Spektrum der Wissenschaft - Oktober 2017

(Tuis.) #1

Expeditionen in den nord-
pazifischen Raum inter-
nationale Unternehmungen,
an denen Wis senschaftler,
Matrosen und Künstler
diverser Herkunft teilnah-
men. Manche waren bei
mehreren Fahrten dabei,
jeweils in unterschied-
lichem Auftrag. Der eng-
lische Hydrograf Joseph
Billings (1758 –1806) bei-
spielsweise war zunächst
bei der dritten Reise Cooks
mit an Bord und segelte
später im Auftrag der Zarin
Katharina II. (1729 –1796).
Der Amerikaner John
Ledyard (1751–1789) war
zunächst ebenfalls unter
Cook gesegelt, zog später
allein von Petersburg nach
Jakutsk und schloss sich
Billings an.


Von diesen und anderen
Personen stammen sehr
genaue Schilderungen der
Landschaften, Küsten und
Völker im Nordpazifik. So
führte die von Vitus Bering
(1681–1741) ab 1733 gelei-
tete zweite Kamtschatka-
Expedition zur ersten aus-
führlichen Beschreibung
der Tungusen. Der Begriff
diente im 18. Jahrhundert
als Sammelbezeichnung für
eine Vielzahl nomadischer
Völker im Osten Sibiriens.
In der »Beschreibung der
sibirischen Völker« des
Historikers Gerhard Fried-
rich Müller (1705 –1783)
findet sich unter anderem
die detaillierte Schilderung
tungusischer Kleidung. Die
Autorin verdeutlicht den
Text anhand eines ebenfalls
in der Göttinger Ethnolo-


gischen Sammlung befind-
lichen, gut erhaltenen
tungusischen Festtagsge-
wands aus Leder, Stoff und
Tierhaaren.
Ein anderes Objekt der
Sammlung, das die Autorin
vorstellt, ist ein Anorak aus
zusammengenähten Seelö-
wendärmen. Die Bewohner
der Aleuten produzierten
solche Kleidungsstücke,
und Cook stellte fest, dass
sie das Wasser besser ab -
hielten als die Jacken seiner
eigenen Leute. Immer
wieder erzählt Bucher
faszinierende Geschichten
von ethnografi schen und
kolonialpoliti schen Entde-
ckungen, wenn sie die
Artefakte der Göttinger
Kollektion beschreibt –
sei es eine Maske des

hawaiianischen Kriegs-
gottes Ku oder eine Harpu-
nenspitze aus Knochen;
seien es Muscheln von
Vancouver Island, ein
Schamanenmesser (oder
Ritualstab) von den Aleu-
ten, ein tschuktschischer
Lamellenpanzer, eine
Kampfkeule aus Alaska
oder eine ebenfalls von dort
stammende bemalte Holz-
maske. Dadurch gelingt es
ihr, die ansonsten eher
weniger bekannte Entde-
ckungsgeschichte des
Nordpazifiks anschaulich
und spannend darzustellen.
Das Buch richtet sich an
ethnologisch und kulturge-
schichtlich interessierte
Leserinnen und Leser.
Martin Schneider ist Wissen-
schaftshistoriker und Dozent
in der Erwachsenenbildung.

MATHEMATIK


FINANZEN,


KRYPTO-


GRAFIE UND


WETTER


Mathematik hat eine
hohe gesellschaftliche
Relevanz. Leider bleibt
das oft unbemerkt.

Unser ganzes Leben ist
von Mathematik durch-
drungen – und keiner
merkt es. Das GPS-Handy
weiß jederzeit genau, wo
ich bin; Amazon schlägt mir
Waren zum Kauf vor, für die
ich durchaus Interesse
aufbringe; meine Bank
kommt irgendwie zu der
Einschätzung, ich sei kredit-
würdig; und die Wettervor-
hersage ist um Klassen
besser als noch vor weni-
gen Jahrzehnten. Und das
alles, ohne dass ich mit
einer Definition, einem
Beweis oder auch nur einer
klitzekleinen Differenzial-
gleichung behelligt würde.
Professionelle Mathema-
tiker haben allen Anlass,
diesen Zustand zu bekla-
gen, weil ihnen dadurch der
verdiente Ruhm entgeht.
Aber nicht nur sie: Auch
dem Normalmenschen
bleibt verborgen, welch
nützliche Dinge die Mathe-
matik für ihn tut, und zwar
ohne dass er das irgendwie
kontrollieren könnte.
Also machten sich Vertre-
ter des Fachs auf, diesem
beklagenswerten Zustand
abzuhelfen. Der 7. Europä-
ische Mathematikerkon-
gress, der im vergangenen
Jahr in Berlin stattfand, bot
ihnen dafür einen willkom-
menen Anlass. Der vorlie-
gende Band wurde jedem

Teilnehmer zusammen mit
den Unterlagen ausgehän-
digt und besteht aus einer
thematisch wie formal sehr
bunten Mischung von
15 Beiträgen. Sie decken
tatsächlich ein weites Feld
gesellschaftlich relevanter
Anwendungen von Mathe-
matik ab.
Helmut Neunzert, Grün-
der und langjähriger Chef
des Fraunhofer-Instituts für
Techno- und Wirtschafts-
mathematik (ITWM) in
Kaiserslautern, beschreibt
an mehreren Beispielen aus
seinem reichhaltigen Erfah-
rungsschatz, wie sehr sich
die Tätigkeit eines Industrie-
mathematikers von der
seiner akademischen
Kollegen unterscheidet.
Man studiert nicht eine
Methode und sucht Pro-
bleme, auf die man sie
anwenden kann, sondern
eben umgekehrt. Und ganz
wichtig: Man liefere dem
Auftraggeber nicht einfach
eine fertige Lösung des
Problems, sondern lasse
ihm wenigstens einen
Knopf, an dem er selbst
drehen kann. Sonst packt
ihn die Angst vor dem
Kontrollverlust.
Christiane Rousseau von
der Université de Montréal,

REZENSIONEN


Wolfgang König (Hg.):
MATHEMATICS AND SOCIETY
European Mathematical Society,
Zürich 2016
302 S., € 42,–

Die Anoraks der Indigenen waren aus


Seelöwendarm – und besser als die


Jacken der westlichen Schiffsbesatzung

Free download pdf