Flugrevue April 2017

(Barré) #1
Kohlefaser-Verbundwerkstoffen. Wie die
X-15, die Flüge in ähnlich große Höhen
unternahm, wurde das SS2 mit kleinen
Gasdüsen ausgestattet, um die Fluglage
ohne Ruderkontrolle stabilisieren zu
können. Beim Wiedereintritt mit mehr-
facher Schallgeschwindigkeit kann das
Flugzeug sonst ins Trudeln geraten. Um
das zu verhindern, verfügt das neue SS2
wie sein Vorgänger über einen Klappflü-
gel. Er soll dafür sorgen, dass sich das
Flugzeug trotz der dünnen Höhenluft
wie ein Federball in eine stabile Lage für
den Wiedereintritt begibt. Dazu werden
die beiden Leitwerksträger einschließ-
lich des Leitwerks um 90 Grad nach
oben gedreht.

EIN UNFALL WIE 2014 SOLL
NICHT MEHR PASSIEREN
Gebaut wurde das zweite, auf den Na-
men „VSS Unity“ getaufte Raketenflug-
zeug von der Virgin-Galactic-Tochter
The Spaceship Company (TSC) und
nicht mehr von Scaled Composites. Bei
der VSS Unity setzen die Ingenieure zu-
dem auf stärkere Automatisierung, denn
in der Vorgängerversion war die Arbeits-
belastung der Piloten sehr hoch: So
musste nach Zündung des Triebwerks
nicht nur das Flugzeug stabil gehalten,

sondern auch zwischen Mach 1.2 und
1.4 der Federmechanismus des Klappflü-
gels getestet werden. Am 31.  Oktober
2014 unterlief dem Copiloten Mike Als-
bury dabei ein folgenschwerer Fehler.
Kameraaufnahmen im Cockpit zeigen,
wie er zu früh den Klappflügel entriegel-
te, noch vor Durchbrechen der Schall-
mauer. Zu diesem Zeitpunkt wird die
Belastung der Scharniere besonders
groß. Ohne die Arretierung klappte der
Rumpf der VSS Enterprise nach unten
ab, bevor er zerbrach. Alsbury starb bei
dem Unglück, der Pilot Peter Siebold
überlebte schwer verletzt. Im neuen SS2
wurde dem Federmechanismus als Kon-
sequenz ein kleines, aber entscheidendes
Detail hinzugefügt: Die Sperre, die ein
Schwenken des Leitwerksträgers verhin-
dert, ist nun mit einem Stift gegen vor-
zeitiges Auslösen gesichert.
Virgin Galactic strebt an, das neue
Raumschiff bei der US-Flugsicherheits-
behörde FAA wie ein reguläres Flugzeug
zuzulassen. Darauf hatte man beim Vor-
gänger im Sinne einer möglichst unbüro-
kratischen Entwicklung verzichtet. Da-
mals beschränkten sich die Regeln
hauptsächlich auf die Sicherheit der Be-
völkerung, nicht die der Piloten. Auch
das hatte den Unfall 2014 begünstigt.

Die VSS Unity absolvierte seit Sep-
tember 2016 vier sogenannte Captive-
Carry-Tests, bei denen sie mit dem Trä-
gerflugzeug WhiteKnightTwo gekoppelt
blieb. Im Dezember folgten zwei freie
Gleitflüge. Für die Tests setzte das Trä-
gerflugzeug die VSS Unity in rund 15
Kilometern Höhe aus – von hier aus soll
sie später einmal Richtung Weltraum
starten. Das verkürzt nicht nur den Weg,
der geringe Luftdruck macht auch das
Raketentriebwerk effizienter und erlaubt
so größere Gewichtsmargen bei der
Konstruktion. Beim etwa zehn Minuten
dauernden Test-Gleitflug zur Landebahn
in der Mojave-Wüste erreichte die VSS
Unity eine Geschwindigkeit von Mach
0.6. Wie viele solcher Gleitflüge Virgin
Galactic durchführen will, darüber hält
sich das Unternehmen des britischen
Milliardärs Richard Branson bedeckt. Es
scheint, als wolle man nicht die Fehler
der Vergangenheit wiederholen und die
Erprobung durch einen zu straffen Zeit-
plan gefährden. Klar ist nur: Die nächste
Phase im Testprogramm sieht raketenge-
triebene Flüge vor.
Virgin Galactic vertraut auch bei der
VSS Unity auf ein Hybridtriebwerk: Ein
fester Treibstoff verbrennt mit einem
eingespritzten Oxidator. Ohne den Oxi-

Seit September 2016 ist die VSS Unity
wieder in der Luft, hier mit dem
Trägerflugzeug VSM Eve gekoppelt.

Fotos: Virgin Galactic, Reuters

78 FLUG REVUE A pr i l 2017 http://www.flugrevue.de

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