
Ellbogen hinter uns bringen, jeden-
falls als vorrangiges Prinzip. Wer als
eine der ersten Frauen in herausge-
hobener Position agiert, sollte versu-
chen, sich besonders anständig zu
benehmen, eben weil ihr Verhalten als
exem plarisch wahrgenommen wird.
Simone: Frauen streben genauso nach
Einfluss und Macht wie Männer. Dass
man das Frauen übler nimmt als Män-
nern, finde ich nicht gut.
Susanne: Auf lange Sicht hast du
recht. Es geht mir darum, höhere ethi-
sche Maßstäbe an alle anzulegen,
auch an Männer.
Tobias: Susanne, du hast 2018 einen
Text zur #MeToo-Debatte geschrie-
ben, der Titel: »Wir müssen Augstein
erwähnen«.
Susanne: Die Überschrift ist das Zitat
eines Kollegen. Wir diskutierten, wie
wir über #MeToo berichten sollen,
als dieser Kollege an die Bademan-
telgeschichten erinnerte und sagte:
»Moment mal, wir müssen Augstein
erwähnen.«
Simone: Die Debatte spielte nicht nur
irgendwo in Hollywood, sie ging uns
alle etwas an. Das so schnell zu mer-
ken war progressiv. Und für mich ist
das typisch SPIEGEL: Sagen, was ist.
Was war.
Tobias: Dein Text ist keine Anklage,
er hat einen tastenden, zweifelnden
Ton und lässt Raum für Ambivalen-
zen. Ich würde mir mehr #MeToo-
Berichte in diesem Stil wünschen.
Susanne: Ich versuche, mich und
meinen Blick auf Themen immer in
Zweifel zu ziehen. Vielleicht weil ich
anfangs so bezweifelt wurde als
Frau in diesem Job. Inzwischen halte
ich genau das für eine moderne Art
von Journalismus. In der Adenauer-
Ära, als in der Gesellschaft viel ver-
schwiegen wurde, ging es im SPIEGEL
da rum, mit Schärfe gegen Altnazis
vorzugehen. In den lauten Zeiten
heute scheinen mir Zwischentöne
wichtig.
Tobias: Du hast 2017 die #MeToo-
Untersuchung beim SPIEGEL mit an-
gestoßen, Simone.
Simone: Daran waren viele Kollegin-
nen beteiligt. Es brodelte. Denn es
ging nicht nur um lange zurückliegen-
de Geschichten. Auch jüngere Frauen
hatten Verletzungen erlitten, und wir
hatten das Gefühl, viele Kollegen
wollten das nicht hören. Dann gab es
einen Text bei uns im Blatt, in dem
ein Kollege beklagte, der Begriff Se-
xismus werde inflationär gebraucht
und »bietet Frauen ein bequemes Ali-
bi, wenn die Karriere nicht ganz nach
oben führt, weil das Talent nicht
reicht oder andere mehr Biss haben.
Zur Not sind immer die gesellschaft-
lichen Umstände schuld. Oder der
alte, weiße Mann«. Der Frust war
groß.
Tobias: Wie seid ihr damit umge-
gangen?
Simone: In Stockholm hatten Schau-
spielerinnen an einem Abend im
Theater vor Publikum Erlebnisbe-
richte von sexuellen Übergriffen und
Alltagssexismus vorgelesen. Das ha-
ben wir uns als Beispiel genommen,
eine Art Briefkasten eingerichtet und
uns solche Situationen aus der
SPIEGEL- Geschichte anonym schil-
dern lassen. Das war natürlich nur
eine Stichprobe. Aber die haben wir
dann der Chefredaktion und Verlags-
leitung vorgelesen, knapp, sachlich.
Wir wollten, dass diese Stimmen
wenigstens einmal gehört werden.
Die Situation war für uns alle be-
klemmend.
Tobias: Gab es justiziable Fälle?
Simone: Unseres Wissens nicht, aber
die ganze Bandbreite an Alltagssexis-
mus und Machtmissbrauch: Angrab-
schen bei einer Feier, sexistische
Sprüche im Fahrstuhl. Der Verlag hat
später eine quantitative Befragung in
SQuelle: Auswertung der
SPIEGEL-Gespräche gemäß
Verschlagwortung im haus-
internen Archiv; Anteil der
Personen, deren Vorname
nicht klar einem Geschlecht
zugeordnet werden konnte,
ist grau dargestellt;
Stand: 26. Nov. 2021
Frauen- und
Männeranteile in
SPIEGEL-Gesprächen,
in Prozent
Frauen Männer
45 %
der Führungs-
kräfte in der
SPIEGEL-Redaktion
sind weiblich.
1957 1990 2021
100
50
Blattkritik beim
SPIEGEL 1995: »Die
Konferenz, vor
der Politiker zittern«
Monika Zucht
66 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022
TITEL 75 JAHRE DER SPIEGEL
2022-02SPAllTitel456852202_GespraechMeTooimSPIEGELD2-064066 662022-02SPAllTitel456852202_GespraechMeTooimSPIEGELD2-064066 66 06.01.2022 21:55:4706.01.2022 21:55:47