Spektrum der Wissenschaft - Oktober 2017

(Tuis.) #1

zwar großer Symmetrie erfreuen, aber darunter leiden,
dass große Teile ihrer Flächen im Verborgenen liegen.
Einige unter ihnen gehen ebenfalls auf Kepler sowie auf
Louis Poinsot (1777–1859) zurück (Bild links oben).
Dafür muss man sich allerdings von der Vorstellung
verabschieden, ein Polyeder sei ein Volumen, das von
ebenen Flächen begrenzt werde in dem Sinn, dass auf
einer Seite jeder Fläche das Innere des Körpers sei und
auf der anderen Seite die Außenwelt. Vielmehr ist ein
Polyeder zu verstehen als eine Menge von ebenen Flä-
chen mit der Eigenschaft, dass jede Seite einer Fläche
zugleich Seite genau einer anderen Fläche ist: Keine Seite
bleibt unverbunden, und jeder Kante des Polyeders liegen
genau zwei Flächen an. Es ist nicht verboten, dass diese
Flächen einander durchdringen, und innen und außen
sind möglicherweise nicht mehr klar zu unterscheiden.
Als regelmäßiges Vieleck gilt alles, was gleiche Seiten
und gleiche Winkel hat; das schließt auch sternförmige
Vielecke ein.


Uniforme Polyeder:
Symmetrie mit Selbstdurchdringung
Besonders interessant und ansehnlich sind unter diesen
verallgemeinerten Polyedern diejenigen, die von regelmä-
ßigen Vielecken – im erweiterten Sinn – begrenzt sind und
über ein vollständiges Sortiment an Symmetrien (Drehun-
gen und Spiegelungen) verfügen, so dass man den ganzen
Körper auf sich selbst und jede Ecke auf jede beliebige
andere abbilden kann. Sie heißen uniforme Polyeder, und
es gibt immerhin 75 Stück von ihnen, eingeschlossen die
klassischen platonischen und archimedischen (halbregel-
mäßigen) Körper, nicht eingeschlossen die unendlich
vielen Prismen und Antiprismen sowie deren Verwandte,
bei denen die dreieckigen oder viereckigen Wände einan-


der durchdringen. Ebenfalls nicht zu den uniformen Poly-
edern zählen die Durchdringungen mehrerer (zum Beispiel)
platonischer Körper, die zwar die Symmetriebedingungen
erfüllen, aber in mehrere vollständige Polyeder zerlegbar
sind (Bild links unten).
Nachdem Ulrich Mikloweit mit seiner Methode der
durchbrochenen Flächen etliche naheliegende Körper
hergestellt hatte, stieß er auf das Kultbuch der Polyeder-
szene: »Polyhedron Models«. Und damit nahm das
Schicksal seinen Lauf.
Das Buch stammt von Magnus Wenninger (1919 –
2017), Benediktinermönch in der St. John’s Abbey in
Collegeville (Minnesota). Der hatte die Abgeschiedenheit
des klösterlichen Lebens – damals noch in Nassau (Baha-
mas) – genutzt, um in den 1960er Jahren Papiermodelle
sämtlicher uniformen Polyeder herzustellen, nur wenige
Jahre, nachdem Harold Scott MacDonald Coxeter und
zwei seiner Mitarbeiter erstmals deren vollständige Auf-
listung veröffentlicht hatten. In »Polyhedron Models«
zeigte Wenninger 1971 nicht nur Fotos von jedem seiner
Objekte, sondern lieferte auch Bauanleitungen mit Maß-
angaben. Da er außer den uniformen Polyedern noch ein
paar andere interessante Körper mitaufnahm, enthält sein
Buch stolze 119 Polyeder. Und Ulrich Mikloweit machte
sich auf, sie alle nachzubauen.
Nur ist sein Prinzip der durchbrochenen Flächen weit-
aus mühsamer umzusetzen als Wenningers Verfahren;
und selbst der hatte für seine Sammlung rund zehn Jahre
gebraucht. Denn während gewöhnliche Polyederbauer die
Freiheit haben, verdeckte Flächenteile von vornherein
wegzulassen, muss Mikloweit sie alle ausführen; und
jedes von ihnen ist nicht einfach ein Stück buntes Papier,
sondern dem Durchblick zuliebe mit zahlreichen – und der
Ästhetik zuliebe kunstvoll geformten – Löchern versehen.

LINKS: ROBERT WEBB, WWW.SOFTWARE3D.COM/STELLA.PHP (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:GREAT_TRUNCATED_ICOSIDODECAHEDRON.PNG);

RECHTS: CHRISTOPH PÖPPE

Das große abgestumpfte Ikosidodekaeder


Wie bei uniformen Polyedern üblich, ist der Name sinn-
voll gewählt, trägt aber ohne umfangreiche theoretische
Vorbereitung nahezu nichts zum Verständnis bei. In
diesem Körper (Nummer 108 bei Wenninger) treffen sich
in jeder Ecke ein Quadrat (rote Farbtöne im großen Bild),
ein Sechseck (blau) und ein Zehnstern (gelb), genauer
gesagt ein (10/3)-Stern, das heißt, seine Seiten sind die
Diagonalen des regel-
mäßigen Zehnecks, die
jeweils von einer Ecke
zur drittnächsten
verlaufen. Frappieren-
derweise ist das Poly-
eder in der üblichen
Darstellung mit un-
durchsichtigen Flächen
kaum wiederzuerken-
nen (kleines Bild).
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